Die vorliegenden Überlegungen gehen von einem feld- und praxistheoretischen Ansatz aus, der in der Tradition Pierre Bourdieus (
1987,
1998) steht. Gegenüber der bisherigen Forschung eröffnet dieser Ansatz Erkenntnisgewinne, die vor allem in drei Bereichen zu erwarten sind. Erstens zwingt uns die Feldtheorie, die Frage nach der Europäisierung nationaler Verwaltungsstrukturen aus der Fixierung auf konstitutionelle, institutionelle oder organisatorische Aspekte zu lösen, um Handlungsprobleme und -strukturen zu favorisieren. So definiert Bourdieu ein Feld als einen gesellschaftlichen Teilbereich, der auf die Produktion und Reproduktion von zentralen gesellschaftlichen „Gütern“ ausgerichtet ist und in dem folglich um ein zentrales gesellschaftliches „enjeu“ gerungen wird (Bourdieu
1991, S. 70 f.;
1997). Parallelen zum Differenzierungstheorem sind offenkundig, da Bourdieu ebenfalls davon ausgeht, dass Felder Produkte einer historischen Ausdifferenzierung von gesellschaftlichen Teilbereichen und einer diesbezüglichen Institutionalisierung eigener Handlungsarenen, -strukturen oder -rationalitäten sind (vgl. Lepsius
1990). Und auch er spricht der Bürokratie eine politische Funktion zu (insbesondere die der Herrschaftssicherung mittels kollektiv bindender Entscheidungen; vgl. dazu auch Parsons
1960; Luhmann
1971). Allerdings legt er mehr Gewicht auf die Genese des bürokratischen Feldes, da er in diesem Feld einen eigenen, gar zentralen Ort der Austragung gesellschaftlicher Konflikte sieht, dessen institutionelle und organisatorische Gestalt erst aus diesen Kämpfen erwächst (Bourdieu
2014). Ob und wie sich ein „europäischer Verwaltungsraum“ (Siedentopf
2004; Hofmann
2008) auf Grundlage nationalstaatlicher Bürokratien herausbildet, erfordert damit eine Analytik, die die Konflikte, „Spieleinsätze“ und (Re-)Produktionsstrategien innerhalb dieses Kräftefeldes zum Ausgangspunkt der Erörterung macht.
3.1 Europäische Asylverwaltung als Feld
Der Bezug auf Bourdieus Werk mag zunächst erstaunen, denn seine Gesellschaftstheorie hat einen nationalen Bias, und dies gilt erst recht für seine Staats- und Bürokratietheorie, die sich am nationalstaatlichen Ordnungsmodell abarbeitet (Bourdieu
1998, S. 91 f.;
2001,
2004,
2014). Dies ist allerdings primär seiner zeitdiagnostischen Fragestellung geschuldet, möchte er doch die Genese moderner Gesellschaften in ihrer dominanten Ordnungsstruktur erklären. Hier rückt er den Staat (und ihm zufolge auch das bürokratische Feld) konzeptionell in das Zentrum seiner Aufmerksamkeit, denn die Entstehung moderner Gesellschaften sieht er als einen Prozess der Ordnungsbildung, die sich in Form des Staates institutionell herausbildet, fixiert und stabilisiert. Demnach „ist der Staat konstitutiv für die soziale Ordnung“ (Bourdieu
2014, S. 325), weil er das gesellschaftliche Leben strukturiert, etwa im Bildungsbereich, indem er „dauerhafte, endgültige Teilungen einrichtet, die oft unüberwindlich sind, weil sie in die individuellen Körper eingeschrieben sind und weil sie den Körpern von der sozialen Welt unaufhörlich in Erinnerung gebracht werden“ (ebd., S. 299). Der Staat ist damit aber keineswegs die Spitze der Gesellschaft, die in andere Felder oder Teilbereiche hineinregiert, sondern vielmehr die (wandelbare) Form, die sich moderne Gesellschaften gegeben haben (Bourdieu
1998, S. 106 ff.). So beschreibt er die Geschichte moderner Gesellschaften als einen Prozess der Konzentration gesellschaftlich bedeutsamer Güter (ökonomisches, kulturelles, informationelles Kapital, soziales Kapital, vor allem aber symbolisches Kapital) in den Händen eines zentralisierten Herrschaftsapparates, dem Staat, der zunächst eine dynastische, sodann eine bürokratische Reproduktionslogik entfaltete und fixierte.
Das bürokratische Feld nimmt in der Bourdieu’schen Gesellschaftstheorie folglich eine besondere Position ein, insofern es für die Gesellschaft als Ganzes konstitutive Kämpfe austrägt und besiegelt. „Das bürokratische Feld als dasjenige, in dem Normen gesetzt werden, die die übrigen Felder betreffen, ist selbst ein Kampffeld, auf dem man die Spuren aller vergangenen Kämpfe wiederfindet“ (Bourdieu
2014, S. 638). Es ist der moderne, bürokratisch verfasste Staat, der das physische und symbolische Gewaltmonopol besitzt, wodurch er den Status quo mittels einer Vielzahl von Riten der Konsekration, Ratifizierung und Registrierung reproduziert und legitimiert (ebd., S. 259). Darin ist er Träger der „illusio“ des Allgemeinen, des Öffentlichen, des Gemeinwohls, die sich im bürokratischen Feld in der „doxa“ des Bindenden, Rechtmäßigen, Sachlichen und Rationalen konkretisiert.
Die ordnungsbildende und -stabilisierende Rolle des bürokratischen Feldes gilt für den Asylbereich uneingeschränkt, denn es definiert und reproduziert Außengrenzen, sobald es Staatsbürgerschaft, Aufenthaltstitel und eine Vielzahl teilbereichsspezifischer Rechte gewährt oder verwehrt und damit über die Exklusion bzw. Inklusion der Asylsuchenden und das Ausmaß ihrer gesellschaftlichen Teilhabe (Zugang zum Bildungssystem, Arbeitsmarkt, politischen System etc.) entscheidet. Auch die Feststellung trifft zu, dass das bürokratische Feld im Asylbereich hoch konflikthaft ist, denn nicht nur die konkrete Entscheidungspraxis lokaler Behörden wird in der Öffentlichkeit kritisch begleitet, auch das Ausmaß der gesellschaftlichen Inklusion und Teilhabe Asylsuchender wird politisch und rechtlich wiederkehrend diskutiert und verändert. Entscheidend für Bourdieus Annahme aber ist der Umstand, dass die legal-bürokratische Reproduktionslogik des Asylfeldes selbst nicht grundlegend infrage gestellt wird. Und dieser Umstand gilt vor allem für die asylpolitischen und -rechtlichen Veränderungen, die mit der Einführung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) einhergingen. Die rechtliche Vergemeinschaftung sollte die nationalen Verwaltungsstrukturen nicht aussetzen, sondern in einen „vernetzten Verwaltungsraum“ (Goetz
2006; Hofmann
2008) integrieren und optimieren. Mitgliedsstaaten mögen politisch über Kreuz liegen, sobald es um die Art und das Ausmaß der Aufnahme von Zuwandernden geht. Aber die Notwendigkeit einer administrativen „Prozessierung“ ist unbestritten, und das ungebrochene Vertrauen in die bürokratische Kleinarbeitung des Problems zeigt, wie fest das GEAS auf einer gemeinsam geteilten „illusio“ und „doxa“ fußt. Einzig eine Frage scheint offen zu sein: Soll das bürokratische Feld eine ausschließlich nationalstaatlich segmentierte Ordnung beibehalten oder transnationale Strukturen mit stärker zentralisierten Zuständigkeiten und Verwaltungen entwickeln? Welche Sichtweise sich durchsetzt, hängt der Bourdieu’schen Analytik zufolge davon ab, welche Richtung die Konflikte innerhalb der politischen Arena, vor allem aber innerhalb des bürokratischen Feldes bis auf die Ebene des praktischen Verwaltungshandelns nehmen. Denn das GEAS mobilisiert durch sein Harmonisierungsbestreben nicht nur unterschiedliche politische und administrative Eliten, sondern auch vom Nationalstaat materiell und symbolisch abhängige Beschäftigte, die unterschiedliche Problemdefinitionen, Wissensbestände, Handlungsroutinen und Legitimationsideen zu wahren oder zu verändern suchen. Wichtig ist also auch, was sich in der Praxis durchsetzt.
Die bisherigen Erörterungen legen nahe, dass Bourdieus feldtheoretische Analytik von seiner zeitdiagnostischen Fixierung auf den Nationalstaat befreit und für die Europasoziologie genutzt werden kann (Mérand
2012; Kauppi
2012). Folgen wir den Kernannahmen seiner Feldtheorie, so ist davon auszugehen, dass sich die segmentäre Ordnung und nationalstaatlich separierte Reproduktionslogik des bürokratischen Feldes verändern wird, sobald eine Reihe von Entwicklungen einsetzt. Zu nennen sind die europäische Vergemeinschaftung des feldspezifischen „enjeu“, die damit einhergehende Erweiterung des Kreises der beteiligten Akteure mit Blick auf die Produktion und Reproduktion der betreffenden Güter und die Institutionalisierung neuer feldspezifischer Regeln, Problem- und Weltdeutungen (doxa), die den Kämpfen und Kräfterelationen eine neue legitimierte Grundstruktur und Dynamik verleihen.
Diese strukturbildenden Entwicklungen sind im Bereich des Asylverwaltungshandelns zweifelsfrei auszumachen. So hatten wir bereits festgestellt, dass die EU mit dem Abkommen von Tampere im Jahre 1999 das GEAS auf den Weg brachte, um den im Amsterdamer Vertrag verankerten „Schengener Raum“ migrationspolitisch einzuhegen (Lavenex
2001). Obschon das Politikfeld weiterhin als Flickenteppich angesehen werden muss, hat es doch in zwei Bereichen die Problembehandlung merklich vergemeinschaftet. Einerseits sind Maßnahmen der (polizeilichen) Grenzsicherung nach Innen und Außen (z. B. Visabestimmungen, Drittstaatenregelungen, Rückübernahmeabkommen, bilaterale Zusammenarbeit mit Beitritts- und Anrainerstaaten, Aufbau der Grenzbehörde Frontex) zu nennen (Fischer-Lescano und Tohidipur
2007; Mau et al.
2008; Laube
2013; Klepp
2011; Eigmüller
2012). Andererseits wird daran gearbeitet, die Praxis der Asylbehörden zu harmonisieren. Neben einer Vielzahl von Verordnungen und Richtlinien (Kriterien, Verfahren und Standards der Schutzgewährung) hat die EU auch eine Reihe von Organen und Instrumenten der Verwaltungskooperation auf den Weg gebracht. Zu nennen sind „umbrella“-Organisationen wie das „European Union Network for Asylum Practitioners“ (EURASIL), die „High-Level Working Group on Asylum and Migration“ (HLWG) oder das 2010 gegründete „European Asylum Support Office“ (EASO), das Trainings- und Schulungsmaßnahmen anbietet, Berichte über die Lage in wichtigen Herkunftsländern herausgibt und ein regelmäßiges Monitoring der Flüchtlingspolitik der Mitgliedsländer durchführt. Hinzu kommen Amtshilfen und Fördermaßnahmen des Personen- und Erfahrungsaustausches wie etwa „Technical Assistance and Information Exchange“ (TAIEX), das Twinning-Projekt oder der bilaterale Austausch von Liaison-Beamten.
Vor allem aber stellte die Dublin-Verordnung in ihren aufeinander folgenden Fassungen die Verwaltungsbehörden ganz Europas in einen Arbeitszusammenhang, denn für die Bearbeitung von Asylanträgen ist in der Regel das Land zuständig, in dem der Asylantragsteller zuerst aktenkundig wurde (Dolk
2011; Bast
2014). Mit dem GEAS und den sukzessiv weiterentwickelten Regulierungen wurden Mindestnormen und Standards für die Garantie der Gleichwertigkeit der Verfahren, gemeinsame Datenbanken zum automatisierten Abgleich von Fingerabdruckdaten, Verfahren zur Abwicklung von Rückführungen, Schulungsmaterialien u. v. m. etabliert. Auf dieser Basis errichtet Dublin „eine lückenlose Asylzuständigkeitsordnung“ (Bast
2014), die das „enjeu“ des Asylverwaltungsfeldes „europäisiert“. Denn einerseits soll Dublin garantieren, dass Asylanträge einem zuständigen Staat zugewiesen werden, um das Problem der „refugees in orbit“ zu vermeiden (Schuster
2002); zugleich soll die Mehrfachbelastung der Asylbehörden im Schengener Raum durch die Alleinzuständigkeit einzelner Länder ersetzt werden. Damit machen die Dublin-Verordnungen andererseits die Prüfung der Zuständigkeit, entsprechende Abstimmungen und mögliche Rückführungen zu einer Daueraufgabe im Behördenalltag, gleichermaßen wie sie gegenseitige Verantwortlichkeiten und Abhängigkeiten schaffen. Schließlich spielt die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) eine große Rolle für nationale Verwaltungen (Ippolito
2013). Europäische Direktiven und ihre gerichtlichen Überprüfungen werden über mehrere Instanzen an die Entscheider auf dem „street level“ weitergegeben und fließen in ihr tägliches Arbeiten etwa in Form von Textbausteinen, Gerüstbescheiden und Leitsätzen ein (Schneider
2014; Schittenhelm et al.
2015).
Damit wird die Verwaltung von Flucht und Asyl zu einer vergemeinschafteten Aufgabe, die eine administrative Arbeitsteilung über die Landesgrenzen hinweg etabliert. Diese arbeitsteilige Verwaltung von Asyl ist keineswegs abgestimmt und konsensuell akzeptiert, sondern impliziert gegenseitige Zumutungen, Ungleichheiten, Asymmetrien und Konflikte. Die Flüchtlingskrise der Jahre 2015/16 hat diese Widersprüche und Spannungen ins öffentliche Bewusstsein gehoben, allerdings gehören sie schon seit Anbeginn zur Realität des Dublin-Systems. Mit Dublin und der Idee „sicherer Transitstaaten“ konnten Asylbewerber „zurückgeführt“ werden. Dies entlastete die Länder West- und Nordeuropas, während es die süd- und osteuropäischen Staaten belastete, die durch ihre Lage an den Außengrenzen der EU immer schon eine Hauptlast zu tragen hatten. Aus Überforderung oder Boykotthaltung gegenüber dem Mangel an „europäischer Solidarität“ unterblieb in manchen dieser Länder bereits früh die polizeiliche und behördliche Erfassung der Asylbewerber, womit sie faktisch wieder zu „Transitländern“ wurden (Andrijasevic et al.
2005; Tsianos und Karakayalı
2010; Sachverständigenrat deutscher Stiftungen
2015, S. 70 f.). Darüber hinaus wurde die Rückführung von Flüchtlingen nach Griechenland in allen Ländern der EU bereits 2011 ausgesetzt, da der EuGH und der EGMR in Urteilen aus den Jahren 2011 und 2012 schwerwiegende Defizite bei den griechischen Verfahrensabläufen und Unterbringungspraktiken feststellten und die Mitgliedsländer generell dazu verpflichteten, die Asylpraxis anderer EU-Staaten auf „systemische Mängel“ zu überprüfen (Lieven
2012). Mit dem Urteil vom November 2014 entschied der EGMR zudem, dass auch im Falle von Ländern wie Italien, in denen nicht von systematischen Mängeln gesprochen werden könne, eine Rückführung ausbleiben müsse, sofern das Aufnahmeland keine „individuellen Garantien“ einer angemessenen Schutzgewährung zusichern könne (Fall „Tarakhel vs. Switzerland“).
Infolge all dieser Entwicklungen wurden wiederum die Mitgliedsstaaten im Kern Europas (insbesondere Ungarn, Österreich, Schweden und Deutschland) im Jahr 2015 zu den Ländern mit den proportional höchsten Asylbewerberzahlen. Das GEAS etablierte somit nicht nur ein Feld dauerhafter gegenseitiger Beobachtungen, sondern auch relationale „Spiele“ der Problemvermeidung, -verschiebung oder -lösung, die durch die anhaltend hohen Zuwanderungszahlen der Jahre 2015/16 nur an Intensität und Umfang zunahmen. Obschon sich die EU-Institutionen vorgenommen haben, diese Problematik durch eine Reform des Dublin-Systems zu lösen (Europäische Kommission
2016), ist davon auszugehen, dass die Konflikt- und Krisenanfälligkeit des GEAS nicht überwunden werden wird.
Diese rechtlich verordnete, spannungsreiche Arbeitsteilung ist Teil der Realität des Verwaltungshandelns vor Ort. Angesichts des Unvermögens der Regierungen und EU-Institutionen, ein faires „burden sharing“ zu vereinbaren, steigt der durch das GEAS generierte Handlungsdruck am greifbarsten auf der lokalen Ebene. Zu nennen sind Bearbeitungsrückstaus (Thränhardt
2014) in den Asylbehörden der Kernländer Europas wie auch wiederkehrende Berichte und Proteste zu strittigen Asylentscheiden, Ausweisungen und skandalösen Unterbringungspraktiken. Den Mitarbeitern ist die „europäische Dimension“ dieser Situation bewusst (Schittenhelm
2015). Damit ist aber keineswegs gemeint, dass sie ein einheitliches und koordiniertes Handeln innerhalb Europas befürworten und aktiv betreiben. In vielen Bereichen bleibt die Verwaltungspraxis von eingespielten Routinen, widersprüchlichen Anforderungen und expliziten Widerständen geprägt. Die „europäische Dimension“ ist vielmehr in dem Bewusstsein verankert, Teil einer bürokratischen Schicksalsgemeinschaft zu sein. Denn Asylverwaltung ist bis in die lokale Entscheidungspraxis hinein ein hochgradig interdependenter Handlungsbereich geworden: Innerhalb des Schengener Raums und des GEAS wird das Verwaltungshandeln in einem Mitgliedsland zur praktischen Voraussetzung des Gelingens der behördlichen Arbeit in anderen Ländern.
Die bisherigen Ausführungen verdeutlichen, dass die feldtheoretische Perspektive Entwicklungen im Bereich des Asylverwaltungshandelns angemessen zu beschreiben und zu erklären erlaubt. Das konkrete Verwaltungshandeln ist zwar immer noch nationalstaatlich segmentiert, aber wechselseitig verschränkt und arbeitsteilig strukturiert. Dieser Argumentationslinie folgend bliebe das europäische Verwaltungsfeld aber rein äußerlich, nämlich kraft Recht, konstituiert. Dies wäre auch für die Bourdieu’sche Feldtheorie zu wenig, denn eine staatlich konturierte Ordnung fußt nicht nur auf einem institutionell verankerten physischen und symbolischen Gewaltmonopol, das automatisch Gefolgschaft garantiert. Davon kann keineswegs ausgegangen werden. Diese Skepsis ist nicht nur angesichts der Forschungsergebnisse zu den Implementations- und Vollzugsdefiziten innerhalb der EU angebracht (Falkner et al.
2007; Duina
1997; Panke
2007; Tsianos und Karakayalı
2010; Bast
2014). Auch mikrosoziologische und ethnografische Studien zum Verwaltungshandeln bestätigen die Einsicht, dass die Behördenpraxis auf dem „street level“ eigenen Interaktions- und Entscheidungszwängen unterliegt, die von den formalen Organisationszielen und -routinen abweichen können (Lipsky
2010; Scheffer
2001; Eule
2014). So kommt eine Studie zum Verwaltungshandeln schwedischer und deutscher Asylbehörden zu dem Ergebnis, dass lokale Arbeitsroutinen und Wissensbestände recht träge auf Veränderungen reagieren. Bestehende Verwaltungsstrukturen und Arbeitsabläufe werden minimalistisch oder additiv an die EU-Richtlinien angepasst, da die Einrichtung spezialisierter Abteilungen und Funktionen (beispielsweise Europareferate, Dublin-Abteilungen bzw. spezialisierte Sachbearbeiter) die etablierten Verwaltungspraktiken in anderen Verfahrensbereichen gegenüber den betreffenden Veränderungen immunisiert. Europäische Schulungsangebote und Wissensbestände werden selektiv übernommen, so sie anschlussfähig an die Prioritäten und Handlungsroutinen in den Ländern sind. Und auf der Ebene des Personals verteidigen viele die landesspezifischen Rechtstraditionen und Arbeitsweisen gegenüber den europäischen Anforderungen und Vorgaben (Schneider und Wottrich
2016; Schittenhelm
2015).
Eine feldtheoretische Analyse muss folglich auch auf der Ebene des konkreten Verwaltungshandelns aufzeigen können, wie sich die administrative Arbeitsteilung von Flucht und Asyl sozialräumlich neu konfiguriert und stabilisiert. In dieser Hinsicht ist eine praxistheoretische Fortschreibung notwendig: Es gilt zu klären, wie Verwaltungsabläufe über Landesgrenzen hinweg „horizontal“ reorganisiert und damit transnationalisiert werden. Die an Bourdieu angelehnte Praxistheorie (Bourdieu
1987, S. 147 ff.;
1998) bietet hierfür Erkenntnisgewinne, denn mit ihr gehen wir davon aus, dass das Verwaltungshandeln auf dem „street level“ weder von rechtlich-politischen Kontextbedingungen, noch von den individuellen Präferenzen und Intentionen, Wissensformen und Handlungen der einzelnen Behördenmitglieder determiniert wird. Verwaltungshandeln konstituiert sich vielmehr mittels kollektiver Handlungsroutinen mit eingeschriebenen intersubjektiv geteilten Rollenerwartungen, Wissensbeständen und Deutungen (Reckwitz
2003; Hillebrandt
2014).
Feld- und praxistheoretische Postulate sind insofern verknüpft, da feldinterne Konflikte gerade auf der Ebene des praktischen Verwaltungsvollzugs virulent werden dürften. Anlass zu dieser Vermutung gibt die mikrosoziologisch inspirierte Organisationsforschung, die beim Vollzug eine Reihe von Ambivalenzen und Konflikten identifiziert hat, die in Bürokratien angelegt sind. So wird das bürokratische Handeln von formalen Organisationsstrukturen und Arbeitsprozessen ebenso geformt wie von informellen Routinen und Interaktionen (Lipsky
2010; Triandafyllidou
2003); es muss den Produktivitätsanforderungen einer standardisierten Massenabfertigung genauso gerecht werden wie einer professionellen Kriterien entsprechenden Einzelfallprüfung (Sorensen und Sorensen
1974; Dunkerley et al.
2005); und es muss innerhalb hierarchischer Kontrollstrukturen praktische Handlungsautonomie sichern (Evans
2011; Heyman
1995). Nicht selten manifestieren sich diese Spannungen auch in strukturellen Konflikten zwischen Statusgruppen und Hierarchieebenen, z. B. zwischen Behördenleitung, „case worker“ und Verwaltungspersonal.
Die Genese eines europäisierten Verwaltungsfeldes dürfte sich in diesen Ambivalenzen und Spannungen unmittelbar bemerkbar machen. Genauer gesagt ist zu vermuten, dass die Bemühungen einer rechtlichen und administrativen Harmonisierung des Vollzugs primär auf Formalisierung und Standardisierung setzen, Reibungen und Widerstände auf der Ebene des „street levels“ auslösen und damit nur sekundär oder vermittelt die informellen Routinen des praktischen Verwaltungshandelns prägen können. Dies lässt sich an den praktischen Anforderungen der Verwaltungskooperation innerhalb des GEAS gut nachzeichnen.
Folgen wir der Beobachtung, dass Verwaltungshandeln durch Rechtmäßigkeit, Regel- und Verfahrensmäßigkeit, Sachlichkeit, Fachlichkeit, Aktenmäßigkeit und Arbeitsteiligkeit gekennzeichnet ist (Weber
1980), so wird offenkundig, durch welches Einfallstor sich die „horizontale Europäisierung“ des Verwaltungshandelns vollzieht: Es besteht in der horizontalen Öffnung des Verwaltungshandelns durch Verfahren. Diese Öffnung ist nicht nur auf der Ebene der Interaktionsordnungen zu beobachten, sondern gerade auch in Bezug auf ihre Materialität, die in den letzten Jahren vermehrt in das Zentrum der sozialtheoretischen Debatte gerückt wurde (Reckwitz
2003; Latour
2010).
Diese sozialräumliche Neuordnung des Verwaltungshandelns ist nichts Außergewöhnliches, denn asylrechtliche Verfahrensabläufe waren immer schon arbeitsteilig organisiert und bedurften der Zusammenarbeit innerhalb von wie auch zwischen einzelnen Behörden (Asyl- und Ausländerbehörden, Gerichte, Polizei etc.). Mit den Dublin-Verordnungen wurde der Kreis der zuständigen Behörden damit bloß erweitert. Allerdings ist diese Erweiterung folgenreich, denn mit ihr wurden eine Zuständigkeitsprüfung und ein Kooperationsgebot über die Landesgrenzen hinweg verbindlich fixiert. Diese europäische Rekonfiguration von Verwaltungsabläufen ruft zunächst Kontaktnetzwerke und Interaktionsmuster hervor, die vor allem auf gehobenen Dienststufen angesiedelt sind. Auf dieser Ebene geht es um die Entwicklung und Überprüfung der nationalen und zwischenstaatlichen Verfahren mit ihren Wissensbeständen, Regelungen und Deutungen. Zu nennen ist z. B. EURASIL, das sich regelmäßig zum Informations- und Erfahrungsaustausch trifft und die Situation in den Herkunfts- und Transitländern, paradigmatische Fälle und nationale Rechtsprechungen mit Blick auf Implikationen für das Verwaltungshandeln bespricht. Hinzu kommen nationale Stabsstellen und zwischenbehördliche Arbeitsgruppen in den jeweiligen Ländern (Schmidt-Aßmann
1999; Sydow
2004). Gefördert werden auch Amtshilfen und der Austausch von Liaison-Beamten, die die Arbeit in sensiblen Bereichen (insbesondere Dublin-Verfahren, Umgang mit europäischer Rechtsetzung, Informationen zu Herkunftsländern) verbessern sollen. Auf den gehobenen Hierarchieebenen der nationalen Asylverwaltungen wird Europa damit zu einem greifbaren Kontakt- und Erfahrungsraum, durch den die betreffenden Personenkreise gemeinsame Deutungsmuster und Wissensbestände, Vertrauensbeziehungen und Gemeinschaftsbindungen entwickeln (Tomei
2001). In dieser Hinsicht scheint sich zu bestätigen, dass die Europäisierung auch innerhalb der Asylverwaltungen von Eliten vorangetrieben wird.
Auf dem „street level“ dünnen sich diese transnationalen Kontakt- und Kooperationsformen aus. Es ist zunächst und vor allem das Dublin-Verfahren, das die Behördenmitarbeiter zu entsprechenden Arbeitskontakten veranlasst. Die diesbezüglichen Anforderungen lassen sich klar benennen. Ausgangspunkt jeder Antragsprüfung ist zunächst die Einsicht in die Datenbank EURODAC, die alle Fingerabdrücke der aktenkundig gewordenen Asylantragsteller innerhalb Europas sammelt und damit dokumentiert, in welchem Land die Person höchstwahrscheinlich den europäischen Regelungsbereich betreten oder einen Erstantrag gestellt hat. Mitarbeiter müssen die Zuständigkeit durch Akteneinsicht und Gespräche mit dem Asylantragsteller prüfen, wobei eine konkrete Entscheidung über die Rückführung von der Klärung diverser Fragen abhängt – hat ein Land z. B. ein Visum ausgestellt oder einen Aufenthaltstitel erteilt, besteht eine Familieneinheit mit Minderjährigen, sind Fristen eingehalten, Zuständigkeiten erloschen, herrschen „systematische Mängel“ im Zielland und können dort „individuelle Garantien“ gegeben werden? Im Folgenden stellen die Behördenmitarbeiter ggf. ein Übernahme- bzw. Wiederaufnahmeersuchen an die betreffenden Mitgliedsländer, wobei sie dies über DubliNet, einem elektronischen Datenaustauschsystem erledigen, das diese Abstimmung mittels elektronisch unterzeichneter Formulare und automatisierter Übersetzung weitgehend standardisiert hat. Sofern Einigung erzielt und der Antragsteller keinen rechtskräftigen Widerspruch eingelegt hat, müssen die Behördenmitarbeiter beider Länder die Modalitäten der Überstellung binnen sechs Monaten vereinbaren, denn andernfalls wechselt die Zuständigkeit zum aktuellen Aufenthaltsort des Antragstellers.
Die „horizontale Europäisierung“ des Verwaltungshandelns vollzieht sich damit über die stetige Formalisierung und Standardisierung der Behördenarbeit. Hinzu kommt, dass es während dieser Verfahrensschritte kaum zu direkten, persönlichen Arbeitskontakten zu den Kollegen im Ausland kommt, erfolgen diese doch über EURODAC und DubliNet und damit mittels automatisierter, elektronischer Formulare. Damit wird ersichtlich, dass die transnationale Öffnung behördlicher Praktiken vor allem über die Materialität der Aktenführung erfolgt. Auch dieser Aspekt, die Objektivierung rechtlicher, politischer und administrativer Wissensbestände und Praktiken in „Dingen“ (Latour
2010), ist für Bürokratien insgesamt kennzeichnend. Aber gerade in diesem Bereich setzt eine objektgesteuerte Europäisierung des lokalen Verwaltungshandelns an, denn die Behördenmitarbeiter sehen sich in ihrer praktischen Arbeit mit Dingen konfrontiert, die zusehends eine europäische Handschrift tragen. Hierzu gehören Rechtsakte der Europäischen Union, die mit Verweis auf die Asylverfahrensrichtlinie von 2003 und die Rechtsprechung des EuGH und EGMR sehr konkrete Inhalte annehmen können. Es geht um Schulungsmaterialien wie dem EASO Training Curriculum, deren Module Leitbilder und Grundprinzipien, Arbeitskompetenzen und -techniken einer gemeinsamen Verfahrenspraxis vermitteln (Schneider und Wottrich
2016). Und es geht um elektronische Datenbanken wie EURODAC oder die Datenbank mit Informationen zu Herkunftsländern, die vom EASO und den Behörden verschiedener Mitgliedsländer bestückt werden und auf diese Weise die Wissensbestände vorhalten, die bei der Durchführung der Verfahren und der Erstellung der Bescheide zur Anwendung kommen (Engelmann
2014).
Die beschriebene Öffnung nationaler Verwaltungsverfahren betrifft bislang vor allem jene Bereiche des Asylverfahrens, in denen es um die Feststellung der Zuständigkeit im Rahmen der Dublin-Verordnungen geht. Hier ist eine transnationale Verwaltungskooperation mittels standardisierter, europaweit einheitlicher Formulare, elektronischer Datenbanken und Kommunikationsplattformen zur Regel geworden. Transnationale Kooperation wird im Sinne der Vereinfachung und Produktivität automatisiert, womit Ermessens- und Entscheidungsspielräume für alle an diesen Verfahren beteiligten Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen minimiert werden. Allerdings hängt der Kreis der von dieser Transnationalisierung betroffenen Mitarbeiter von organisatorischen Festlegungen ab. So war das Dublin-Verfahren in den deutschen Behörden lange Zeit auf spezialisierte Abteilungen (die Dublin-Referate in Dortmund und Nürnberg) delegiert worden, während es seit Ende 2013 nun auch zum Aufgabenbereich bestimmter Sachbearbeiter in den Außenstellen gehört. In Schweden dagegen werden die Dublin-Verfahren weiterhin zentral in Stockholm durchgeführt.
Auch wenn der Kreis der unmittelbar betroffenen Mitarbeiter überschaubar und über die Zeit variabel ist, sind zentrale Verfahrenspraktiken transnational geöffnet worden. Damit haben sie auch Auswirkungen auf andere Verfahrensbestandteile. So ist die Anhörungs- und Entscheidungspraxis zwar weiterhin noch sehr stark von eingespielten Routinen und Traditionen geprägt (Schneider und Wottrich
2016). Die Praxis der Entscheider verändert sich aber auch in diesen Bereichen, denn durch die Erfordernisse des Dublin-Verfahrens und die Ansprüche der Dublin-Referate rücken Fragen stärker in den Mittelpunkt, die nichts mit den entscheidungsrelevanten Fluchtgründen im engeren Sinne zu tun haben, aber für andere Behördeneinheiten (Dublin-Referate, Sicherheitsreferate, Statistikabteilungen), für externe Behörden (Bundeskriminalamt, Bundespolizei, Ausländerbehörden etc.) oder für die Abstimmung mit den Verwaltungen anderer Länder in Bezug auf Zuständigkeits- und Rückführungsfragen von Belang sind. Schließlich erfordert die Aktenführung eine beständige Beobachtung und Bewertung der Verwaltungspraxis anderer Mitgliedsstaaten, zu denen die Mitarbeiter durch die Rechtsprechung des EuGH und EGMR angehalten werden. Hinzu kommt, dass diese Art der Fallbearbeitung ein Mindestmaß an Vertrauen in die Verlässlichkeit, Rechtmäßigkeit, Sachlichkeit und Legitimität des Gesamtprozesses und der elektronischen Systeme voraussetzt.
Diesen rechtlichen Regelungen und Verfahrensvorgaben, Datenbanken und Kommunikationsplattformen ist der Wunsch nach einer – zumindest partiellen – Harmonisierung des lokalen Verwaltungshandelns abzulesen. Der gemeinsame Verwaltungsraum erfordert nämlich nicht nur eine grenzüberschreitende Verwaltungskooperation, sondern auch vergleichbare und anschlussfähige Verwaltungsprozesse. Hier nun setzt die oben beschriebene Formalisierung und Standardisierung der Verwaltungsabläufe an, deren Ziel letztlich die Einschränkung von Ermessens- und Entscheidungsspielräumen auf dem „street level“ ist. Diese Entwicklung ist als genereller Trend staatlicher Dienstleistungserbringung diagnostiziert worden (Howe
1992). Sie ist Folge der stetigen Verrechtlichung und Verregelung der Verwaltungspraxis (Rosenberger und Konig
2012). Auch der Siegeszug des Managerialismus mit seiner Outputorientierung (Budgetierung, Performanzkriterien, Qualitätssysteme etc.) und die Umstellung auf elektronische Workflow- und Verwaltungssysteme hat die Verwaltungsarbeit auf Effizienz orientiert, Arbeitsprozesse durchorganisiert und neue Steuerungs- und Kontrollmöglichkeiten eröffnet (Bovens und Zouridis
2002; Dunkerley et al.
2005). Am deutschen Fall hat Stephanie Schneider (
2014) beispielsweise herausgearbeitet, wie die Entscheidertätigkeit, die bis in die 2000er-Jahre hinein noch dem Leitbild einer quasi-richterlichen Einzelprüfung folgte, sukzessive im Sinne eines standardisierten Massenbetriebs rationalisiert und damit abgewertet wurde.
Diese Europäisierung qua Formalisierung und Automatisierung stößt jedoch auf Grenzen. Es ist zwar richtig, dass die Verfahrenselemente, die eine grenzüberschreitende Kooperation benötigen, mittels gemeinsamer Vorgaben und Arbeitsmittel deutlich europäisiert sind; und auch die (justiziablen) Entscheide sind von Bezügen auf das europäische Recht durchsetzt. Große Unterschiede zeigen sich aber bei der Anhörungspraxis, der Bewertung des Falles und dem Prozess der Bescheiderstellung. Unberührt bleiben weitestgehend die dem Verfahren vor- und nachgeschalteten Aufgaben der Registrierung, Unterbringung und der Abschiebung. Hinzu kommt, dass die Verwaltungspraxis in vielen Aspekten durch informelle Wissensbestände und Routinen gekennzeichnet ist. Entsprechende Befunde zeigen sich beim Verhalten der „case worker“ während der Anhörungen, der Beweiswürdigung und Bescheiderstellung (Schittenhelm
2015; Dahlvik
2016). Doch auch in den stärker formalisierten Verfahrensbereichen lassen sich nationale und behördeninterne Varianzen beobachten, etwa bei der Nutzung der europäischen Datenbanken mit Informationen zu den Herkunftsländern (COI-Datenbanken; Gibb und Good
2013). Informelle Entscheidungsspielräume und -praktiken bestehen somit fort, wofür verschiedene Ursachen identifiziert werden. Gerade die Überfülle an rechtlichen und administrativen Vorgaben kann Entscheidungsspielräume vergrößern (Evans und Harris
2004). „Case worker“ müssen, um den Arbeitsanforderungen gerecht zu werden (Schittenhelm
2015), ein implizites Sach- und Verfahrenswissen entwickeln, das nicht selten durch die behördeninterne Sozialisation der Neulinge aufgebaut wird. Schließlich bleiben berufliche Standards „guter Arbeit“ ein wichtiger Referenzpunkt für die Arbeit der „street level bureaucrats“ (Schneider
2014).
Insgesamt zeichnen die Befunde ein differenziertes Bild. Einerseits stößt der Versuch einer Harmonisierung und Konvergenz der Behördenpraxis qua Formalisierung, Standardisierung und Digitalisierung auf Grenzen, da sich informelle Wissensbestände, Handlungsroutinen und Loyalitäten als träge oder widerständig erweisen. Andererseits aber werden praktische Arbeitsabläufe im Einflussbereich des Dublin-Verfahrens wie auch darüber hinaus unabhängig von der Zustimmung des „street-level“-Personals verändert. Schließlich ist nicht ausgeschlossen, dass die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen das GEAS und seine verschiedenen Instrumente (Amtshilfen, Schulungsangebote, Arbeitskontakte etc.) durchaus als persönlich-beruflichen Gewinn betrachten und nutzen können, um ihre Performanz und Handlungsautonomie zu verbessern.
Den feld- und praxistheoretischen Überlegungen zufolge liefern diese Beobachtungen Belege für eine spürbare „Europäisierung“. Von Bedeutung ist die grenzüberschreitende Verschränkung bestehender Verwaltungsstrukturen und -praktiken, die durch die gegenseitige Anerkennung von Verantwortlichkeiten und Entscheidungen, das wechselseitige Beobachtungsgebot und die Bereitstellung gemeinsamer Wissensbestände abgesichert wird. Die EU erfindet das bürokratische Feld nicht neu, sondern nutzt das vorhandene Handwerkszeug (Formulare, Verfahrensabläufe, Datenbanken, Kommunikationsplattformen), um das lokale Verwaltungshandeln wechselseitig zu verschränken. Eine uniforme und EU-konforme Verwaltungstätigkeit in allen Amtsstuben Europas ist nicht zu erwarten, aber doch eine relationale (Neu-)Positionierung derselben. Mehr Forschungsanstrengungen sind nötig, um zu klären, wie sich die arbeitsteilige Verwaltung von Flucht und Asyl auf Grundlage der unterschiedlichen, aber aufeinander bezogenen Verwaltungspraktiken weiter entwickeln wird.