Nach jener Flut von How-to-do-it-Büchern in den letzten Jahren zeichnet sich heute unverkennbar eine Wende ab: die Zeit der klassischen, poppsychologischen Traktate, selten von Psychologenhand, über die Techniken des Managements (der Menschenführung etc.) scheint endgültig vorbei. Nur neue Mittel für die alten Ziele reicht nicht mehr, die kurzen Krisen, anschließend „back to business as usual“ — das Muster wirkt und gilt heute immer weniger. Es gibt kein „business as usual“ mehr, Turbulenz und Transformation sind zum Dauerzustand geworden, und werden es voraussichtlich bleiben.
Wer heute im Feuilleton blättert, weiß bald nicht mehr, wo ihm der Kopf steht. Die widersprüchlichsten Zeitgeist-Diagnosen jagen einander. Beklagen die einen das „Zeitalter des Narzißmus“, so feiern die anderen das genaue Gegenteil: die „Rekonstruktion“ des Individuums. Feiert für die einen der zeitlose Konflikt zwischen Kopf und Bauch fröhliche Urständ, so wittern die nächsten schon wieder die letzte, diesmal uneingeschränkte Machtergreifung der Vernunft — während wieder andere just dem Untergang der Vernunft in unserer Zeit beizuwohnen meinen. „Du hast keine Chance, nutze, sie“, spotten die Nofuturisten — die machtlosen Moralapostel andererseits verzweifeln gerade ob der Flut der Optionen, die alle festen Werte hinwegschwemme: „Anything goes“ — die Formel des brillanten Akademiker-„enfant terrible“, Paul Feyerabend, geriet zum Schlachtruf des postmodernen Pluralismus. Wer die Zeitgeister verfolgt, hat das Gefühl, die Menschen leben, jeder einzeln, in ganz verschiedenen Wirklichkeiten.
Die Spatzen pfeifen’s von den Dächern der Verwaltungstrakte in Industrie und Handel und Kultur. (Nur in der Politik hat man es wohl verschlafen.) Der Wandel heute sei nicht nur ein technischer, er sei, umfassend gar, ein Wertewandel. Da dieser Begriff ja nichts Inhaltliches aussagt, läßt er sich trefflich für jeden Inhalt verwenden. Widerlegen kann man ihn deshalb nicht. Oder kaum — schlimmstenfalls bedarf es der Zusatzbehauptung, der Wandel gehe eben heute derart schnell vonstatten, daß auch der nächste Widerspruch wiederum nur unsere schnellebige Epoche illustriere. (Die Attribute dieses Wandels wie „atemberaubend“, „tief“, „grundsätzlich“ beziehen sich allein auf seine Form, nicht auf Gehalte).
Wie ein Spuk ist die handliche ideologische Formel „grow or die“ plötzlich von der Wirtschaftsagenda verschwunden. „Immer mehr vom immer selben“ scheint kaum noch jemandem wünschenswert, außer natürlich den Herstellern. Doch daß mehr Güter automatisch eine bessere Lebensqualität bedeuten, behauptet heute ernstlich niemand mehr.
Ideologie ist immer, was der andere hat. Vor allem der Gegner. Oder haben Sie jemals von einer demokratischen Ideologie gehört? Für Demokratie nämlich sind wir. Christliche Ideologie? Gar Ideologie der Liebe? Ideologie der Verantwortung? Grundwerte sind keine Ideologien — selbst wenn anderen Kulturen diese (angeblichen) Grundwerte gründlich fremd sind.
Vermutlich der bekannteste — und erfolgreichste — deutsche Management-Berater ist Gerd Gerken. Er verkörpert in vieler Hinsicht den Prototypen der Branche. Seine mit flinker Feder geschriebenen Trend-Bücher enthalten in Pop-Formulierungen die Summa der zeitgenössischen Branchenweisheiten. Über Spezifica mag man sich streiten, und auch, ob und inwieweit die Dia- und Prognosen zutreffen. Unbestreitbar jedoch sind sein Erfolg und seine scharfe Intuition. Gerken hat fraglos einen Nerv, vielleicht sogar einen neuralgischen Punkt getroffen.
Was der Nestor der US-Wissenschaftspolitiker hier an ‘der’ Politik rügt, gilt für jede Politik: Gesellschaftspolitk, Geschlechterpolitik, Firmenpolitik.
Die westliche Vernunft habe abgewirtschaftet, hören wir; schlimmer noch, sie habe uns den ganzen Schlamassel beschert, den Scherbenhaufen, vor dem wir heute stehen. Höchste Zeit, uns auf das zu besinnen, was die Vernunft verdrängt habe. Dort, hinter dem Zaun, den die Vernunft errichtet habe, schlummere die Erlösung. Ade Vernunft!
Manchen Manager mag es verwundert haben, daß ausgerechnet die Frankfurter Allgemeine Zeitung vor einiger Zeit eine Sonderseite für „Geisteswissenschaften“ eingerichtet hat. Das konservative Blatt hat sich wohl einiges dabei gedacht. Zwar waren die deutschen Geisteswissenschaften, weit mehr als die anderer Länder, traditionell ein Hort nationalen Erbes; schließlich hatten die Deutschen diese Disziplinen praktisch ‘erfunden’, gleichsam als Ersatz-Religion, Kultur als Ersatz für die politisch nie geschaffte nationale Identität: als allerorten die Nationalstaaten auf dem Kontinent entstanden, blieb Deutschland gleichsam nur die ideelle Identität. Eben die, wie man später spottete, einer Kulturnation.
In allen von uns spukt ein Verdacht, daß wir, wenn alles denn mit rechten Dingen zugeht, so manchen Erfolg ganz eigentlich gar nicht verdient haben. Dasselbe Gefühl haben wir zwar auch bei Niederlagen und Verlusten, doch Leiden adelt; falscher, will sagen: unverdienter Gewinn hingegen scheint uns schäbig, wir möchten uns der Resultate freuen und können der Gründe für eben diese Resultate nicht recht froh werden. Ein wenig fühlen wir uns alle — zu Zeiten — wie Hochstapler. Das hat denn auch manch tiefen Grund in dieser unserer Kultur. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob sie so schlicht mit populärer Psychoanalyse zu erklären sind, wie die Autorin, die das Phänomen zum ersten Mal auf seinen bündigen Begriff brachte. 1985 veröffentlichte Pauline R. Clarence einen aufsehenerregenden Band mit dem Titel The Impostor Phenomenon - das deutsche Wort ‘Hochstapler’ ist eher eine tolpatschige Annäherung ans englische „impostor“. Hochstapelei ist eine Rolle gegenüber anderen. Worum es der Autorin geht, ist gerade umgekehrt: daß andere uns für völlig legitim erachten, daß man auf legitimen Wegen es zu was gebracht hat — und dennoch: in uns selbst ist jenes nagende Gefühl nicht totzukriegen, daß uns das alles gar nicht zusteht.
Als der Herrgott uns aus dem Paradies warf wegen Erkenntnislust — ein frühes Beispiel für den anscheinend doch urtümlichen Drang nach Selbstbestimmung-, da fiel dem von Irrelevanz bedrohten Herrscher keine fürchterlichere Strafe ein als: „Geht und arbeitet!“ Kein Irrtum möglich: Arbeit war als Strafe gedacht.
Wo sonst in aller Welt könnte es geschehen, daß man kurz mit dem Auto hält, um Zigaretten aus dem Automaten zu ziehen, und jemand, wild gestikulierend, persönlich erbost, mit der unverkennbar deutschen Freude am Erwischen und Strafen auf den Sünder zuläuft, Zerknirschung erwartend, auf das Offensichtliche verweist: hier dürfe man nicht halten (gegebenenfalls: ob man denn keine Augen im Kopfe, den Führerschein sich erschlichen, nie einen strafenden Vater gehabt oder ganz generell keinen Verstand habe).
Geschichte wird immer von den Gewinnern geschrieben, heißt es. Heute nicht mehr. Im Pluralismus, in dem nicht alle um dasselbe rare Gut sich streiten, ist nicht mehr klar, wer der Gewinner, wer Verlierer ist. Nur wo es um dieselbe Sache geht, gibt es Gewinner und Verlierer.
Zunächst wäre zu klären, was das überhaupt ist, das wir so leichthin und wie selbstverständlich unter dem Begriff „Kreativität“ zu fassen versuchen: ein Talent, ein Verhalten, eine Einstellung, eine besondere Sensibilität, eine bestimmte Kombination von Charakterzügen, ein Zusammenwirken von Charakter und Umfeld, eine Produktorientierung, vor allem aber: wie erkennt man sie?
Die Worte eines renommierten deutschen Managers, Ko-Autor eines Bandes des zitierten Management-Beraters Gerken, schlagen jeder konventionellen Weisheit ins Gesicht. Denn der Begriff Stabilität hat, in diesen unseren Zeiten, fast mythenträchtige Qualitäten. Ein Zauberwort. Mit ihm bannt man den Geist der Anarchie, das Chaos, die Chaoten. Als jüngst in Ost-Europa die Freiheit ausbrach, beschworen all die Mächte, die auch nur mittelbar beteiligt waren, den obersten Wert des Westens wie des Ostens, der ersten wie der zweiten Welt: Stabilität.
Marshall McLuhan, Medien- und Management-Guru mit brillantem Kopf, hatte einst gespottet, die meisten Menschen lebten in der jeweils vorletzten Epoche. D.h. ihre Orientierungen kämen noch aus einer Zeit, die von der Entwicklung längst überholt ist — sie sind also, genaugenommen, orientierungslos in ihrer eigenen Zeit, versuchten diese aber mit den Lebensmodellen von gestern zu bewältigen. Gleichsam das soziokulturelle Peter-Prinzip — pfiffige Marketing-Strategen wissen die Orientierungsnostalgie zu nutzen. Während die jeweilige kulturelle Avantgarde an den Fronten des Möglichen ihre Lebensentwürfe bastelt, sehnt sich ein Großteil der Modernisierungsgeschädigten nach der sogenannten „heilen Welt“ — und zugleich nach der dichten, dramatischen Jetztzeit, die ihnen doch, in Medien und Reklame mit den Begriffen der Vergangenheit, geheimnisvoll und unzugänglich bleibt. Sie wollen die Gegenwart als Theaterbesuch — und merken nicht, daß sie selber die Spieler sind, daß sie zumeist nur Requisiten auftragen, Rollen von gestern für die Ratlosen von heute.
Ein Gespenst geht um im Abendland (und nur in diesem). Durchaus seriöse Menschen berichten von direkten Konfrontationen mit einem Geist, der tief unter all den Masken, Rollen, Zwängen, kurz: unter aller Selbstinszenierung sein unterdrücktes Leben friste: das wahre Selbst. Andere, Zweifler, wie ihr Beruf es befahl, mißtrauten den Berichten wie jenen über Nessie oder Yeti. Doch Spuren im Schnee von gestern wollen auch sie schon oft geortet haben: in klinischen Berichten etwa, in ‘Selbst’ bekenntnissen und im Geröll von Wutausbrüchen, Explosionen, in denen sich das wahre Ich spontan entäußerte.
„Management by walking around“ — wer würde da nicht eifrig mit dem Kopf nicken: in ständiger Berührung mit allen Ebenen, Information und Intuition aus dem direkten Zusammenspiel mit den Betroffenen. Dem Volk aufs Maul schauen, die Stimmung einschätzen, der König, verkleidet als Kumpel, mischt sich unters Volk. Und er allein hat den Überblick, weil er verschiedene Perspektiven kennt und diese einander relativieren läßt — die eine sozusagen in die Perspektive der anderen rückt.
Zeitgeister pflegen in der Wissenschaft in einer Art Lepra-Kolonie zu leben. Zusammen mit anderen Kollektivkrankheiten wie Nationalcharakter, öffentliche Meinung, historische Trends, die sich, in einer denkwürdigen Formulierung, zwar durch den Kopf der Individuen hindurch, aber letztlich doch sozusagen hinter ihrem eigenen Rücken verwirklichen.