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2019 | Buch

Biopolitiken – Regierungen des Lebens heute

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Über dieses Buch

​Das Buch versammelt konstruktivistische Perspektiven auf das Konzept „Biopolitik“. Dadurch werden die Analysepotentiale für aktuelle Phänomene, die den Zusammenhang zwischen dem Leben und dem Lebendigen und der Regierbarmachung betreffen, ausgelotet. Im Fokus stehen die Strategien und die Objekte der Regierungs- und Regulierungsbemühungen: In welcher Weise werden gesellschaftliche Probleme konstruiert und bestimmten „Zielscheiben“ zugeschrieben? Welche Subjektivierungsformen lassen sich im Rahmen biopolitischer Zugriffe ausmachen? Inwiefern spielen spezifische sozialtheoretische Überlegungen und Konzeptionen von Zeit für biopolitische Strategien und Konflikte eine Rolle? An welchen Gegenständen sind die fortdauernden Konflikte, die sich im Spannungsfeld zwischen Medizin, Ethik und Politik ergeben, zu explizieren?

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter

Einleitung

Frontmatter
Leben, Zeit, Regierung – Eine sozialtheoretische und konstruktivistische Neubestimmung des Konzepts Biopolitik
Zusammenfassung
Der Begriff Biopolitik hat sich im öffentlichen und sozialwissenschaftlichen Diskurs inzwischen fest etabliert, jedoch nicht im selben Maß an Schärfe gewonnen. Im allgemeinsten Sinne bezeichnet er häufig die Beziehungen zwischen Leben und Politik überhaupt. Dagegen treten wir für einen konstruktivistischen und sozialtheoretischen Begriff von Biopolitik ein. Das sozialtheoretische Potenzial des Biopolitik-Konzepts erschließt sich, wenn man diejenige epochengeschichtliche Konstellation in den Blick nimmt, in welcher sich die drei konstitutiven Dimensionen von Biopolitik, nämlich Leben, Zeit und Politik, formieren und zueinander in Beziehung setzen: die Moderne. Dabei zeigt sich, dass ihr jeweiliges historisch-spezifisches Auftreten in bestimmen Formen erfolgt: der positiven Lebensmacht, der Verzeitlichung der Geschichte und der Zukunft sowie der Regierung als Verbindung von Einzelnem und Ganzem. Die Relationierung dieser historisch spezifizierten Dimensionen konstituiert den epistemisch-politischen Raum, in dem biopolitische Rationalitäten, Strategien, Programme und Technologien entworfen werden. Charakteristikum von Biopolitik ist dann der kalkulierende, auf Steigerung und Optimierung gerichtete Zukunftsbezug, der sich über bestimmte Wissensformen und Regierungstechniken in die Körper, Lebensprozesse und sozialen Beziehungen einschreibt. Diese Logik, und nicht die allgemeine Beziehung zwischen Politik und Leben, bildet dann das definierende Merkmal von Biopolitik.
Kathrin Braun, Helene Gerhards

Theoretische Konturen der Biopolitik

Frontmatter
Biopolitik als Theorie der Gesellschaft
Zusammenfassung
Theorien der Biopolitik im Anschluss an Michel Foucault beanspruchen einerseits gesellschaftliche Realität zu bestimmen, basieren aber andererseits auf der programmatischen Zurückweisung einer Theorie gesellschaftlicher Totalität. Ihr Spannungsverhältnis zur gesellschaftlichen Totalität erzeugt aus der Sicht der kritischen Sozialwissenschaft ein gesellschaftstheoretisches Defizit, das etwa in marxistischen Kritiken an Foucault herausgestellt wird. Der Artikel zeigt diese Spannung an der Rezeptionslinie des foucaultschen Konzepts der Biopolitik auf und weist einfache Überbrückungs- und Auflösungsversuche zurück. Weder eine marxistische Kapitalismuskritik und Totalitätsperspektive noch undogmatische Vermittlungsversuche zwischen Marxismus und Kritik im Anschluss an Foucault lösen das Problem, sie reproduzieren nur einen Dualismus, der die verschiedenen Seiten gegeneinander ausspielt. Der Artikel schlägt hingegen vor, jenes Verhältnis zur Totalität als theorieleitend zu rekonstruieren und die Theorie der Biopolitik auf ihre theoriepolitische Grundlage zu beziehen, nämlich die historisch berechtigte Abgrenzung Foucaults vom Marxismus. Diese theoriegeschichtliche Rekonstruktion ermöglicht es, den Anspruch einer kritischen Gesellschaftstheorie, der in der foucaultschen Analyse wie im Marxismus erhoben wird, neu zu verhandeln.
Florian Geisler, Alexander Struwe
Biopolitik der Zeit
Zusammenfassung
Dieser Beitrag versucht, unter Berücksichtigung der nun vollständig vorliegenden Vorlesungen Michel Foucaults am Collège de France, den Ansatz einer „Biopolitik der Zeit“ bzw. „Biochronopolitik“ werkimmanent zu entwickeln. Während Foucault gemeinhin als „raumtheoretisch“ äußerst sensibler Denker gilt, wurden temporalspezifische Aspekte seiner Schriften bisher nur ansatzweise rekonstruiert. Der Beitrag nimmt sich demgegenüber zum Ziel, die Auseinandersetzung mit Zeit, Zeitlichkeit und Geschichte im Mittel- und Spätwerk Foucaults aufzuschlüsseln. Ausgangspunkt ist dabei die Analyse von Rationalitäten und Praktiken des zeitlichen Regierens, die sich entlang der Achse der Macht, des Wissens und des Subjekts entfalten. Ein temporalspezifischer Zugang im Anschluss an Foucault eröffnet demnach eine integrative Perspektive auf sich historisch verändernde soziale Zeitregime, die in ihrer wechselseitigen Konstitutionsbeziehung zu vorherrschenden Machttypen, Wissensformen und Subjektivierungsweisen erfasst werden können.
Jürgen Portschy

Biopolitische Subjekte – biopolitische Subjektivierung

Frontmatter
Die Temporalität der Biopolitik – Eine systemtheoretische Perspektive auf die Regierung ‚symptomfreier Kranker‘
Zusammenfassung
Biopolitik als auf das Leben gerichtete Form des Regierens moderner Gesellschaften weist zwei Facetten von Temporalität auf. Zum einen stellt sich Biopolitik als historisches Phänomen dar, zum anderen ist der Biopolitik eine eigene Zeitstruktur inhärent. Um diese temporalen Merkmale theoretisch zu spezifizieren, bedienen wir uns der Systemtheorie nach Niklas Luhmann. Unsere Überlegungen illustrieren wir am Interaktionssystem der prädiktiven genetischen Diagnostik, die mit der Entstehung der Subjektform der ‚(potenziellen) symptomfreien Kranken‘ verbunden ist. Dabei wird deutlich, dass die Biopolitik durch den Einsatz der Risikosemantik eine auf die Zukunft gerichtete Perspektive einnimmt und ehemals nicht beeinflussbare Gefahren in den Horizont der individuellen Verantwortung rückt. Zugleich bringt das Interaktionssystem eine eigene Zeitstruktur hervor, indem es Informationen aus der Vergangenheit selektiert und hierdurch kontingente, entscheidungsabhängige Zukünfte imaginiert. Neben der Entzifferung der Temporalität der Biopolitik erlaubt die Systemtheorie schließlich eine metatheoretische Einordnung: Dass sich eine biopolitisch regierte Gesellschaft mitsamt der Norm der Optimierung des Lebens etablieren konnte, ist hiernach kein historisch zufälliges Produkt, sondern vielmehr Ausdruck der inhärent modernen Unterscheidung zwischen Vergangenem und Zukünftigem.
Marlon Barbehön, Anja Folberth
The Democratic Biopolitics of PrEP
Abstract
PrEP (Pre-Exposure Prophylaxis) is a relatively new drug-based HIV prevention technique and an important means to lower the HIV risk of gay men who are especially vulnerable to HIV. From the perspective of biopolitics, PrEP inscribes itself in a larger trend of medicalization and the rise of pharmapower. This article reconstructs and evaluates contemporary literature on biopolitical theory as it applies to PrEP, by bringing it in a dialogue with a mapping of the political debate on PrEP. As PrEP changes sexual norms and subjectification, for example condom use and its meaning for gay subjectivity, it is highly contested. The article shows that the debate on PrEP can be best described with the concepts ‘sexual-somatic ethics’ and ‘democratic biopolitics’, which I develop based on the biopolitical approach of Nikolas Rose and Paul Rabinow. In contrast, interpretations of PrEP which are following governmentality studies or Italian Theory amount to either farfetched or trivial positions on PrEP, when seen in light of the political debate. Furthermore, the article is a contribution to the scholarship on gay subjectivity, highlighting how homophobia and homonormativity haunt gay sex even in liberal environments, and how PrEP can serve as an entry point for the destigmatization of gay sexuality and transformation of gay subjectivity. ‘Biopolitical democratization’ entails making explicit how medical technology and health care relates to sexual subjectification and ethics, to strengthen the voice of (potential) PrEP users in health politics, and to renegotiate the profit and power of Big Pharma.
Karsten Schubert

Neue Zugriffe auf die „Bevölkerung“

Frontmatter
Rassistische Zukunftskalkulationen – Zur Biopolitik einer migrantischen Geburtenrate
Zusammenfassung
Der Text befasst sich mit Migrationspolitik als Biopolitik und mit dem aktuellen Bedeutungsgewinn von Demografiepolitik. Demografische Literatur diskutiert in Deutschland seit einigen Jahren zunehmend das Thema einer differenziellen Geburtenrate von Migrantinnen. Rechte Kräfte skandalisieren eine im Vergleich zum deutschen Durchschnitt höhere ‚Fertilität‘ als Gefahr für eine vermeintliche nationale ethnische Homogenität. Regierungsberatende Institute konstatieren demgegenüber, dass eine ‚migrantische Fertilität‘ sich an eine niedrigere ‚deutsche Geburtenrate‘ anpasse und nicht ausreiche, um einer ‚Alterung‘ der deutschen Nation entgegenzuwirken. Der Text analysiert die Demografisierung von Migrationspolitik als biopolitische Konjunktur, geht beiden Argumentationslinien und den damit verbundenen anti-immigrationspolitischen Positionen nach und untersucht grundlegende Dimensionen dieser segregierenden Wissensproduktion. Vorstellungen eines ‚reproduktiven Verhaltens‘ und einer zukünftigen reproduktiven Genealogie der migrantischen Bevölkerung werden im biopolitischen Zusammenhang von Generativität, Geschlechterverhältnissen und Rassismus kritisch hinterfragt.
Susanne Schultz
Der biopolitische Charme der Familie – Die „nachhaltige Familienpolitik“ und die quantitative und qualitative Regulierung der Bevölkerung in Deutschland
Zusammenfassung
Im Rahmen der sogenannten „nachhaltigen Familienpolitik“ der 2000er-Jahre in Deutschland wurden mehrere Reformen umgesetzt, wie etwa das einkommensabhängige Elterngeld oder der Ausbau der Kindertagesbetreuung. Diese Maßnahmen stellen nicht nur einen Bruch mit der konservativen Wohlfahrtsstaatspolitik und dem Ernährer-Hausfrau-Modell dar, sie zogen auch einen maßgeblichen institutionellen und transferleistungsbezogenen Ausbau familienpolitischer Leistungen in Zeiten neoliberalen Abbaus von Sozialstaatlichkeit nach sich. Vorliegender Beitrag fokussiert auf die bevölkerungspolitischen Implikationen einer solchen Politik und analysiert diese im Anschluss an Michel Foucault und feministische Debatten zur sozialen Reproduktion als biopolitische Regulierung sozialer Reproduktionsverhältnisse. Anhand einer Diskursanalyse zentraler Gutachten und Studien, die der nachhaltigen Familienpolitik zugrunde liegen, werden die artikulierten Probleme, neue familiale Weiblichkeits- und Männlichkeitsbilder sowie die darin eingelagerten neuen rassistischen und klassistischen Ungleichheitsverhältnisse herausgearbeitet. Zugleich und im Rahmen des biopolitischen Fokus auf die Humankapitalproduktion wird Familie vor allem in ihren reproduktiven Potenzialen und als Bildungsinstitution adressiert. Dies hat auch eine Neuaushandlung der Grenzziehung zwischen öffentlich und privat zur Folge.
Katharina Hajek
Biopolitik der Angst – Affekttheoretische Anschlüsse an Michel Foucault
Zusammenfassung
Der Beitrag schlägt eine affekttheoretische Erweiterung des foucaultschen Zugangs zu Biopolitik vor. Er vertritt die These, dass in den letzten Jahren, insbesondere im Feld der Terrorbekämpfung, verstärkt eine neue Form von Biopolitik in Erscheinung tritt, die mit dem Begriff einer Affektpolitik der Angst gefasst werden kann. Diese zielt auf die Bevölkerung als affektiv reagierender Kollektivkörper und operiert über die Konstruktion einer diffusen, nicht eingrenzbaren Bedrohungslage, die als Anlass und Legitimation für präemptive Interventionen fungiert. Von den von Foucault untersuchten biopolitischen Regulierungstechnologien und Sicherheitsarrangements unterscheidet sich die Affektpolitik der Angst in dreierlei Hinsicht: (I) Die Macht wirkt nicht primär normalisierend, sondern sie konstituiert sich über das Herstellen punktueller Ausgleichsakte, die immer neue Interventionen erfordern. (II) Der affective fact bezieht sich seiner Logik nach auf eine gefühlte Bedrohung, auf etwas, was vielleicht in Zukunft geschehen sein wird. Dies führt zu einem neuen Zeitregime: Das Potenzial wirkt in die Gestaltung der Gegenwart hinein. (III) Zudem zeigt sich die Konstruktion einer neuen Natur, die eine Biopolitik der Angst als Umwelttechnik erscheinen lässt. Sie macht die Störanfälligkeit komplexer Systeme im Modus der Präemption handhabbar.
Amelie Bihl

Politische und ethische Konflikte um Bio- und Körperpolitik

Frontmatter
Biopolitics and deliberation – Challenging the ideal of consensus in the name of ethics
Abstract
In this article, with special regard to biopolitics, I will challenge the common assumption in the social sciences that the rise of ethics is deeply associated with a process of de-politicisation. Rather, I will show that the usual unease in the social sciences with the rise of ethics is inappropriate for the most part. Taking national ethics councils as an example, I will show that currently the consensus approach in policy advice is challenged by a deliberation model evolved and established under the dominance of the ethical discourse. As ethical deliberation corresponds to the basic cornerstones of democratic debate (diversity and pluralism), the current trend towards an ethicisation of technology may help politicising technology issues. In my view, we should understand the contemporary tendency to negotiate biopolitical issues under the header of ethics as an opportunity for politicization.
Alexander Bogner
Von Ethisierungen, Entmoralisierungen und Entpolitisierungen – Zur Geschichte einer neuen Regierungstechnologie am Beispiel des französischen nationalen Ethikkomitees
Zusammenfassung
Wie setzen sich nationale Ethikinstitutionen als Form von Regierung lebenswissenschaftlicher Herausforderungen durch? Für welche Problematisierungen sind sie eine Lösung, welche sind auf dem Weg zu ihrer staatlichen Institutionalisierung verloren gegangen? Und wie ‚funktioniert‘ diese Regierungsform, die mittlerweile selbstverständlich scheint? Der Beitrag widmet sich diesen Fragen am Beispiel der Entstehungsgeschichte des nationalen französischen Ethikkomitees und richtet den Fokus auf den Diskurs medizinischer Forschung. Er knüpft an Studien an, die aus der Perspektive der Gouvernementalitäts- und Biopolitikanalyse die Regierung von Ethikinstitutionen als delegierte Biopolitik bzw. als governing at a distance betrachten. In einer genealogischen Herangehensweise wird aufgezeigt, dass diese Regierungsform nicht erst mit dem nationalen Ethikkomitee aufkam, sondern ihre Vorgänger hatte. Zudem zeigt sich, dass ethische Rahmungen medizinischer Entwicklungen sich in einem Kampf um Bedeutung gegenüber moralischen und gesellschaftskritischen Problematisierungen durchsetzten. Die entstandene Regierungstechnologie besteht wesentlich darin, den Diskurs über Probleme lebenswissenschaftlicher Entwicklungen zu steuern. Sie aktiviert Subjekte und integriert sie in einen von Expert_innen angeleiteten Diskurs individueller, rationaler Reflexion. Lebenswissenschaftliche Entwicklungen grundlegend zu kritisieren ist damit weitgehend ausgeschlossen – sie sind nicht mehr gesellschaftlich umkämpft.
Sabine Könninger
Glaube in der Biopolis? – Die biopolitischen Debatten der katholischen Kirche
Zusammenfassung
Der Beitrag untersucht die biopolitischen Debatten der katholischen Kirche, die diskurspolitische Bedeutung beansprucht haben. Nach einer Rekapitulation der innerinstitutionellen Heterogenität von Meinungen in Bezug auf die Herausforderungen, die im Umgang mit dem Körper und dem biologischen Leben des Menschen identifiziert werden (Abschn. 1), widmet sich der Beitrag den biopolitischen Positionen der katholischen Kirche (Abschn. 2). Zunächst werden die debattenrelevanten Themenkomplexe der letzten Jahrzehnte vorgestellt und die Frage beantwortet, mit welchen Körperpraktiken und (bio-)medizinischen Innovationen sich die Kirche am meisten auseinandergesetzt hat (Abschn. 2.1). Eine am hermeneutischen Verstehen orientierte Analyse der Positionen zu den einzelnen Themenkomplexen wird schließlich ihren Fokus darauf legen, mit welchen sprachlichen Mitteln die katholische Kirche im Rahmen ihrer schriftlichen Kommunikationen Diskursautorität anmeldet. Die Konstituierung ihres Diskurses, so wird argumentiert, läuft nicht nur über die Berufung auf religiöse Dogmen, sondern wird über die Bezugnahme externer Diskurse (insbesondere Medizin und Medizinethik) verfestigt (Abschn. 2.2). Ein Fazit bündelt die Ergebnisse (Abschn. 3).
Johannes Ludwig Löffler
Gefährdete jüdische und muslimische Körper? – Forderungen nach Regulierung der Vorhautbeschneidung in Deutschland
Zusammenfassung
2012 erklärte das Landgericht Köln die religiöse Vorhautbeschneidung eines muslimischen Jungen zu einer strafbaren Körperverletzung. Nachdem das Urteil öffentlich geworden war, entbrannte in deutschen Tages- und Wochenzeitungen eine emotionale und lautstarke Kontroverse, die schließlich auch im Deutschen Bundestag geführt wurde. Im Beitrag werden die Argumentationen von BeschneidungsgegnerInnen, die aus medizinischer, psychoanalytischer und strafrechtlicher Perspektive sowohl in wissenschaftlichen Fachzeitschriften als auch in überregionalen Tageszeitungen veröffentlicht wurden, kritisch diskutiert und eingeordnet. Im Zentrum steht die Frage, wie BeschneidungsgegnerInnen einen Diskurs erzeugten, dessen Ziel es ist, dass der Bundestag legislativ biopolitisch handeln soll. Die Forderung nach einem Verbot der jüdischen und muslimischen Körperpraxis – die die Jungenkörper „gefährde“ – kann somit als Versuch interpretiert werden, die Praxis und letztlich auch die Praktizierenden zu exkludieren.
Dana Ionescu

Biopolitik und Kritik: Theoriepolitische Anschlüsse

Frontmatter
Eine politische Wissenschaft der Biomedizin – Politische Selbstbeschreibungen in den Analysen zur Biopolitik
Zusammenfassung
Der Beitrag unternimmt eine gesellschaftstheoretische Verortung derjenigen Rezeptionslinie des foucaultschen Konzepts der Biopolitik, die sich mit Problemen der Biomedizin befasst, und fragt nach der gesellschaftlichen Funktion der Rezeptionslinie für das soziale Funktionssystem der Politik. Dafür werden die Arbeiten dieser Rezeptionslinie aus Sicht einer Theorie sozialer Systeme – entgegen ihrem kritischen Selbstverständnis – als semantisch anspruchsvolle und analytisch ausgerichtete Selbstbeschreibungen des politischen Systems im System selbst verstanden. Vor diesem Hintergrund bekommt deren politische Behandlung der Biomedizin eine andere Wendung. Wir können nun diese Arbeiten nicht mehr primär als kritische Prüfung biopolitischer und bioethischer Selbstverständlichkeiten verstehen, sondern müssen ihre gesellschaftliche Rolle darin sehen, der Biomedizin einen spezifisch politischen Sinn zu geben. In diesem Kontext analysiert vorliegender Beitrag die Form, in der die ausgewählten Arbeiten Biomedizin präsentieren. Das Postulat der radikalen Neuheit der biomedizinischen Verhältnisse erweist sich dabei als von zeitdiagnostischer Logik getragen. Eine genaue Prüfung der Problematisierung der Biomedizin im politikspezifischen Korridor von Macht und Entscheiden offenbart zudem, dass Biomedizin ein gesellschaftlich virulentes Thema ist, für das die Politik in letzter Instanz aber keine Lösungen anbieten kann. Abschließend werden Überlegungen darüber angestellt, warum das politische System in den Selbstbeschreibungen der Texte zur Biopolitik sich dabei beobachtet, wie es zugleich die Arbeit an Lösungen anzeigt, aber selbst keine Möglichkeiten zur Lösung des Problems Biomedizin sieht.
Phillip H. Roth
Zur Grammatik medizinischer Herrschaft – Reflexionen zur biopolitischen Medizin bei Foucault, Horkheimer und Adorno
Zusammenfassung
Der Artikel setzt sich kritisch mit Michel Foucaults Analyse der biopolitischen Medizin auseinander und ist bestrebt, sein Verständnis einer medizinischen Herrschaftsform, die er als ‚Somatokratie‘ bezeichnet, aus herrschaftsanalytischer Perspektive zu untersuchen. Da Foucault nicht auf einen differenzierten Herrschaftsbegriff zurückgreifen kann, soll – unter Bezug auf Max Horkheimers und Theodor W. Adornos fragmentarische und bisweilen metaphorische Überlegungen zur Herrschaft der Medizin – die Kritische Theorie als theoretische Kontrastfolie verwendet werden. Dieser, einer explizit normativen Herrschaftskritik folgende Impuls soll das dialektischen Verhältnis von medizinischem Fortschritt als Bedingung gesellschaftlicher Emanzipation und der Reproduktion von Herrschaft durch medizinische Kontroll- und Optimierungstendenzen innerhalb kapitalistischer Produktion reflektieren.
Stefan Vennmann
Nutzbare Körper und „gesteigerte Menschhaftigkeit“ – Biopolitik und Kapitalismus bei Michel Foucault und Walter Benjamin
Zusammenfassung
Entsprechende Analysen von Walter Benjamin und Michel Foucault wieder aufgreifend, rückt der Beitrag den historischen Zusammenhang und die Wechselwirkungen zwischen Kapitalismus und Biopolitik in den Mittelpunkt. In den Blick kommen dabei nicht nur die biopolitische Produktion nutzbarer Körper für die kapitalistische Wachstumsökonomie oder die zunehmende kommerzielle Vermarktung biomedizinischer Technologien. Anknüpfend an Benjamins Fragment Kapitalismus als Religion wird darüber hinaus verdeutlicht, wie die kapitalistische Steigerungslogik einen eigentümlichen motivationalen Horizont für die beständige Optimierung des „bloßen Lebens“ (Benjamin) erzeugt. Exemplarisch konkretisiert wird diese theoretische Perspektive an zwei aktuellen biopolitischen Phänomenen, dem „erweiterten Anlageträger-Screening“ und dem bioethischen Postulat der procreative beneficence, der Zeugung desjenigen Kindes mit den „besten“ Lebenschancen. In Abgrenzung sowohl von Entwürfen einer affirmativen Biopolitik als auch von politikwissenschaftlichen Governance-Konzepten plädiert der Beitrag abschließend für eine Politisierung der Biopolitik, die auf die Unterbrechung der Dynamik „gesteigerter Menschhaftigkeit“ (Benjamin) zielt.
Peter Wehling
Metadaten
Titel
Biopolitiken – Regierungen des Lebens heute
herausgegeben von
Helene Gerhards
Prof. Dr. Kathrin Braun
Copyright-Jahr
2019
Electronic ISBN
978-3-658-25769-9
Print ISBN
978-3-658-25768-2
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-25769-9