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Open Access 2024 | OriginalPaper | Buchkapitel

1. Die simulierte Werkzeugmaschine, ein Rückblick

verfasst von : Günter Pritschow†, Alexander Verl, Sascha Röck, Christian Scheifele

Erschienen in: Echtzeitsimulation in der Produktionsautomatisierung

Verlag: Springer Berlin Heidelberg

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Zusammenfassung

Dieser Beitrag zitiert in Teilen eine Veröffentlichung, die im Jahre 2003 auf dem Fertigungstechnischen Kolloquium (FTK) der Gesellschaft für Fertigungstechnik in Stuttgart von Prof. Dr.-Ing. Günter Pritschow et al. präsentiert wurde [1]. Zu dieser Zeit war die durchgängige Simulation von Maschinen und Anlagen eines der Trendthemen im modernen Maschinenbau mit der sich die gesamte Branche auseinandersetzte. Was heute als etablierte Technologie in vielen Entwicklungsbereichen nicht mehr wegzudenken ist, steckte damals noch in den Anfängen und war thematischer Bestandteil in zahlreichen Forschungsprojekten an den produktionstechnischen Instituten deutscher Universitäten.
Dieser Beitrag soll einen Blick in die Vergangenheit werfen und einen Überblick über die Anforderungen an die Simulationstechnik im Produktionsmaschinenbau jener Zeit geben.

1.1 Einführung (anno 2003)

Die virtuelle Welt nimmt aufgrund immer leistungsfähigerer Rechnersysteme und neuer Softwaretechnologien in unserem alltäglichen Leben einen ständig wachsenden Raum ein. Was in der Welt der Computerspiele und Schulungssysteme (z. B. Fahr- und Flugsimulatoren) oder in Bereichen des Fahrzeugbaus bereits eine Selbstverständlichkeit ist, wird mehr und mehr auch in der Produktionstechnik als Hilfsmittel für alle Phasen des Maschinenlebenszyklus und der Produktionsabläufe eingesetzt.
Die unterschiedlichen Anforderungen dieser Phasen, welche die Planung, Herstellung, Anwendung und den Einsatz der Werkzeugmaschinen umfassen, führen zu einem zentralen Ziel für die virtuelle Produktion: Die durchgängige Simulation der Werkzeugmaschine!
Grundvoraussetzung für die durchgängige Simulation ist eine ganzheitliche Modellierung von Maschine und Prozess. Ohne eine vollständige mathematische und softwaretechnische Modellierung vom Antrieb über die Maschinenkinematik und -dynamik bis hin zum Produktionsprozess ist diese Durchgängigkeit nicht erreichbar.
Um der globalen Anforderung nach Wirtschaftlichkeit gerecht zu werden, der sich auch die virtuelle Produktion stellen muss, sind neben einer durchgängigen Modellierung auch die Themen Wiederverwendung von Software und einheitliche Schnittstellen von zentraler Bedeutung. Gelingt es beispielsweise, durch den Einsatz einheitlicher Schnittstellen beliebige Systemkonfigurationen aus realen und virtuellen Komponenten zusammenzustellen, so können beginnend mit dem Maschinenhersteller über Inbetriebnehmer bis hin zum Maschinenanwender alle vom Prinzip der virtuellen Produktion profitieren.
Dieser Beitrag soll einen kurzen Überblick über die bisherige Entwicklung der unterschiedlichen Simulationsdisziplinen im Werkzeugmaschinenbau geben sowie die Möglichkeiten der gekoppelten Simulation aufzeigen. Aktuelle Forschungsergebnisse unterschiedlicher Hochschulen beschreiben darüber hinaus den bereits zurückgelegten und noch zu überwindenden Weg zur „virtuellen Werkzeugmaschine“!

1.2 Entwicklung der Simulationstechnik im Werkzeugmaschinenbau (anno 2003)

Motivation – warum simulieren?
Die Motivation für die Modellbildung und Simulation im Bereich der spanenden Werkzeugmaschinen beruhen im Wesentlichen auf Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen. Neben den direkten wirtschaftlichen Aspekten, wie kürzer werdende Lieferzeiten, Parallelisierung von Entwicklungsabläufen und steigende Variantenvielfalt, können auch die technischen Aspekte durch Wirtschaftlichkeitsanforderungen begründet werden. So führen das analytische Vorgehen beim Verwenden von Simulationssystemen, die damit verbundene bessere Systemkenntnis sowie die simulationsbasierten Schulungsmöglichkeiten unmittelbar zu monetären Vorteilen.
Vor diesem Hintergrund lassen sich für die unterschiedlichen Phasen des Maschinenlebenszyklus und der Produktionsabläufe für den jeweiligen Personenkreis (Entwickler, Konstrukteur, Inbetriebnehmer, Benutzer) individuelle Gründe für die Anwendung von Simulationstechniken finden. Während der Konstrukteur einer Werkzeugmaschine mithilfe einer Simulation beispielsweise das Ziel der Erhöhung der Maschinendynamik verfolgt, so benötigt der Benutzer einer Werkzeugmaschine vielmehr eine Hilfestellung durch das simulierte Einfahren von Teileprogrammen.
Grundlage für alle Anwendungen ist zunächst die Abbildung der real existierenden Komponenten einer Werkzeugmaschine in einem Modell (Abb. 1.1). Diese virtuelle Werkzeugmaschine kann unter Verwendung geeigneter Simulationswerkzeuge zur Unterstützung der Beteiligten in den einzelnen Phasen des Maschinenlebenszyklus verwendet werden. Zur Überprüfung der Gültigkeit und Qualität des Modells und der Simulationsergebnisse ist ein Abgleich mit realen Ergebnissen (Validierung/Verifikation) unerlässlich.
Simulationsdisziplinen – was simulieren?
Das mechatronische Systeme Werkzeugmaschine ist gekennzeichnet durch das Zusammenwirken verschiedener technischer Fachdisziplinen. Angefangen bei der Informationstechnik über die Elektrotechnik, Hydraulik, Mechanik bis hin zur Werkstofftechnik bei Fertigungsprozessen. Für die Simulation gibt es für jede dieser Fachdisziplinen spezialisierte Werkzeuge, die üblicherweise getrennt voneinander zum Einsatz kommen:
  • Simulation von Steuerungssystemen
  • Simulation von Antriebssystemen
  • Simulation der Maschinenmechanik
  • Simulation des Fertigungsprozesses
Für jede dieser Simulationsdisziplinen sind bereits unterschiedliche Simulationswerkzeuge kommerziell erhältlich. Die Simulationswerkzeuge und die darin verwendeten Methoden sind speziell an die Probleme der jeweiligen Disziplin angepasst. Ein Auszug gängiger Methoden und deren Anwendungen in den einzelnen Simulationsdisziplinen ist in Tab. 1.1 dargestellt.
Tab. 1.1
Mögliche Simulationsmethoden sowie deren Anwendungen in spezifischen Simulationsdisziplinen
Simulationsdisziplin
Modell / Methode
Anwendung
Simulation von Steuerungssystemen
Virtuelle Steuerung (Steuerungssoftware)
• Steuerungstest
• Sollwertanalysen
Emulierte Steuerung
(Steuerungsmodell)
• Verifikation von NC-Teileprogrammen
• Bearbeitungssimulation
Simulation von Antriebssystemen
Blockschaltbilder
• Abstrahierte Systemanalyse und –auslegung (z.B.: Reglermodelle)
Netzwerkdarstellung
• Schaltungsanalyse und –auslegung (z.B.: elektrisch, pneumatisch, hydraulisch)
Zustandsautomat
• Logik und ereignisorientiertes Verhalten
Simulation der Maschinenmechanik
Finite-Elemente-Methode
(FEM)
• Berechnung strukturmechanischer Eigenschaften
Mehrkörpersimulation
(MKS)
• Dynamischen Analysen bei großen Verfahrbewegungen & Nichtlinearitäten
3D-Kinematik-Simulation
• Kollisionskontrolle
• Arbeitsraumuntersuchungen
• Bewegungssimulation
• Visualisierung
Prozesssimulation
Simulation der Spanbildung
• Oberflächenoptimierung des Werkstücks
Geometrische Volumenmodelle
• Abtrags-/Bearbeitungssimulation
• Prozesskraftrekonstruktion
Prozessstabilität
• Erkennung von regenerativem Rattern
• Werkzeugbruch und –verschleiß
Mit Hilfe der dargestellten Simulationsmethoden können die Teilprobleme der jeweiligen Fachdisziplin sehr gut untersucht werden. Fachdisziplinübergreifende Fragestellungen können jedoch nur unzureichend betrachtet werden. Hier findet die sogenannte gekoppelte (multidisziplinäre) Simulation ihren Einsatz.

1.3 Gekoppelte Simulationen (anno 2003)

Das Ziel der Kopplung von Simulationswerkzeugen ist es, eine durchgängige Beschreibung und Berechnung des Maschinenverhaltens durch Zusammenführen der beschriebenen Fachdisziplinen zu ermöglichen.
Wurden bisher die unterschiedlichsten proprietär entwickelten und kommerziellen Simulationswerkzeuge als einzelstehende Anwendungen betrachtet, so bewegt sich der Trend in den vergangenen Jahren verstärkt hin zu so genannten „gekoppelten Simulationen“. Durch softwaretechnisches Verknüpfen der disziplinspezifischen Simulationswerkzeuge kann das von einer Simulation berechnete Systemverhalten als Eingang für die nachgeschaltete Simulation verwendet werden, deren Ergebnis wiederum auf die vorgeschaltete Simulation zurückwirkt (Wechselwirkung) und ggf. für weitere nachgeschaltete Simulationen verwendet wird, wodurch in der Summe eine disziplinübergreifende Gesamtsimulation ermöglicht wird.
Unter Betrachtung der Definition der virtuellen Produktion [2] umfasst die Simulation der Werkzeugmaschine die Abstraktionsebene der Anlage und Technologie. Diese beinhaltet die Teilsysteme der Steuerung, des Antriebs, der Mechanik und des Prozesses. In Abb. 1.2 werden durch Kopplung von Teildisziplinen die Systemgrenzen innerhalb einer Werkzeugmaschine bis hin zum Gesamtsystem Werkzeugmaschine zur Klassifizierung stückweise erweitert.
Entsprechend dieser Kombinatorik ergeben sich für die gekoppelte Simulation eine Vielzahl von Einsatzmöglichkeiten. Einen exemplarischen Überblick möglicher Anwendungen ist in Tab. 1.2 zusammengefasst.
Tab. 1.2
Anwendungsmöglichkeiten der gekoppelten Simulationen
Betrachtete Systemgrenzen
Anwendungsmöglichkeit
Steuerung bis Antrieb
• Virtueller Antriebsprüfstand für die Steuerungs- und Regelungserprobung und Auslegung
• Konformitätstests von Steuerungen
Antrieb bis Mechanik
• Antriebs- und Regelungsauslegung unter Berücksichtigung dynamischer Eigenschaften der Maschinenmechanik
• Optimierung der mechanischen Konstruktion unter Berücksichtigung der Antriebs- und Regelungsdynamik
Mechanik bis Prozess
• Prozessstabilität unter Berücksichtigung der Maschinenmechanik
• Optimierung der mechanischen Konstruktion unter Berücksichtigung der Prozessdynamik
Steuerung bis Mechanik
• Steuerungserprobung und Vorabinbetriebnahme unter Berücksichtigung der Maschinendynamik von der Antriebsregelung bis zur Maschinenmechanik
• Antriebs- und Regelungsauslegung unter Berücksichtigung der Maschinenmechanik und Sollwerten aus der Steuerung
• Optimierung der Maschinentopologie und Bauteilstruktur unter Berücksichtigung von Sollwerten aus der Steuerung
Antrieb bis Prozess
• Untersuchung dynamischer Eigenschaften der Gesamtmaschine unter Berücksichtigung des kompletten Kraftflusses von der Krafterzeugung (Antrieb + Regelung) bis zur Kraftumsetzung (Mechanik + Prozess)
Steuerung bis Prozess
• Untersuchung der dynamischen Eigenschaften der Gesamtmaschine (wie oben) unter Berücksichtigung von Sollwerten aus der Steuerung
• Steuerungserprobung, Antriebs-, Regler-, Struktur-, Topologie- und Prozessoptimierung sowie Vorabinbetriebnahme und Schulung an der „virtuellen Werkzeugmaschine“

1.4 Aktuelle Anwendungsbeispiele der simulierten Werkzeugmaschinen (anno 2003)

Im Folgenden werden auf der Basis der aufgeführten Anwendungsmöglichkeiten einige Beispiele vorgestellt. Es handelt sich dabei um eine Sammlung interessanter Anwendungen anno 2003, die das Potential der Simulationstechnik auf dem Weg zur durchgängig simulierten Werkzeugmaschine zeigten.
Gekoppelte Simulation von Maschinendynamik und Antriebsregelung unter Verwendung der Finiten-Elemente-Methode (FEM)
Die Strukturnachgiebigkeit einer Werkzeugmaschine hat entscheidende Auswirkungen auf die Regeldynamik und das Bearbeitungsergebnis. Somit ist das genaue Erfassen auch hochfrequenter Schwingformen notwendig, die nur durch eine hinreichend detaillierte Modellierung der flexiblen Strukturbaugruppen errechnet werden können. Dies ermöglicht der Einsatz der FEM. Durch die Kopplung der Antriebs- und Mechaniksimulation ist eine Integration des FEM-Modells in die Regelkreisanalyse möglich (Abb. 1.3).
In [3] wird gezeigt, dass die erreichbaren Regelparameter \({\text{K}}_{\text{v}}\), \({\text{K}}_{\text{p}}\) und \({\text{T}}_{\text{n}}\) der Servoantriebe mit Hilfe der gekoppelten Simulation ermittelt werden können. Es wird eine eindeutige Zuordnung von Resonanzstellen der Regelstrecke und den zugehörigen Schwingformen nachgewiesen. Durch die gekoppelte Simulation im Zeitbereich, beispielsweise eines Kreisformtests, wird das Verhalten des Gesamtsystems auch unter Einwirkung von Störkräften (z. B. nichtlineare Reibungskräfte) bis hin zur Bearbeitungsstelle am Tool Center Point (TCP) und Werkstück berechnet.
Eine weitere Anwendung der gekoppelten Simulation von Antriebsregelung und Mechanik ist in [4 und 5] beschrieben. Dabei wird der Einfluss der Messsystemposition auf die erreichbare Dynamik untersucht. Mit Hilfe der Simulation wird gezeigt, dass durch verbessertes Anordnen des Messsystems der Phasenverlust minimiert werden kann (Abb. 1.4).
Software-in-the-Loop Simulation (SiLS)
Die sogenannte „virtuelle Steuerung“ oder „simulierte Steuerung“ wird häufig als Synonym für eine auf dem Simulations-PC lauffähige Steuerungssoftware (d.h. PC Hardware und Standardbetriebssystem z. B. Windows) verwendet. Aus diesem Grund reduziert sich die Modellierung der Steuerung im Allgemeinen auf das Portieren der Steuerungssoftware auf eine entsprechende PC Hardware inkl. Betriebssystem. Die Kopplung der virtuellen Steuerung mit einem Simulationssystem wird im Folgenden als Software-in-the-Loop-Simulation (SiLS) bezeichnet.
Die SiLS findet bei der Antriebs- und Reglerauslegung sowie bei der Konstruktion und Optimierung der Maschinenstruktur Anwendung. Für Antriebshersteller bietet sich eine umfangreiche Entwicklungsplattform. Die Sollwerte aus der virtuellen Steuerung sowie die Störkräfte aus der Mechaniksimulation, die durch Maschinendynamik und Reibung entstehen, werden als Eingangsgrößen für die Antriebsregelung verwendet. Der Maschinenhersteller hingegen kann bei der Konstruktion der Maschinenstruktur die Antriebs- und Reglerdynamik mitberücksichtigen. Vor allem bei Maschinenkinematiken, deren Zusammenhang zwischen Werkzeugkoordinaten und den Achskoordinaten nichtlinear ist, gewinnt der Einsatz der gekoppelten Simulation zwischen Steuerung, Antriebsregelung und Mechanik immer mehr an Bedeutung.
Übergeordnetes Ziel des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projektes iViP [6] durchgeführten Teilprojektes „Simulation mechatronischer Systeme“ war die Entwicklung von Softwaremodulen zur Abbildung und Simulation mechatronischer Systeme. Dabei wurde am Institut für Werkzeugmaschinen und Betriebswissenschaften (IWB) der TU München eine virtuelle NC-Steuerung (VNC) zur Ankopplung an die Anlagensimulation mit AnySIM und an die Mechatronik-Simulation (Maschinenmechanik und Antriebsregelung) mit SimPACK und Matlab/Simulink eingesetzt. Die VNC ist eine Nachbildung der numerischen Steuerung SINUMERIK 840 D der Fa. Siemens unter Verwendung der original Steuerungssoftware. Die VNC arbeitet im Gegensatz zu einer realen Steuerung nicht im Echtzeitmaßstab sondern in einem virtuellen Zeitmaßstab, auf den das Verhalten der realen Steuerung zeitgenau abgebildet wird und somit AnySIM und SimPACK genügend Rechenzeit für Visualisierungs- und Berechnungsoperationen zwischen den Steuerungstakten zur Verfügung steht. In Abb. 1.5 ist der Aufbau der integrierten Simulationsumgebung dargestellt.
Die Anlagensimulation dient dabei als Plattform zur 3D-Visualisierung von Bewegungsabläufen, zur automatischen Kollisionskontrolle und zur automatischen Aktualisierung der Werkstückgeometrie während der Bearbeitungssimulation. Darüber hinaus übernimmt AnySIM die Synchronisation der einzelnen Komponenten der integrierten Simulationsumgebung. Die Mechatronik-Simulation besteht aus einer Kopplung zwischen dem Mehrkörpersimulationswerkzeug SimPACK mit Matlab/Simulink, wobei Matlab/Simulink die Berechnung der Antriebsregelung und die Kopplung zwischen der VNC und der Mechatronik-Simulation auf Basis der COM/DCOM-Technologie übernimmt.
Am Institut für Steuerungstechnik der Werkzeugmaschinen und Fertigungseinrichtungen (ISW) der Universität Stuttgart wurde ebenfalls eine SiLS realisiert. Für diese gekoppelte Simulationsumgebung kam eine PC-basierte Steuerungssoftware der Fa. Industrielle Steuerungstechnik GmbH (ISG) als virtuelle Steuerung zum Einsatz. Die Antriebsregelung wurde mit Matlab/Simulink, und die Maschinenmechanik als Mehrkörpermodell mit ADAMS realisiert (Abb. 1.6). Dabei wird die Steuerung über Matlab/Simulink an das Mehrkörpermodell über die Lage-Soll- und Istwerte und die Antriebskräfte der Linearmotoren gekoppelt. Ein Vorteil dieser Ausprägung ist die Skalierbarkeit der Modellierungskomplexität. Konstruktionsbegleitend können somit Maschinenmodell wie Regelungsmodell dem jeweiligen Simulationsziel angepasst werden. Gerade das Einbringen von diskreten Steifigkeiten/Dämpfungen in das Mehrkörpermodell erlaubt neben der Analyse der Starrkörperdynamik auch die Untersuchung von Gelenknachgiebigkeiten und den daraus resultierenden Schwingungseffekten. Durch Integration flexibler Körper in die Mehrkörpermodelle sind auch strukturdynamische Betrachtungen möglich [7].
Hardware-in-the-Loop Simulation (HiLS)
Im Gegensatz zur SiLS kommt bei der HiLS das reale Steuerungssystem einschließlich Hardware und Buskommunikation zum Einsatz. Dies setzt allerdings voraus, dass die Simulationsumgebung zeitsynchron zur Steuerung läuft und damit echtzeitfähig sein muss. Primäres Einsatzgebiet ist die simulationsbasierte Vorabinbetriebnahme des realen Steuerungssystems unter Berücksichtigung aller Laufzeiteffekte, um Entwicklungs- und Inbetriebnahmezeiten zu verkürzen. Neben dieser sogenannten Virtuellen Inbetriebnahme (VIBN) ergeben sich durch den Einsatz echtzeitfähiger HiL-Prototypen weitere Anwendungsfelder für die Schulung, Training, Aus- und Weiterbildung des Bedienpersonals.
Die damals am Markt verfügbaren Simulationssysteme boten keine Funktionalität, die neben einer einfachen Ankopplung an gängigen NC/PLC-Hardwarekomponenten unter Einbeziehung der jeweiligen Buskonfiguration auch die Modellierung des Systemverhaltens und die 3D-Visualisierung von Bewegungsfunktionen gleichermaßen berücksichtigten. So wurden an verschiedenen Instituten Prototypen für die HiLS entwickelt.
Am IWB der TU München wurde ein Prototyp einer Simulationsumgebung zur Simulation und Verifikation von Maschinenabläufen an virtuellen Maschinenmodellen erstellt. Das Maschinenmodell besteht aus zwei Komponenten: Einem Verhaltensmodell und einem Kinematikmodell. Über das Verhaltensmodell wird das Systemverhalten der Maschine nachgebildet und die Kopplung mit der Maschinensteuerung realisiert. Das Kinematikmodell ermöglicht eine anschauliche dreidimensionale Visualisierung der Bewegungsabläufe [8] (Abb. 1.7).
Ziel dieser Anwendung war das frühzeitige Testen von Steuerungssoftwarefunktionalitäten, um steuerungstechnische sowie konstruktive Fehler frühzeitig zu erkennen und zu beseitigen. Tests von Störungssituationen, die an der realen Maschine nur schwierig nachzustellen sind, steigern die Softwarequalität zusätzlich.
Der Schwerpunkt der Arbeiten am ISW der Universität Stuttgart lag auf der Methodik, effiziente und zeitdeterministische Modelle zur Berechnung der Maschinendynamik in Echtzeit für die HiLS bereitzustellen. Dabei wurden neue Algorithmen auf der Basis von Mehrkörpermodellen entworfen. Diesbezüglich wurde ein HiL-Prototyp einer Werkzeugmaschine mit Parallelkinematik für die Fünfachsbearbeitung erstellt. In Abb. 1.8 ist der Aufbau des HiL-Prototyps dargestellt. Die NC-Steuerung der Fa. Industrielle Steuerungstechnik GmbH (ISG), ist über den Sercos-Interface Antriebsbus mit einem Standard-PC verbunden. Über eine I/O-Einsteckkarte und dem entsprechenden Antriebsbus-Treiber werden die Sollwerte der Steuerung einmal pro Taktzyklus (2 ms) vom Antriebsbus eingelesen und die Istwerte des Modells auf diesen zurückgeschrieben. Der Simulationskern ist über eine Echtzeitschnittstelle mit dem Antriebsbus-Treiber verbunden und wird darüber auch getaktet. Der Simulationskern und das Modell laufen auf einem Windows RTX-Echtzeitbetriebssystem (RT-OS) [9].
Während der Laufzeit der HiLS können sämtliche Zustandsgrößen des Modells aufgezeichnet werden, um daran nach Abschluss der Simulation Analysen durchzuführen. Die Ergebnisse des HiL-Prototypen deckten sich mit den Messungen, die zur Verifikation des Modells an der realen Maschine durchgeführt wurden. In Abb. 1.9 (links) sind die Aufzeichnungen der berechneten Stromverläufe im Vergleich mit den Stromverläufen eines Antriebes der realen Maschine dargestellt.
Wird die HiL-Simulation nicht auf einem Echtzeitbetriebssystem ausgeführt, führt dies zu variierenden Antwortzeiten der HiL-Simulation. Echtzeitmessungen zeigten, dass bei dem HiL-Prototypen ein Echtzeitfaktor (EZF) von 1 auf dem Echtzeitbetriebssystem Windows-RTX im Gegensatz zur Simulation auf Windows NT (Win32) erzielt wurde (Abb. 1.9 rechts). Die Rechnerauslastung bei der Simulation des HiL-Prototypen auf einem Standard-PC mit Pentium IV Prozessor (1.7 GHz) von im Mittel 11 % (ohne Visualisierung) zeigte zudem, dass mit den am ISW entwickelten Methoden noch deutlich Potential für eine Steigerung der Modellkomplexität oder eine Verringerung des NC-Taktes möglich war.
Ziel dieser Anwendung war es, dem Inbetriebnehmer die Möglichkeit zu geben, NC-Dynamikparameter sowie Reglerparameter unter Berücksichtigung der Maschinendynamik voreinzustellen. Zudem konnten unter Verwendung der realen Steuerung NC/PLC-Programme vorab eingefahren werden, ohne der Gefahr einer Maschinenkollision ausgesetzt zu sein. Die Ermittlung von Bearbeitungszeiten konnte realitätsnah durch den Einsatz des HiLS ermittelt werden.
Zur Analyse wurden von der HiLS berechnete Zustandsgrößen in farblichen Abstufungen über dem zu fertigenden Werkstück aufgetragen. Dies ermöglichte beispielsweise die Identifikation kritischer Zonen auf der Werkstückoberfläche (Abb. 1.10).
Integration von Maschinenmodellen in eine NC-Steuerung
Ein weiteres Anwendungsgebiet war die Integration von Maschinenmodellen in eine Steuerung, um die dynamischen Eigenschaften der Maschine bei der Erzeugung von Sollwerten zu berücksichtigen (Abb. 1.11). Das noch zur Verfügung stehende Lastpotential der Antriebe konnte somit in der Steuerung vorausberechnet werden, um durch Optimierung der Sollwerte ein Überlasten der Antriebe zu vermeiden und dabei die Antriebe optimal auszunutzen mit dem Ziel eine maschinengerechte Sollwertgenerierung [10] zu ermöglichen.

1.5 Zusammenfassung (anno 2003)

Auch wenn nur die reale Werkzeugmaschine tatsächlich produzieren kann, so konnte durch die in diesem Beitrag dargestellten Beispiele doch gezeigt werden, dass die Entwicklung und die Anwendung von Werkzeugmaschinen durch „virtuelle Werkzeugmaschinen“ optimiert werden können. Die zahlreichen Diskussionen, die im Umfeld der „virtuellen Werkzeugmaschine“ im Gange sind, zeigen, dass die Nachfrage der Industrie zu diesem Thema noch lange nicht befriedigend beantwortet ist. Die Forschungsaktivitäten auf diesem Gebiet zeigen aber auch, dass Industrie und Wissenschaft gemeinsam auf dem richtigen Weg sind: Auf dem Weg zur virtuellen Produktion mit virtuellen Werkzeugmaschinen!
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Literatur
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Die simulierte Werkzeugmaschine, ein Rückblick
verfasst von
Günter Pritschow†
Alexander Verl
Sascha Röck
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Copyright-Jahr
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https://doi.org/10.1007/978-3-662-66217-5_1

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