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2009 | Buch

Die Verfassung Europas

Perspektiven des Integrationsprojekts

herausgegeben von: Frank Decker, Marcus Höreth

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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Inhaltsverzeichnis

Frontmatter

Europas krisengeschüttelte Verfassung — eine Einführung

De. Europas krisengeschüttelte Verfassung — eine Einführung
Auszug
„Wir haben eine gute Verfassung, aber sind wir auch in einer guten Verfassung?“ - hat Bundespräsident Richard von Weizsäcker bezogen auf das Grundgesetz und die Bundesrepublik Deutschland einmal gefragt. Für Europa und die Europäische Union könnte man dieselbe Frage aufwerfen. Der Doppelsinn von Verfassung ist hier bewusst gewählt: Die EU hat eine Verfassung, die in den europäischen Verträgen niedergelegt ist, auch wenn sie den Begriff Verfassung dafür (noch) nicht verwenden will. Man mag geteilter Auffassung sein, ob diese Verfassung eine „gute Ordnung“ etabliert, wie man sich dies von normativen Grundordnungen gemeinhin erhofft. In der Vergangenheit haben die Verträge immerhin die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft sichergestellt und zu bedeutenden Integrationsfortschritten beigetragen. Auch der Lissabon-Vertrag dürfte in dieser Hinsicht besser sein als sein Ruf. Gewiss war er eine im wahrsten Sinne des Wortes schwere Geburt und enttäuschte viele Erwartungen, welche man in den Verfassungsprozess ursprünglich gesetzt hatte. Dennoch schafft er eine Grundlage, auf der das europäische Institutionensystem weiterarbeiten und womöglich zu neuen Ufern aufbrechen kann.
Frank Decker, Marcus Höreth

Wege in und aus der Krise

Frontmatter
De. Von Rom nach Lissabon. Die europäische Perspektive
Auszug
Vor fünfzig Jahren, am 1. Januar 1958, traten für die sechs Gründerstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft - Belgien, Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und Niederlande - die Römischen Verträge in Kraft. Dieses Jubiläum steht für fünfzig Jahre Frieden, Stabilität, Wohlstand und Fortschritt und symbolisiert eine Perspektive, von der frühere Generationen nur träumen konnten. Bedenkt man, dass die Menschen Europas über Jahrhunderte die Hoffnung nach einem geeinten, friedlichen und freien Europa gehegt haben, diese jedoch immer wieder durch Kriege enttäuscht wurde, ist die Entwicklung der vergangenen fünfzig Jahre, in der die Hoffnung auf Frieden und Verständigung endlich erfüllt wurde und sich die gemeinsamen europäischen Werte in der Europäischen Union niedergeschlagen haben, unbestreitbar ein beispielloser und ungeahnter Erfolg.
Hans-Gert Pöttering
De. Europäische Integrationserfahrungen: Periodisierungen und Begründungswandel
Auszug
über Jahrhunderte war das europäische Staatensystem geprägt durch Machtrivalitäten und die Suche nach deren Ausgleich. Machtambitionen zogen mit den europäischen Führungsmächten bis „ans Ende der Welt“: Nach kriegerischen Handlungen wechselte beispielsweise die karibische Insel St. Lucia im 18. Jahrhundert vierzehn Mal den Besitzer zwischen Großbritannien und Frankreich. Der Wiener Kongress suchte in das Europäische Staatensystem ein Ruhekorsett einzuziehen. Mühsam überdauerte die ihm zugrunde liegende Vorstellung eines Machtgleichgewichts das 19. Jahrhundert. Nationalistische übersteigerungen wurden im 20. Jahrhundert ideologisch begründet und schlugen in zwei brutalen und verlustreichen europäischen Bürgerkriegen in Form der Selbstzerstörung Europas auf alle Völker des Kontinents zurück. Aus Europa wurde das alte Europa. Kollektive Sicherheitsvorstellungen, wie sie der Friedensordnung von Paris 1919 zugrunde lagen, trugen nicht angesichts anhaltender territorialer Dispute und ideologischer Gegensätze. Europa wurde nicht „sicher für die Demokratie“, so wie es der amerikanische Präsident Wilson als Losung einer neuen Zeit ausgegeben hatte. Europa wurde auch nicht sicher gegeneinander, in der Abgrenzung gegenüber dem Feind, dem Triumph des Siegers und der Revanchementalität des Verlierers. Europa am Boden zerstört - das war die Essenz der Krise, die 1945 zur schrittweisen Revision des Bildes der Europäer von der Ordnung ihres Kontinents führte (Bracher 1993, Hitchcock 2004).
Ludger Kühnhardt
De. Spielarten des Euroskeptizismus
Auszug
Die Europäische Union und der europäische Integrationsprozess werden zunehmend skeptisch beurteilt. Nachdem die politische Unterstützung der EU auf Seiten der Bürger zwischen 1981 und 1991 beständig und stark angestiegen ist, hat sie in der ersten Hälfte der neunziger Jahre einen dramatischen Niedergang erfahren und liegt nunmehr auf dem Niveau der ersten Hälfte der achtziger Jahre. Wie dramatisch die Entwicklung ist, lässt sich anhand einiger wichtiger Indikatoren zeigen. Erstens ist im Saldo von Befürwortern und Gegnern die Unterstützung der EU-Mitgliedschaft als gute Sache zwischen 1990 und 2004 in den Mitgliedsländern um durchschnittlich 30 Prozentpunkte zurückgegangen. Zweitens war 1990 der Anteil derjenigen, die es bedauern würden, wenn die EU aufgelöst werden würde, um 40 Prozent größer als der Anteil derjenigen, die dies nicht bedauern würden. Im Jahre 2001 war dieser Abstand auf 13 Prozent geschrumpft. Drittens überwog 1990 der Anteil der EU-Bürger, die meinten, dass ihr jeweiliges Land von der EU-Mitgliedschaft profitiert hätte, den Anteil derjenigen, die dies verneinten, um 35 Prozentpunkte, 2004 waren es nur noch 12 Prozentpunkte. 1 Diese Entwicklung ist als „Post-Maastricht Blues“ in die Literatur eingegangen (Eichenberg/Dalton 2007). Die starke Zunahme der politischen Kompetenzen der EU und die im Alltagsleben zunehmend spürbare Wirkung politischer Entscheidungen auf EU-Ebene haben dazu beigetragen, dass die Bürger nicht nur Chancen, sondern auch Risiken im Integrationsprozess sehen. Die Quellen derartiger Wahrnehmungen sind unterschiedlicher Natur und reichen von wirtschaftlichen und kulturellen bis hin zu demokratietheoretischen Erwägungen. Wie auch immer die Perspektive, aus der heraus die EU betrachtet wird - die Legitimationsabhängigkeit des politischen Systems der EU wird größer. Der vielfach in der (massenmedialen) Öffentlichkeit angesprochene und in den Sozialwissenschaften diskutierte Euroskeptizismus könnte den Fortgang des Integrationsprozesses bremsen. Zwar galt die öffentliche Meinung lange Zeit als permissiv unterstützend oder als stumpfes Schwert (Sinnott 1990). Die Abstimmungsniederlagen über die EU-Verfassung in Frankreich, den Niederlanden und Irland haben aber gezeigt, dass Euroskepsis massive Auswirkungen auf die Entwicklung der EU nehmen kann.
Bernhard Weßels
De. Eine dauerhafte Verfassung für Europa? Die Beantwortung konstitutioneller Grundfragen durch den Vertrag von Lissabon
Auszug
Am 13. Dezember 2007 hat der Europäische Rat als konstitutioneller Architekt - nach mehrjährigem Vorlauf und mehr als halbjähriger konkreter Vorbereitungszeit — einen weiteren Meilenstein in der Geschichte der konstitutionellen Systemgestaltung der europäischen Integrationskonstruktion gesetzt. Ausgehend von der „Berliner Erklärung“ vom 25. März 2007 über die Verabschiedung eines Mandats für eine Regierungskonferenz (Europäischer Rat 2007a) gelang im Oktober die politische Einigung über einen „Reformvertrag “, der schließlich im Dezember unterzeichnet wurde (Goosmann 2007). Das Dokument, das als „Vertrag von Lissabon“ in die Annalen der Integrationsgeschichte eingehen wird, kennzeichnet den gegenwärtigen Stand der Beantwortung konstitutioneller Grundfragen der europäischen Integration von Seiten der Regierungen der Mitgliedstaaten. Ungeachtet seines konkreten Schicksals im Ratifikationsprozess, das nach dem Ausgang des irischen Referendums vom 12. Juni 2008 ungewiss ist, können wir diesen Vertrag somit als eine weitere Stufe in einem - seit Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte — zwei Jahrzehnte währenden Prozess einstufen, die Union „demokratischer, transparenter und effizienter“ (Europäischer Rat 2001) zu gestalten. Oder wie es die Staats- und Regierungschefs zuletzt formulierten: „Um auch in Zukunft eine aktive Rolle in einer sich rasch verändernden Welt und im Hinblick auf die ständig wachsenden Herausforderungen spielen zu können, müssen wir die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union und ihre Rechenschaftspflicht gegenüber dem Bürger bewahren und weiterentwickeln“ (Europäischer Rat 2007c: Ziffer 2).
Andreas Hofmann, Wolfgang Wessels

Institutionen und europäisches Regieren

Frontmatter
De. Jenseits des Regulationsstaates. Warum die Europäische Union mehr politischen Wettbewerb braucht
Auszug
Endlich ein wenig Politik in der EU! Jahrzehntelang kam es den politischen Föhrern Europas gelegen so zu tun, als gebe es in Brüssel keine Politik. Entweder wollten sie nicht zugeben, dass sie in den politischen Debatten manchmal auf der Verliererseite standen, oder sie befürchteten, dass bestimmte Diskussionen die Unterstützung der EU weiter untergraben würden. Nachdem jedoch der Verfassungsprozess ins Stocken geraten ist, scheinen sich die Fronten zu klären: Auf der einen Seite stehen die sogenannten „Neoliberalen“, die vom Präsidenten der Kommission, José Manuel Barroso, angeführt werden. Sie werden von einigen Schwergewichten in der Kommission, einem Teil der im Europäischen Rat versammelten nationalen Regierungen und der größten Fraktion im EP - der Europäischen Volkspartei unterstötzt. Auf der anderen Seite befinden sich die Protagonisten eines „sozialen“ Europas, die von den beiden politischen Lagern in Frankreich repräsentiert werden. Diese finden Rückhalt bei einer Minderheit der Kommissionsmitglieder, einer oder zwei Regierungen im Rat, den meisten Sozialisten und Grünen im EP sowie den organisierten Arbeitnehmerinteressen.
Simon Hix
De. Parlamentarisch oder präsidentiell? Die Europäische Union auf der Suche nach der geeigneten Regierungsform Die
Auszug
Dass sich die Europäische Union mit der Demokratie nicht gerade leicht tut, gehört als Erkenntnis inzwischen zum Kanon der Europaforschung. Entsprechend fällt es auch der Politikwissenschaft schwer, die EU in demokratietheoretischen Kategorien zu analysieren bzw. allgemeingültige Urteile über die Lage und Notwendigkeit der Demokratie auf europäischer Ebene abzugeben. Dies steht mit vier wesentlichen, miteinander verquickten Faktoren in Zusammenhang: (1) der funktionalen und strukturellen Ambivalenz dieses sui generis-Gebildes, (2) der damit einhergehenden Unsicherheit bezüglich der geeigneten Kriterien zur Bewertung der Demokratiequalität europäischen Regierens, (3) den daraus resultierenden Meinungsverschiedenheiten, welches Demokratisierungsmodell für die EU am besten geeignet ist, und (4) der weiter bestehenden Uneinigkeit in der Frage, ob die EU aufgrund ihres eigentümlichen Charakters überhaupt demokratisiert werden kann bzw. soll. Gerade ihr präzedenzloser Charakter macht wiederum die Analyse und Bewertung der demokratischen Legitimation in der Europäischen Union zu einem schwierigen, wenn nicht sogar hoffnungslosen Unterfangen (Lord 2001).
Frank Decker, Jared Sonnicksen
De. Der Europäische Gerichtshof: Verfassungsgericht oder nur ein „Agent“ der Mitgliedstaaten? Marcus Höreth
Auszug
Die in den letzten Jahren intensiv geführte Diskussion um eine europäische Verfassung erweckte oft den Eindruck, als würde es der EU einer konstitutionellen Grundlage ermangeln, die ihr nun „endlich“ gegeben werden sollte. Dabei wird unterschlagen, dass die EU im Grunde schon längst eine Verfassung besitzt und ihr gerade in punkto Rechts- und Verfassungsstaatlichkeit kaum Defizite vorzuwerfen sind (Rittberger / Schimmelfennig 2006). Diese Entwicklung ist maßgeblich auf den Europäischen Gerichtshof (EuGH) zurückzuführen, der schon sehr früh begonnen hat, die Konstitutionalisierung der europäischen Verträge voranzutreiben. In diesem Sinne hat der EuGH seitdem als echtes Verfassungsgericht gewirkt, weil er auf dieser Basis Gesetze und Verfassungsbestimmungen der Mitgliedstaaten mittels selbst gesetzter europaverfassungsrechtlicher Maßstäbe überprüfen und gegebenenfalls verwerfen konnte. Dennoch wird in der Politikwissenschaft noch immer die Auffassung vertreten, der EuGH sei lediglich ein „Agent“ der Mitgliedstaaten, der sich in seiner Rechtsprechung darauf beschränkt, den politischen Willen der mächtigsten EU-Mitgliedstaaten richterrechtlich zu konkretisieren. In diesem Beitrag wird diese Theorie auf den Prüfstand gestellt. Hierzu werden zunächst einige wichtige Verfassungsentscheidungen des EuGH vorgestellt, die illustrieren, wie stark die Rechtsprechung des EuGH die Gemeinschaft konstitutionell geprägt hat (2). Anschließend gehe ich der Frage nach, warum die Mitgliedstaaten dem EuGH überhaupt ein derart weit reichendes Rechtsprechungsmandat erteilt haben (3). Abschließend überprüfe ich die Prämisse der Agenturtheorie, wonach die mitgliedstaatlichen Regierungen dieses Mandat jederzeit zurückziehen könnten, wenn sie denn nur wollten. Dabei wird zu zeigen sein, dass die relative Macht des EuGH in der relativen Ohnmacht der Mitgliedstaaten als zusammengesetzter Prinzipal begründet liegt. Diese kön nen der Selbstautorisierung des EuGH als Verfassungsgericht im gewaltenteiligen System der EU nur wenig entgegensetzen (4).
Marcus Höreth
De. Die Europäisierung der Steuerpolitik
Auszug
Geld regiert die Welt, was umgekehrt bedeutet, dass man Geld braucht, um regieren zu können. Laut Joseph Schumpeter, einem der Ahnväter der modernen Finanzsoziologie, ist das Steuersystem von erheblicher kausaler und symptomatischer Bedeutung für den Staat, denn was der Staat ist, was er kann und was er seinem Anspruch nach sein möchte, hängt wesentlich davon ab, wie und wie viel Geld er mobilisiert (Schumpeter 1918). Deshalb, so Schumpeter weiter, eröffnet die Steuer- und Finanzpolitik einen der besten Ansatzpunkte zur Analyse politischer Institutionen. Dies gelte insbesondere für Zeiten historischer Umbrüche, in denen alte institutionelle Formen absterben und neue sich entwickeln, denn das Absterben des Alten und der Charakter des Neuen finde regelmäßig in veränderten Finanzstrukturen seinen Niederschlag und oft auch seine Ursache.
Philipp Genschel

Demokratie und Identität

Frontmatter
De. Lässt sich die Europäische Union demokratisch verfassen?
Auszug
Sozialwissenschaftler, die sich als Zeitdiagnostiker betätigen, reden gern von Krisen. Das macht sie und ihre Diagnosen interessanter. Vielleicht ist es deshalb klüger, nicht mit dem Satz zu beginnen, die Europäische Union sei in eine Akzeptanzkrise geraten. Aber dass von Enthusiasmus für das europäische Projekt kaum noch etwas zu spüren ist, dass es viel Misstrauen, jedenfalls Zurückhaltung gegenüber diesem Projekt gibt — und zwar in fast allen Ländern der Gemeinschaft, das ist nicht zu übersehen. Das Scheitern des Verfassungsentwurfs in den Volksentscheiden in Frankreich und den Niederlanden im Frühsommer 2005 hat es dramatisch sichtbar gemacht. Das „Nein“ zum Vertrag von Lissabon drei Jahre später in Irland, dem Land, das als einziges unter den Mitgliedstaaten das Volk über den Vertrag entscheiden ließ, hat es bekräftigt. Und die Befunde der Demoskopie — die Daten des Eurobarometers beispielsweise — bestätigen es: Es sind in den meisten Ländern, wenn überhaupt, nur knappe Mehrheiten, die die Mitgliedschaft ihres Landes in der EU vorbehaltlos positiv einschätzen.
Peter GrafKielmansegg
De. Europäische Identität als politisches Projekt
Auszug
Wie für jedes andere politische Gemeinwesen auch, so ist für die Europäische Union ein ausreichend ausgebildeter Sinn gemeinsamer Bürgeridentität eine notwendige Bedingung sowohl für die Legitimität ihres politischen Handelns wie auch für die Solidarität ihrer Bürger. Obgleich die EU kein Staat in dem selben Sinne ist wie die modernen Nationalstaaten und dies wohl auch nicht werden wird, kann kein Zweifel darüber bestehen, dass sie eine Reihe der wichtigsten Merkmale von Staatlichkeit teilt, insbesondere eine Form der staatsähnlichen Institutionalisierung mit demokratisch legitimierten Souveränitätsrechten in definierten politischen Entscheidungsbereichen. Es spricht viel dafür, die EU als einen neuartigen Typ des „Regionalstaates“ zu bezeichnen, wie es von (2006) plausibel begründet wurde. Es gibt gleichwohl einen weitreichenden Konsens sowohl in den akademischen wie den politischen Debatten, dass die EU heute weit davon entfernt ist, sich auf ein ausreichendes Maß politischer Bürgeridentität stützen zu können. Eine politische Identität der EU als Gemeinwesen ist erst in Ansätzen ausgebildet und noch nicht in der Lage, die wesentlichen Funktionen zu erfüllen, die ihr zukommen. Dieses häufig beklagte Defizit ist eine der Hauptursachen für die gegenwärtige politische Vertrauenskrise in der Union und eines der Haupthindernisse für weitere Integrationsfortschritte. Diese Krise hat sich im Laufe des Ratifizierungsprozesses der europäischen Verfassung in zwei Dimensionen entfaltet, als Krise der Identität des politischen Projektes der EU und, darauf bezogen, als Krise des politischen Bürgerbewusstseins der Menschen, die ihr zugehören.
Thomas Meyer
De. Europäische Nation? Die Grenzen der politischen Einheitsbildung Europas
Auszug
„Europäische Nation?“ — Fragezeichen. Das Fragezeichen reicht nicht aus, um das Frag-Würdige und Frag-Bedürftige des Themas auszuloten. Denn hier geht es nicht um eine Frage, die sich einfach mit Ja oder Nein beantworten ließe. Der Begriff der Nation versteht sich ebenso wenig von selbst wie der Begriff des Europäischen. Für letzteren gilt das auch dann, wenn man — gedankenlosem Sprachgebrauch folgend -, sich die Antwort dadurch erleichtert, dass das Europäische in eins gesetzt wird mit der Europäischen Union (EU). An sich müssen beide streng unterschieden werden. Denn die EU deckt die geographische Reichweite des europäischen Kontinents nicht ab, strebt aber darüber hinaus; vollends hat sie wenig gemein mit jener Substanz, die Europa als Kontinent des Geistes konstituiert.
Josf Isensee
De. Was hält Europa zusammen? Die Europäische Union zwischen Erweiterung und Vertiefung
Auszug
Als am 23. Juni 2007 die letzte Woche der deutschen Ratspräsidentschaft begann, konnten die Freunde Europas erleichtert aufatmen: Die Krise um den gescheiterten europäischen Verfassungsvertrag schien beendet; auf die Eckpunkte der Ersatzlösung, ob sie nun „Reformvertrag“ oder „Grundlagenvertrag“ oder anders genannt werden würde, hatten sich die Regierungschefs der 27 Mitgliedstaaten soeben in Brüssel verständigt. Weit am wichtigsten waren das Prinzip der doppelten Mehrheit, also einer qualifizierten Mehrheit der Staaten und der Bevölkerung im Rat und damit die Erleichterung von Mehrheitsentscheidungen, sodann eine effektivere Regelung der Präsidentschaft und die Erweiterung der Rechte des Europäischen Parlaments.1 Etwas kam in den überwiegend positiven Kommentaren aber zu kurz: Nur selten war die Rede von den tieferen Gründen der bisher schwersten Krise der Europäischen Union.
Heinrich August Winkler

Perspektiven des Supranationalismus

Frontmatter
De. Europäismus. Warum die Europäische Union demokratisiert werden muss und eine gemeinschaftliche Außenpolitik braucht
Auszug
In der offiziellen Nomenklatur der Europäischen Union wird #x201E;Europa“ er EU stets gleichgesetzt. Diese Praxis hat eine lange Tradition, die allerdings bereits während des Kalten Krieges nicht immer eine positive Wirkung zeitigte. Denn sie grenzte in den Köpfen der Westeuropäer nicht nur die im Osten des Kontinents herrschenden Kommunisten, sondern auch die von ihnen regierten Völker von Europa ab (während die westlichen Kommunisten und sonstigen Anhänger des roten Totalitarismus wie selbstverständlich als „Europäer“ wahrgenommen wurden). Hinzu kommt, dass der Kommunismus und der Sozialismus als Ideen und Bewegungen keineswegs asiatische bzw. sÜdamerikanische Erfindungen darstellen, sondern vielmehr originär europäische — vorzugsweise deutsche, französische und später russische — „Exportprodukte“ sind. Der andauernden Vereinnahmung Europas durch die vormaligen EG- und heutigen EU-Mitglieder liegen freilich weniger politische Absichten als vielmehr das Unwissen Über Europa zugrunde. Nach wie vor haben die meisten EU-Europäer keine angemessene Vorstellung davon, was unter Europa zu verstehen ist. Deshalb nehmen sie etwas voreilig an, dass einzig sie „Europa“ darstellen und als Begriff definieren können.
Jerzy Maćków
De. Ein Gebilde sui generis? Die Debatte um das Wesen der Europäischen Union im Spiegel der „Nature of the Union“-Kontroverse in den USA
Auszug
In den mehr als fünfzig Jahren seit Unterzeichnung der „Römischen Verträge“ hat sich die europäische Integration in erstaunlichem Tempo und Umfang vollzogen. Gleichwohl bleiben die zwei essenziellen Grundfragen, welche sich seit dem Beginn des europäischen Einigungsprozesses stellen, nach wie vor unbeantwortet. Es handelt sich zum einen um die Frage nach dem „Wesen der Europäischen Union“, zum anderen um die Frage der Finalität der europäischen Integration. Die vielfältigen Charakterisierungen von Ursprung, Status quo und Ziel der EU bewegen sich zwischen den Gegensätzen des Intergouvernementalismus (mit dem Ziel Staatenbund) und der Supranationalität (mit dem Leitbild des Bundesstaates) und allen nur denkbaren Zwischenstufen, etwa der vom deutschen Bundesverfassungsgericht verwendeten Wortschöpfung des „supranationalen Staatenverbunds“ (BVerfG 1993: 155 ff.). Daneben stehen sich herkömmlichen Einordnungen entziehende Beschreibungen, wie etwa die aus der Politikwissenschaft stammende Charakterisierung der EU als „Mehrebenensystem“ sowie die Negierung jeglicher Vergleichbarkeit der EU und — daraus folgend — ihre Kennzeichnung als „Gebilde sui generis“ (Bogdandy 1993: 120).
Dennis-Jonathan Mann
De. Das differenzierte Europa. Königsweg oder Sackgasse der Integration?
Auszug
Mehr als jemals zuvor benötigt die Europäische Union (EU) unterschiedliche Geschwindigkeiten. Die zunehmende Divergenz der Interessen, die wachsende ökonomische, finanzielle, soziale und geopolitische Heterogenität, unterschiedliche politische Zielvorstellungen und Erwartungen hinsichtlich der Fortentwicklung des Integrationsprozesses in einer EU 27+ sowie die Notwendigkeit, auf den Druck von Drittstaaten zu reagieren, die sich auch in Zeiten der Erweiterungsmüdigkeit dem europäischen Club weiter annähern wollen, erfordern ein höheres Maß differenzierter Integration.
Janis A. Emmanouilidis
De. Nach dem Nein der Iren Eine Kontroverse zwischen Jürgen Habermas und Günter Verheugen
Auszug
… und Günter Verheugen Die Bauern ärgern sich über sinkende Weltmarktpreise und immer neue Vorschriften aus Brüssel. „Die unten“ ärgern sich über die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, erst recht in einem Land, wo die Leute nachbarschaftlich zusammenlebten. Die Bürger verachten die eigenen Politiker, die vieles versprechen, aber ohne Perspektive sind und nichts mehr bewegen (können). Und dann dieses Referendum über einen Vertrag, der zu kompliziert ist, um ihn verstehen zu können. Von der EU-Mitgliedschaft hat man mehr oder weniger profitiert. Warum soll sich dann etwas ändern? Bedeutet nicht jede Stärkung der europäischen Institutionen die Schwächung von demokratischen Stimmen, die doch nur im nationalstaatlichen Raum gehört werden?
Ein Lob den Iren, Jürgen Von Habermas
Backmatter
Metadaten
Titel
Die Verfassung Europas
herausgegeben von
Frank Decker
Marcus Höreth
Copyright-Jahr
2009
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-531-91336-0
Print ISBN
978-3-531-15969-0
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-531-91336-0