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Open Access 2021 | OriginalPaper | Buchkapitel

7. Digitalisierung und Arbeitsorganisation

Wie Assistenzsysteme Gruppenarbeit stärken können (TeamWork 4.0)

verfasst von : Hajo Holst, Joachim Metternich, Martin Schwarz-Kocher, Thomas Ardelt, Hendrik Brunsen, Yannick Kalff, Nadine Kleine, Yalcin Kutlu, Alyssa Meißner, Marvin Müller, Steffen Niehoff, Bettina Seibold, Robert Sinopoli

Erschienen in: Arbeit in der digitalisierten Welt

Verlag: Springer Berlin Heidelberg

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Zusammenfassung

TeamWork 4.0 beschäftigt sich mit der Einführung von digitalen Assistenzsystemen und ihren Rückwirkungen auf industrielle Gruppen- und Teamarbeit. Die in den Verbundunternehmen entwickelten und erprobten Assistenzsysteme adressieren jeweils Shopfloor-Herausforderungen, die in industriellen KMU weit verbreitet sind: Das bei der Mahr GmbH entwickelte digitale Dokumentationssystem macht die aus der kundenindividuellen Maschinenfertigung erwachsende Komplexität an Dokumentationen beherrschbar, die bei der Homag AG entwickelte KVP-App erleichtert die Beteiligung der Mitarbeitenden an Verbesserungsprozessen und das bei der Voith AG eingeführte Shopfloor Management-System erhöht die Transparenz von Problemlösungen. Der von TeamWork 4.0 verfolgte beteiligungsorientierte Ansatz stellt sicher, dass die Assistenzsysteme in der Belegschaft über eine hohe Akzeptanz verfügen und die Weiterentwicklung der bestehenden Gruppen- und Teamarbeit unterstützen.
In den öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussionen über die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie und die Zukunft von Produktionsarbeit nimmt die Digitalisierung seit einigen Jahren eine zentrale Rolle ein. Leitbilder wie „Industrie 4.0“ oder „Smart Factory“ versprechen hoch flexible und effiziente Produktionsprozesse, die Kundenindividualisierung mit den wirtschaftlichen Vorteilen der Massenproduktion verbinden [1]. Unter der Überschrift der „vierten industriellen Revolution“ wurde der Weg in die digitale Zukunft zunächst vorwiegend als radikaler Technologiesprung konzipiert, der insbesondere kleinere und mittlere Unternehmen (KMU) vor erhebliche Herausforderungen stellt – und zwar von der Fähigkeit, eine an das Unternehmen angepasste Digitalisierungsstrategie zu formulieren, über die Kompetenzen, neue Technologien bewerten zu können, bis hin zum hohen Investitionsbedarf. Daneben hat sich in der jüngeren Vergangenheit eine zweite Diskussionslinie etabliert, die die Digitalisierung der industriellen Produktion als inkrementellen Veränderungsprozess betrachtet [2]. Technologiesprünge im engeren Sinne sind – das zeigt die empirische Realität – selten. Außerhalb von Greenfield-Betrieben vollzieht sich die Digitalisierung in den allermeisten Fällen eher in Form der Einführung neuer Maschinen, Devices, Applikationen oder Assistenzsysteme in bestehende Produktionssysteme und Arbeitsorganisationen.
Nimmt die Digitalisierung die Form einer schrittweisen Weiterentwicklung von Produktionssystemen und Arbeitsorganisationen an, dann gewinnen zwei Aspekte an Bedeutung: erstens die Wechselwirkungen mit anderen Elementen der bestehenden Produktionssysteme und Arbeitsorganisationen und zweitens die Akzeptanz der neuen Technologien in der Belegschaft. (1) Neue Maschinen, Devices, Applikationen oder Assistenzsysteme werden in der Regel eingeführt, um spezifische Herausforderungen auf dem Shopfloor zu adressieren. Dabei kann es jedoch zu unerwarteten Wechselwirkungen mit anderen Elementen der Arbeitsorganisation und des Produktionssystems kommen. Aus diesem Grunde ist es wichtig, die Effekte der neuen Technologien in einer ganzheitlichen Perspektive zu betrachten [3]. (2) Die Akzeptanz digitaler Technologien in der Belegschaft ist eine zentrale Ressource für den Erfolg von Einführungsprozessen. Sind Mitarbeitende skeptisch gegenüber den neuen Maschinen, Devices, Applikationen oder Assistenzsystemen oder sind sogar diffuse Ängste oder konkrete Befürchtungen über negative Auswirkungen des technischen Wandels vorhanden, drohen die erhofften positiven Effekte der Digitalisierung auszubleiben.
An diesen beiden Punkten setzte der F&E-Verbund TeamWork 4.0 an [4]. Am Beispiel von drei Use Cases – einem digitalen Shopfloor Management, einem digitalen Dokumentationssystem und einer KVP-App – beschäftigten sich die Verbundpartner:innen mit den Wechselwirkungen zwischen der Einführung digitaler Assistenzsysteme und der Arbeitsorganisation. Den beteiligten Unternehmen war es wichtig, die Vorteile der Digitalisierung zu nutzen, ohne die Stärken der bestehenden Gruppen- und Teamarbeit zu gefährden. Und mehr noch: Gruppen- und Teamarbeit gelten in der Arbeitsforschung als besonders lernförderliche Arbeitsorganisationen [5]. Im Rahmen von TeamWork 4.0 sollten die verschiedenen Formen der team- und gruppenförmigen Arbeitsorganisation zu einer Digitalisierungsressource entwickelt werden. Das explizite Ziel des Verbundes war, durch eine beteiligungsorientierte Gestaltung des Einführungsprozesses und dessen wissenschaftliche Begleitung sowohl die Akzeptanz des digitalen Assistenzsystems in der Belegschaft zu steigern als auch die Team- und Gruppenstrukturen in der Arbeitsorganisation weiterzuentwickeln. Wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise und mit unterschiedlichem thematischen Fokus – den im Rahmen von TeamWork 4.0 eingeführten Assistenzsystemen wohnt das Potenzial inne, die Kommunikation in und zwischen Teams zu verbessern, durch eine erhöhte Transparenz die Beteiligung der Mitarbeitenden an der Gestaltung und Verbesserung ihrer Arbeit zu erleichtern und damit letztlich auch die Fähigkeit der Gruppen zur Selbstorganisation zu erhöhen.
Ohne an dieser Stelle zu viel vorwegzunehmen: Die Verläufe der Einführungsprozesse in den drei Use Cases zeigen, dass die erhofften positiven Wechselwirkungen zwischen digitalen Assistenzsystemen und der Arbeitsorganisation durchaus eingetroffen sind. Wenn auch in unterschiedlichem Umfang und mit spezifischer Stoßrichtung: Die Einführung der digitalen Assistenzsysteme – insbesondere des Shopfloor Managements und des Dokumentationssystems – ging jeweils mit einer Stärkung der Gruppen und Teams in der Arbeitsorganisation einher. Zugleich ist aber auch deutlich geworden, dass sich die positiven Wechselwirkungen nicht von allein einstellen. Auch in den Belegschaften der Verbundunternehmen existierten zu Beginn des Vorhabens Befürchtungen über die Entwertung von Produktionsarbeit, zunehmenden Leistungsdruck, den Verlust von Arbeitsplätzen und eine Aushöhlung der Gruppen- und Teamkompetenzen. Durch die beteiligungsorientierte Gestaltung des Einführungsprozesses wurden diese Befürchtungen transparent gemacht und in die Veränderungsprozesse eingespeist. Indem die Mitarbeitenden und ihr praktisches Wissen über Arbeitsinhalte und -prozesse systematisch in die Einführungsprozesse der neuen Technologien – und zum Teil sogar in das Design der Systeme – eingebunden wurden [6], konnten Befürchtungen ausgeräumt oder zumindest relativiert und positive Effekte für Unternehmen und Mitarbeitende realisiert werden.
Der Beitrag gliedert sich wie folgt: Im ersten Schritt wird das Projektkonsortium und die Arbeitsteilung zwischen den Vorhabenspartner:innen vorgestellt. Im zweiten Schritt wird ein Blick auf die Digitalisierungsaktivitäten japanischer Automobilunternehmen geworfen, die im Rahmen eines internationalen Arbeitspaketes besucht wurden. Anschließend werden die drei Use Cases dargestellt und die Einführungsprozesse der Assistenzsysteme beleuchtet. Ausgangspunkt der Use Cases sind jeweils Herausforderungen, die in der deutschen Metall- und Elektroindustrie weit verbreitet sind.

7.1 Aufgabenverteilung im Konsortium

Das Konsortium von Teamwork 4.0 setzt sich aus drei Forschungseinrichtungen (Universität Osnabrück, Technische Universität Darmstadt, IMU Institut Stuttgart) und drei Unternehmen (Mahr GmbH, Homag AG, Voith AG) zusammen. Die Analyseperspektiven und Expertisen der Forschungseinrichtungen ergänzen sich: Die Universität Osnabrück (Arbeitsgruppe Prof. Dr. Hajo Holst), zugleich Koordinatorin von TeamWork 4.0, vertritt die sozialwissenschaftliche Arbeitsforschung und hat ihren Schwerpunkt in der Aufbereitung der Beschäftigtenperspektiven, organisationaler Veränderungsprozesse und der Weiterentwicklung der Gruppenarbeit [4]. Die Technische Universität Darmstadt (PTW, Arbeitsgruppe Prof. Dr. Joachim Metternich) gehört zu den führenden Maschinenbau-Instituten in Deutschland und hat in TeamWork 4.0 ihren Schwerpunkt in der Analyse der technischen Möglichkeiten sowie der (Weiter)-Entwicklung von digitalen Unterstützungslösungen [7, 8]. Das IMU Institut Stuttgart (Arbeitsgruppe Dr. Martin Schwarz-Kocher) verfügt über langjährige Forschungs- und Beratungsexpertise im Bereich der (ganzheitlichen) Produktionssysteme, der Gruppen- und Teamarbeit und beteiligungsorientierter Veränderungsprozesse. Die gemeinsame Expertise und die unterschiedlichen Kompetenzen der drei Forschungseinrichtungen erlauben eine systematische wissenschaftliche Begleitung der Einführung digitaler Assistenzsysteme in die bestehenden, von Lean-Prinzipien geprägten Produktions- und Arbeitssysteme der Unternehmen von TeamWork 4.0 [2, 3].
Die Unternehmen übernehmen als F&E-Partner:innen wichtige Aufgaben innerhalb des Verbundes. Zum einen führen sie jeweils ein digitales Assistenzsystem ein, das eine für industrielle KMU relevante Herausforderung adressiert. Zum anderen bringen die Unternehmen ihre Kompetenz und Erfahrung in der Gestaltung von Gruppen- und Teamarbeit ein. Bei der Mahr GmbH wurde von den F&E-Partner:innen gemeinsam ein digitales Dokumentationssystem entwickelt, das die aus der zunehmenden kundenindividuellen Maschinenfertigung erwachsende Komplexität an Spezifikationen, Anleitungen und Dokumenten beherrschbar macht. Angesichts des Trends zur kundenindividuellen Produktion im Maschinenbau und in der gesamten Metall- und Elektroindustrie verfügt ein auf dem Shopfloor gepflegtes digitales Dokumentationssystem über eine hohe Transferfähigkeit. Bei der Homag AG wurde im Rahmen von TeamWork 4.0 die Einführung einer KVP-App begleitet, die die Beteiligung am mitarbeitergetragenen kontinuierlichen Verbesserungsprozess erleichtern und die Herausbildung einer Gruppen- und Teamkultur der Prozessverbesserung unterstützen soll. Wie das Dokumentationssystem zielt auch die KVP-App auf die Bearbeitung einer weitverbreiteten Herausforderung: der Unterstützung der KVP-Beteiligung der Mitarbeitenden. Bei der Voith AG haben die F&E-Partner:innen ein digitales Shopfloor Management-System konzipiert und eingeführt, welches die Transparenz von Problemlösungen steigert und die Kommunikation zwischen den Teams in der Produktion verbessert.

7.2 Internationaler Vergleich: Gemba-Digitalisierung in Japan

In der internationalen Produktions- und Arbeitsforschung gilt Japan seit den 1990er Jahren als Vorreiterland. Das Toyota Produktionssystem (TPS) stellt bis heute den globalen Benchmark für Produktionssysteme von Industrieunternehmen dar; japanische Konzeptionen von Gruppen- und Teamarbeit gelten sowohl in der Arbeitswissenschaft als auch unter Praktiker:innen der Arbeitsgestaltung als besonders wirtschaftlich [9, 10]. Da zugleich die japanische Gesellschaft für ihre besondere Technikaffinität bekannt ist – sich in der Freizeit einen Roboter zu bauen, gehört zu den gesellschaftlich anerkannten Hobbys –, lag es für die an TeamWork 4.0 beteiligten Forschungseinrichtungen nahe, sich in einer Fallstudie die Wechselwirkungen zwischen der Einführung digitaler Systeme und der Arbeitsorganisation in japanischen Unternehmen anzuschauen. Gemeinsam mit drei japanischen Forschern – Prof. Dr. Katsuki Aoki (Meji Universität Tokio) sowie Prof. Dr. Takefumi Mokudai und Prof. Dr. Martin Schröder (Kyushu Universität) – wurden 2019 elf japanische Industrieunternehmen besucht.
Die Besonderheiten der Digitalisierungsaktivitäten japanischer Unternehmen lassen sich unter dem Begriff der Gemba-Digitalisierung zusammenfassen [11]. „Gemba“ ist japanisch und bedeutet „der eigentliche Ort“. In der Führungslehre des Lean Managements steht Gemba für den Fokus auf jene Prozesse, in denen die Wertschöpfung erbracht wird. Am bekanntesten ist das Prinzip des Gemba Walks, das Führungskräfte dazu anhält, sich an den Ort der Wertschöpfung zu bewegen und Produktionsprobleme persönlich in Augenschein zu nehmen [12]. Im japanischen Kontext schließt Gemba noch den Respekt für das praktische Wissen der operativen Mitarbeitenden: Gemba beinhaltet die Überzeugung, dass diejenigen, die die Prozesse alltäglich bearbeiten, am besten wissen, wie diese zu verbessern sind – im Unterschied zu einer Kultur, die dem Reflexionswissen von Expert:innen per se einen höheren Wert beimisst. Auch wenn es selbstverständlich Ausnahmen gibt: Die auch den Lean-Prinzipien zugrundeliegende Gemba-Kultur prägt die Digitalisierungsaktivitäten der von uns besuchten japanischen Unternehmen: Sie weisen (1) eine starke Shopfloor-Orientierung auf, sie folgen (2) einem Low-Cost-Ansatz, sie basieren (3) auf hohem Respekt für das praktische Wissen der Produktionsarbeitenden und sie werden (4) von den Unternehmen explizit zur Stärkung der existierenden Gemba-Kultur eingesetzt.
1.
Bereits auf den ersten Blick sticht die dominante Shopfloor-Orientierung der Digitalisierungsaktivitäten in den von uns besuchten japanischen Unternehmen ins Auge. In keinem der Unternehmen bildet eine zentral formulierte Digitalisierungsstrategie oder eine technische Vision von der „digitalen Fabrik der Zukunft“ den Ausgangspunkt der Digitalisierungsaktivitäten. Vielmehr werden die Aktivitäten – die Erprobung und Einführung neuer Technologien – primär auf dem Shopfloor initiiert. Die von uns beobachteten digitalen Lösungen, Applikationen und Assistenzsysteme wurden jeweils als Antworten auf relevante Shopfloor-Probleme eingeführt. Für die japanischen Unternehmen stellt die Digitalisierung keinen technologischen Selbstzweck dar, sondern ein Hilfsmittel um klassische Shopfloor-Probleme wie Produktivitätsdefizite, Fehler und Störungen, Qualitätsmängel oder Qualifikationsengpässe zu beheben. Die ausgeprägte Shopfloor-Orientierung der Digitalisierung zeigt sich auch an den Koalitionen, die die Aktivitäten in den Unternehmen forcieren. Denn auch hier spielte die Shopfloor-Ebene eine zentrale Rolle. Unseren Beobachtungen nach werden die Digitalisierungsaktivitäten nicht, oder zumindest nicht primär, vom oberen Management oder spezifisch eingerichteten Stabstellen vorangetrieben. Stattdessen dominieren zum gegenwärtigen Zeitpunkt Akteure aus dem Shopfloor – von den verantwortlichen Führungskräften bis zu den regulären Produktionsarbeitenden – die Einführungsprozesse.
 
2.
Das Gros der von uns beobachteten Digitalisierungsaktivitäten folgt einem Low-Cost-Ansatz, der nicht auf eine flächendeckende Erneuerung des Maschinenparks setzt, sondern den Weg kleiner pragmatischer technologischer Upgrades geht. Parallel zu dem ebenfalls aus Japan bekannten Ansatz der Low-Cost-Automation (karakuri) werden kostengünstige und einfache Digitalisierungslösungen gesucht, die einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Produktions- und Arbeitssysteme leisten. Zu den Stärken des Ansatzes gehört die hohe Flexibilität der eingesetzten digitalen Lösungen, der geringe Investitionsbedarf und geringe technische Komplexität der Systeme. Zwar lassen sich Maschinen der neuesten Generation leichter vernetzen und bieten auch deutlich umfangreichere Datengenerierungsmöglichkeiten, allerdings ist die Erneuerung des Maschinenparks mit sehr hohen Investitionen verbunden, die nicht alle Unternehmen stemmen können. Zugleich setzen die Einrichtung und Instandhaltung dieser Maschinen Qualifikationen voraus, die nicht in jedem Unternehmen vorhanden sind. Der Low-Cost-Ansatz der Gemba-Digitalisierung nutzt hingegen einfache digitale Lösungen, um die bestehenden Systeme ohne größere Investitionen und mit den bestehenden Qualifikationen weiterzuentwickeln.
 
3.
Auch wenn es auf den ersten Blick kontraintuitiv klingt: Auch in den Digitalisierungsaktivitäten der meisten japanischen Unternehmen wird der Respekt für das praktische Wissen der Produktionsarbeitenden deutlich. Keines der von uns beobachteten Digitalisierungsprojekte wird von der Vision einer digitalen Fabrik angetrieben, in der Maschinen und Algorithmen die Position der Menschen übernommen haben. Besonders deutlich wird die hohe Wertschätzung des praktischen Wissens am Verhältnis von neuen Technologien und Kaizen-Aktivitäten. IoT-Systeme werden in den Unternehmen eingeführt, um die Datenbasis für mitarbeiter:innengetragene Kaizen-Prozesse zu verbessern (Quantität und Verlässlichkeit der Daten) und den Aufwand der Mitarbeitenden für die Datenerhebung zu verringern (Zeit für Datenerhebung als Muda – Verschwendung). Die Entwicklung von Verbesserungsvorschlägen wird dagegen weiterhin als ureigene Aufgabe des Menschen betrachtet. Die neuen Systeme sollen die menschliche Aktivität im Kaizen unterstützen und nicht ersetzen. Ein weiteres Beispiel für den hohen Respekt für das praktische Wissen der Produktionsarbeitenden sind die qualifizierungsunterstützenden IoT-Systeme, die wir in mehreren Unternehmen beobachten konnten. Dort wurden biomechanische Bewegungsanalysen eingesetzt, um Qualifizierungsprozesse im Bereich industriell genutzter handwerklicher Fähigkeiten zu unterstützen. Mit großer Selbstverständlichkeit werden die neuen Systeme in technologisch und qualifikatorisch anspruchsvollen Bereichen so eingesetzt, dass sie langwierige Qualifizierungsprozesse unterstützen, ohne dabei menschliche Arbeit auf die Maschine zu überführen.
 
4.
Ebenso auffällig ist die explizite Zielsetzung der Einführung digitaler Produktionstechnologien: Digitale Devices, Applikationen und Assistenzsysteme werden gezielt gestaltet, um die bestehende Gemba-Kultur zu unterstützen. Aus der Perspektive des F&E-Ansatzes von TeamWork 4.0 heißt dies: In den von uns besuchten japanischen Unternehmen werden die Wechselwirkungen zwischen Digitalisierung und Arbeitsorganisation mitgedacht. Die Gemba-Kultur ist so fest in den Unternehmen und ihrer Arbeitsorganisation verankert, dass – so unser Eindruck aus den Betriebsbesichtigungen und Interviews mit Shopfloor-Führungskräften und Management – kaum jemand auf die Idee kommt, digitale Technologien auf eine Art und Weise einzuführen und zu nutzen, dass diese den Erfolgsfaktor Gemba-Kultur gefährden. Dies gilt auch für das beschriebene Beispiel der digitalen Kaizen-Unterstützung. Die neuen Systeme werden in den meisten Unternehmen mit Bedacht eingeführt, um die Verankerung des Kaizen-Gedankens in der Belegschaft nicht zu unterminieren.
 
Zusammengefasst steht Gemba-Digitalisierung für einen Digitalisierungsansatz, der an in japanischen Unternehmen verbreiteten Managementprinzipien ansetzt und der einen Kontrapunkt zu einer auch in Deutschland verbreiteten Perspektive setzt, die in der Digitalisierung einen revolutionären Technologiesprung sieht und die die Formulierung einer Digitalisierungsstrategie als wichtigste Aufgabe des Managements ansieht. Kennzeichnend für die Digitalisierungsaktivitäten in den meisten der von uns besuchten japanischen Unternehmen ist die ausgeprägte Shopfloor-Orientierung, der Respekt für das praktische Wissen der Produktionsarbeitenden und die Unterstützung der bestehenden Gemba-Kultur. Die in TeamWork 4.0 fokussierten Wechselwirkungen zwischen Digitalisierung und Arbeitsorganisation werden im Ansatz der Gemba-Digitalisierung gewissermaßen automatisch mitgedacht.
Drei Hinweise müssen an dieser Stelle jedoch gemacht werden: Erstens folgen nicht alle japanischen Unternehmen dem Pfad der Gemba-Digitalisierung und natürlich finden sich auch in deutschen Unternehmen Beispiele für shopfloor-orientierte Digitalisierungsprojekte. Zweitens finden sich auch in japanischen Unternehmen Beispiele für den Einsatz digitaler Technologien, die menschliche Arbeit vereinfachen oder kontrollieren. Die Gemba-Kultur sorgt nicht automatisch für bessere Arbeitsbedingungen. Sie geht jedoch selbst in Bereichen mit stark verdichteter Montage- und Logistikarbeit mit einem Respekt für das praktische Wissen der Arbeitenden einher. Und drittens ist der Ansatz der Gemba-Digitalisierung alternativen Vorgehensweisen nicht in allen Aspekten überlegen. Die große Stärke des Ansatzes liegt in der Fähigkeit, für bestehende Produktionssysteme und Arbeitsorganiationen maßgeschneiderte digitale Lösungen zu entwickeln, die in den Gruppen und Teams eine hohe Akzeptanz aufweisen. Die Integration der Einzellösungen in ein einheitliches System der IoT-Nutzung stellt für Gemba-Digitalisierung jedoch eine besondere Herausforderung dar. Die Vereinheitlichung und Zusammenführung separat entwickelter Insellösungen geht mit einem hohen organisatorischen Aufwand und erheblichen Kosten für die Unternehmen einher – und bedarf deswegen in der Regel der Unterstützung des oberen Managements.

7.3 Digitale Assistenzsysteme und Arbeitsorganisation: die drei Use Cases von TeamWork 4.0

Während bei der Einführung digitaler Systeme im Rahmen der japanischen Gemba-Digitalisierung die Wechselwirkungen mit der Arbeitsorganisation mit großer Selbstverständlichkeit mitbetrachtet werden, spielt diese Perspektive bei der Gestaltung von neuen Technologien und ihrer Einführung in bestehende Produktions- und Arbeitssysteme in deutschen Unternehmen häufig keine große Rolle. Das Ziel der Verbundpartner:innen von TeamWork 4.0 war es, durch die beteiligungsorientierte Gestaltung und Einführung digitaler Assistenzsysteme zugleich die Akzeptanz der Systeme in der Belegschaft zu erhöhen und die bestehende Gruppen- bzw. Teamarbeit zu stärken. Eine wichtige Rolle in diesem Prozess spielte die wissenschaftliche Begleitung der Teilvorhaben durch die drei Forschungseinrichtungen. Die Universität Osnabrück, die TU Darmstadt und das IMU-Institut Stuttgart nutzten ihre Kompetenzen in der sozial- und ingenieurwissenschaftlichen Arbeitsforschung sowie der Analyse und Weiterentwicklung von (ganzheitlichen) Produktionssystemen, um die Unternehmenspartner:innen bei der beteiligungsorientierten Entwicklung und Einführung digitaler Assistenzsysteme zu unterstützen.

7.3.1 Use Case Digitale Dokumentation: ein Assistenzsystem für die Bewältigung von Komplexität in der Einzel- und Kleinstserienfertigung

Zusammen mit der Mahr GmbH in Göttingen wurde ein Use Case für ein Assistenzsystem zur digitalen Dokumentation geplant und umgesetzt. Die Mahr GmbH fertigt Messmaschinen, die auch kleinste Längen mit höchster Präzision optisch oder mechanisch messen. Das Produktportfolio ist groß, die Messgeräte werden in Groß-, Klein- und Kleinstserien, stellenweise in Einzelfertigung, produziert. Die Montageumfänge für die einzelnen Maschinentypen und Module variieren zwischen einigen Stunden und mehreren Monaten. Trotz einer bestehenden Gruppenarbeitsvereinbarung und Gruppenentlohnung ist die Montagearbeit weitgehend in Einzelmontageplätzen organisiert. Dabei hat sich bei den Facharbeitenden in der Montage eine maschinentypspezifische Spezialisierung entwickelt. Insbesondere die Typen mit geringer Wiederholrate können nur von wenigen Beschäftigten, teilweise nur von einzelnen Personen durchgeführt werden. Daher sind die Arbeitsabläufe wenig standardisiert und das Erfahrungswissen der individuellen Beschäftigten spielt eine große Rolle.
Aus Unternehmenssicht führt diese Spezialisierungspraxis zu Shopfloor-Problemen bei der nivellierten Kapazitätsauslastung, der Liefertreue und der Produktqualität. Der variierende Produktmix kann nur schwer auf den Qualifikationsmix der anwesenden Beschäftigten verteilt werden. So können bei Abwesenheit oder Ausscheiden einzelner Beschäftigter zum Teil selten gefertigte Maschinentypen nicht gebaut werden. Im schlimmsten Fall muss das spezifische Montagewissen neu aufgebaut werden. Die Beschäftigten notieren Ihre Arbeitshinweise auf Dokumentationsausdrucken, was dazu führen kann, dass aktuelle Konstruktionsänderungen nicht erkannt werden. Der Lösungsansatz ist ein digitales Dokumentationssystem, in dem die Facharbeitenden ihr informelles Wissen für alle Beschäftigten zugänglich machen und die aktuellen Montage- und Verpackungsdokumentationen für alle sichtbar enthalten sind.
Um die Beschäftigtenperspektiven auf das Dokumentationssystem und die vorhandene Infrastruktur systematisch zu erfassen, wurden im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung  mehrere beteiligungsorientierte Workshops sowie Einzelinterviews mit Management, Beschäftigten, Gruppensprecher:innen, Meister:innen und Betriebsrat durchgeführt. Die Ergebnisse wurden in einem „sozialen Pflichtenheft“ erfasst und haben zu wesentlichen Veränderungen im geplanten Digitalisierungsprojekt geführt.
Schon im Kickoff des Projektes reklamierten die Montagebeschäftigten und die Meister:innen als Hauptproblem, dass die notwendigen Dokumente in unterschiedlichen technischen Systemen abgelegt seien und es keine einheitlichen Suchmöglichkeiten gebe. Daraufhin wurde die technische Zielstellung angepasst. Es wurde ein Frontend entwickelt, das bestehende Systeme integriert und alle für einen Auftrag relevanten Dokumente zusammenzieht. Beschäftigte der Pilotgruppen erprobten in der Prozesslernfabrik des PTW der TU Darmstadt verschiedene Devices für das Assistenzsystem (analoge Mittel, Tablets und Datenbrillen). Die Tablet-Lösung wurde als das geeignetste Mittel zur Umsetzung ausgewählt.
In den Beteiligungs-Workshops formulierten die Beschäftigten auch Befürchtungen. So wurde zu bedenken gegeben, dass die „Preisgabe“ des eigenen Erfahrungswissen zur Entwertung der Arbeit führen oder die Standardisierung des Arbeitsprozesses zu einer niedrigeren Eingruppierung oder zu einer Arbeitsverlagerung führen könne. Eine erste Verifizierungsschleife hat gezeigt, dass die formulierten Befürchtungen bisher nicht eingetreten sind.
Die neuen technischen Möglichkeiten des Assistenzsystems haben neben einer Verbesserung der Montagepraxis auch Impulse zur Weiterentwicklung der Gruppenarbeit mit sich gebracht. Hiermit werden die Wechselwirkungen zwischen Assistenzsystemen und Arbeitsorganisation fokussiert. In mehreren Workshops wurden Konzepte zur Aktivierung der Selbststeuerungsfähigkeit der Arbeitsgruppen entwickelt, die die Fehlerbehandlungskompetenz der Gruppen stärken und sie als unterste Ebene in den Shopfloor-Management-Prozess integrieren. Außerdem beinhalten sie in den Gruppen ein aktives Rotations-Management und Qualifizierungs-Management. Schließlich ist angedacht den Gruppen Flexibilität bei der Auftragssteuerung zu ermöglichen. Erst wenn das Assistenzsystem in diesem Sinne arbeitsorganisatorisch wirksam geworden ist, können die vom Unternehmen erhofften positiven Prozesseffekte vollständig realisiert werden. Außerdem können durch die Kompetenzerweiterungen der Gruppe, die von den Beschäftigten befürchteten Kompetenzverluste durch höhere Standardisierung und Wissenstransparenz kompensiert werden. Damit zeigt sich exemplarisch, wie durch die aktive Beteiligung von Teams passgenaue Digitalisierungslösungen entwickelt werden und im Gegenzug Digitalisierungsprojekte auch zur Weiterentwicklung der Team- und Gruppenarbeit beitragen können.

7.3.2 Use Case Digitales Shopfloor Management: Ein Assistenzsystem zur transparenten Vermeidung von Verschwendung

Gemeinsam mit Voith Turbo in Crailsheim wurde ein digitales Shopfloor Management-System (SFM) in einem Pilotbereich konzipiert und umgesetzt. Voith fertigt Turbokupplungsgetriebe und hat sowohl Fertigungs- als auch Montagebereiche in Crailsheim. Bereits seit einigen Jahren ist analoges SFM in der gesamten Produktion und auch in angrenzenden Bereichen, wie z. B. der Logistik, im Einsatz. Die Geschäftsleitung wünschte sich ein digitales System. Im Rahmen der Analysen innerhalb des Projekts wurden Schwachstellen aufgezeigt, die durch die Digitalisierung adressiert werden sollen. So ist beispielsweise die Eskalation von Problemen oder anderen wichtigen Informationen aufwendig; es besteht häufig die Gefahr, dass es keine Rückmeldungen auf eskalierte Themen gibt und das Aufbereiten und Übertragen der Daten ist im analogen SFM zeitaufwendig. Ziel ist die Lösung dieser Probleme, das SFM transparenter und effizienter zu gestalten, Mitarbeitende bei Problemlösungen zu unterstützen, und die Kommunikation innerhalb der Produktionsteams zu verbessern [13].
Um die Perspektive der Beschäftigten mit einzubeziehen, wurden in diesem Use Case die Mitarbeitenden durch den Betriebsrat vertreten und die relevanten Beteiligten am SFM sowie die Produktionsleitung mit einbezogen. Die Beteiligungsorientierung wurde durch unterschiedliche Formate wie Einzelinterviews und Workshops umgesetzt, in denen die Anforderungen der Beschäftigten systematisch aufgenommen wurden. So hatten die Beteiligten die Möglichkeit, ihre Wünsche für ein digitales System, aber auch ihre Bedenken zu äußern. Ein wichtiger Bestandteil dieser Bedenken war, dass im bisherigen SFM die unterste Ebene der Mitarbeitenden nicht mit einbezogen wird und die täglichen Zusammenkünfte im SFM erst ab der Teamleiter:innen-Ebene anfangen. Daraufhin wurde im Rahmen des Projekts entschieden, im Pilot-Bereich auch die Mitarbeitenden-Ebene mit ins SFM aufzunehmen.
Die wissenschaftliche Begleitung umfasste auch die Aufnahme der technischen und organisatorischen Anforderungen, so z. B. welche Nutzergruppen in einem digitalen System angelegt werden müssen, wer Zugang zu welchen Informationen bekommt und wie diese geteilt werden können. Insbesondere die Themen Transparenz und, dass diese nicht zur Kontrolle der Mitarbeitenden genutzt wird, waren Themen, die es zu klären galt.
Nach der Analyse des bestehenden SFM wurden in Workshops mit den Beteiligten die Analysen besprochen und daraus resultierende Anforderungen an ein digitales System abgeleitet. Das PTW der TU Darmstadt hat bereits Erfahrungen mit einem digitalen SFM-System und wendet dieses in der Prozesslernfabrik CiP an. Aus diesem Grund wurde die dort genutzte Software auf die Anforderungen der Beschäftigten von Voith angepasst und eingeführt. Im Pilotbereich der Montagelinie wurden zwei digitale Boards angeschafft. Die Mitarbeitenden haben durch die technische Umsetzung des SFM die Möglichkeit, Themen direkt an die nächsthöhere Ebene zu eskalieren und müssen relevante Daten nicht mehr manuell übertragen, da diese automatisch angezeigt werden.
Die Befürchtung, dass die erhöhte Transparenz zu Kontrollzwecken genutzt wird, konnte nicht bestätigt werden. Hierzu wurden die Beteiligten im Nachgang in den Shopfloor-Runden beobachtet, es wurden Fragebögen ausgeteilt und weitere Elemente mit den Teilnehmenden diskutiert. Durch eine durchgehende Nutzer:innenverwaltung und Zugangsberechtigungen wurde auch dafür gesorgt, dass nur berechtigten Personen die für sie relevanten Informationen angezeigt werden. Besonders die Möglichkeit, Problemlösungen und Eskalationen transparent zu verfolgen, trifft bei den Mitarbeitenden auf großen Anklang.
Im Anschluss an die erste Testphase wurde auch die unterste Mitarbeiterebene mit in das digitale SFM eingebunden, was wiederum einen neuen Anstoß für das SFM gibt und die Beschäftigten zufriedenstellt. Die Arbeitsorganisation ist durch den Einsatz von Digitalisierung effizienter geworden, da unnötige Arbeitsschritte eliminiert und die Kommunikation verbessert wurde. Voith Turbo hat sich im Anschluss an die Pilotphase dafür entschieden, das digitale System auch auf die anderen Produktionsbereiche des Werks und in drei weiteren Produktionsstandorten auszurollen.

7.3.3 Use Case KVP-App: Ein digitales Assistenzsystem für die Aktivierung des kontinuierlichen  Verbesserungsprozesses

Die Forschungspartner:innen begleiteten und unterstützten die Homag AG bei der Einführung einer KVP-App. Homag produziert Einzelmaschinen sowie komplett vernetzte Fertigungsstraßen für Kunden aus der holzbearbeitenden Industrie und dem Handwerk. Die Pilotierung wurde an einem Standort durchgeführt, der neben der Holz- und Möbelindustrie auch die Automobilwirtschaft beliefert. Die KVP-App ist ein digitales Assistenzsystem, das die direkte Partizipation der Mitarbeitenden am Kontinuierlichen Verbesserungsprozessen (KVP) erleichtern soll. Sie bietet ein übersichtliches Interface zum Bearbeitungsstand und zur abschließenden Beurteilung eingebrachter Verbesserungsideen, gibt einen Überblick über die bereits angenommenen und prämierten Vorschläge von anderen Mitarbeitenden und integriert eine Rätselfunktion für einen ‚spielerischen‘ Umgang mit alltäglichen Problemen in Arbeitsprozessen. Ebenfalls hinterlegt ist ein standardisierter Prozess zur Bearbeitung der eingereichten Vorschläge. Auf diese Weise soll gewährleistet sein, dass die Mitarbeitenden innerhalb einer Woche eine Rückmeldung zu ihren Ideen erhalten. Verbunden mit der Lancierung des Assistenzsystems ist ein Prämienmodell, das positiv bewertete Verbesserungsvorschläge finanziell belohnt.
Die KVP-App adressiert ein Shopfloor-Problem, das in der deutschen Metall- und Elektroindustrie weit verbreitet ist, nämlich die vermeintlich geringe Beteiligung der Beschäftigten am mitarbeiter:innengetragenen KVP. Aus Sicht vieler deutscher Unternehmen reichen – insbesondere im Vergleich zu ihren japanischen Kolleg:innen – die Mitarbeitenden über die formellen KVP-Kanäle zu wenige Verbesserungsvorschläge ein. Auch bei Homag AG wird der formale KVP-Kanal kaum zur Einreichung von Verbesserungsvorschlägen genutzt. Seitens des Unternehmens wird vor allem ein Motivationsproblem gesehen, der Betriebsrat weist auf fehlende Anreize für die Mitarbeitenden hin. Für die  Produktionsarbeitenden, deren Perspektive im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung in den Einführungsprozess eingespeist wurde, stellte sich das Beteiligungsproblem hingegen anders dar: Zum einen wiesen die Beschäftigten auf technische und organisatorische Hürden hin. Das bestehende KVP-System – eine Intranet-Schnittstelle, in der die Vorschläge an Arbeits-PCs eingegeben werden – wurde als schwer zugänglich und wenig alltagspraktisch beschrieben. Zweitens – und für den Erfolg des Einführungsprozesses wahrscheinlich wichtiger – existiert in dem Unternehmen eine lebendige produktorientierte Alltagskultur der kontinuierlichen Verbesserung, die jenseits der formalen KVP-Kanäle abläuft und den kurzen Dienstweg zur Konstruktion und Arbeitsplanung nutzt. Die Verbesserungskultur speist sich aus dem Selbstverständnis der Facharbeitenden und benötigt keine materiellen Anreize.
Die Beteiligungsorientierung spielte eine wichtige Rolle beim Einführungsprozess. Die KVP-App ging auf eine Initiative des Konzernbetriebsrates zurück, der auch zentral bei der Umsetzung in Planung-, Prozess- und Designfragen beteiligt ist. Die wissenschaftliche Begleitung im Rahmen von TeamWork 4.0 unterstützte die Beteiligungsorientierung durch eine systematische Aufnahme der Beschäftigtenperspektiven. In Kooperation mit der Unternehmensleitung und dem Betriebsrat wurden die Perspektiven der Beschäftigten entlang aller Bereiche sowohl mit qualitativen als auch mit quantitativen Erhebungsverfahren erfasst und sozialwissenschaftlich ausgewertet. Ziele der Befragungen war die wissenschaftliche Bestandsaufnahme (1) der existierenden Verbesserungskultur, (2) der Perspektiven der Mitarbeitenden auf digitale Tools und (3) ein Mapping des geplanten Bewertungsprozesses für die eingereichten Vorschläge. Die KVP-App – das war allen Beteiligten wichtig – sollte als komplementärer Beteiligungskanal etabliert werden, über den Verbesserungsvorschläge aus Themenfeldern (vorwiegend Prozesse und Arbeitsbedingungen) eingereicht werden können, die in der informellen Verbesserungskultur unterrepräsentiert waren. Dabei ist Sorge dafür zu tragen, dass die existierende produktbezogene Verbesserungskultur intakt bleibt.
Die KVP-App zielt schließlich auch darauf ab, die Gruppen- und Teamkultur hinsichtlich der mitarbeitergetragenen Verbesserung zu unterstützen. Zu den Wechselwirkungen zwischen Digitalisierung und Arbeitsorganisation lagen zum Projektende noch keine gesicherten Erkentnisse vor, da sich der Launch der KVP-App durch die Corona-Pandemie verzögert hat.

7.4 Fazit

Ausgangspunkt des Verbundes TeamWork 4.0 war die Beobachtung, dass sich die Digitalisierung nur in Ausnahmefällen in Form eines Technologiesprungs vollzieht, sondern in der Regel als inkrementeller Veränderungsprozess abläuft, der die bestehenden Produktionssysteme und Arbeitsorganisationen durch die Einführung neuer Maschinen, Devices, Applikationen und Assistenzsysteme punktuell weiterentwickelt. Anhand von drei Use Cases für in der deutschen Metall- und Elektroindustrie weitverbreitete Shopfloor-Herausforderungen haben sich die Verbundpartner mit den Wechselwirkungen zwischen der Einführung eines digitalen Assistenzsystems und der teamförmigen Arbeitsorganisation auseinandergesetzt. Auffällig war, dass in den drei Use Cases – digitales Dokumentationssystem, digitales Shopfloor Management und KVP-App – die Akzeptanz des digitalen Assistenzsystems durch den beteiligungsorientierten Einführungsprozess gesteigert wurde und sich teilweise positive Rückwirkungen auf die Arbeitsorganisation eingestellt haben. Offensichtlich kann die systematische Einbeziehung der Perspektiven der Mitarbeitenden zu einem verbesserten Design der Assistenzsysteme und zur Steigerung der Akzeptanz in der Belegschaft führen. Daneben haben sich in den Verbundunternehmen auch positive Rückkopplungen auf die gruppenförmige Arbeitsorganisation eingestellt. Wenn auch auf verschiedene Art und Weise und in unterschiedlochem Ausmaß: Im Gefolge der Einführung der digitalen Assistenzsysteme kam es zu einer gewissen Stärkung der Gruppen und Teams. Die Kommunikation in und zwischen Teams wurde verbessert, die erhöhte Transparenz erleichtert die Beteiligung der Mitarbeitenden an der Gestaltung und Verbesserung ihrer Arbeit und letztlich erhöht sich dadurch auch Fähigkeit der Gruppen zu Selbstorganisation.
Selbstverständlich stellen sich derartige positive Wechselwirkungen zwischen Digitalisierung und Arbeitsorganisation nicht von allein ein. Im Gegenteil: Zum einen muss berücksichtigt werden, dass sich TeamWork 4.0 mit spezifischen digitalen Assistenzsystemen beschäftigt hat. Das digitale Dokumentationssystem, das Shopfloor Management und die KVP-App adressieren spezifische Shopfloor-Herausforderungen, indem sie menschliche Fähigkeiten in der Produktion unterstützen. Keines der drei Systeme wird eingesetzt, um menschliche Produktionsarbeit zu entwerten oder gar  zu ersetzen. Es ist davon auszugehen, dass auf Substitution, Entwertung oder Kontrolle menschlicher Arbeit ausgerichtete digitale Systeme negative Wechselwirkungen mit einer gruppen- oder teamförmigen Arbeitsorganisation entfalten können. Zum anderen ist der Erfolg der beteiligungsorientierten Einführungsprozesse auch durch die intensive wissenschaftliche Begleitung im Rahmen der Forschungsförderung des BMBF ermöglicht worden. Nicht jeder Einführungsprozess eines digitalen Assistenzsystems kann mit einem solchen Einsatz wissenschaftlicher Ressourcen begleitet werden. Die Verbundpartner:innen sind jedoch davon überzeugt, dass in der Shopfloor-Orientierung des Digitalisierungsvorhabens, der Beteiligung an der Einführung und der Beachtung möglicher Wechselwirkungen mit anderen Aspekten der Arbeitsorganisation der Schlüssel für den Erfolg der digitalen Weiterentwicklung der Produktions- und Arbeitssysteme liegt. In eine ähnliche Richtung weist auch der in japanischen Unternehmen verbreitete Ansatz der Gemba-Digitalisierung, der von der Shopfloor-Orientierung der Digitalisierungsaktivitäten, dem Respekt gegenüber dem praktischen Wissen der Produktionsarbeitenden und der Beachtung der Wechselwirkungen mit der Arbeitsorganisation gekennzeichnet wird.
Projektpartner und Aufgaben
  • Universität Osnabrück – Institut für Sozialwissenschaften, Fachgebiet Wirtschaftssoziologie
    Typische Herausforderungskonstellationen und latente Kompetenzpotenziale
  • Technische Universität Darmstadt – Institut für Produktionsmanagement, Technologie und Werkzeugmaschinen (PTW)
    Digitale Mitarbeiterführung und zielorientierte Verbesserungssysteme
  • IMU Institut GmbH
    Digitalisierungschancen zur Weiterentwicklung von Ganzheitlichen Produktionssystemen
  • Mahr GmbH
    Facharbeiter/innen gestütztes Dokumentationssystem
  • Voith Turbo GmbH & Co. KG
    Digitale Problemlösung für die Produktion
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Literatur
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Metadaten
Titel
Digitalisierung und Arbeitsorganisation
verfasst von
Hajo Holst
Joachim Metternich
Martin Schwarz-Kocher
Thomas Ardelt
Hendrik Brunsen
Yannick Kalff
Nadine Kleine
Yalcin Kutlu
Alyssa Meißner
Marvin Müller
Steffen Niehoff
Bettina Seibold
Robert Sinopoli
Copyright-Jahr
2021
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-662-62215-5_7

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