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Open Access 2024 | OriginalPaper | Buchkapitel

5. Evolution einer sinnvollen Wirtschaft durch beschränkte Reflexion am Beispiel von Nachhaltigkeitsratings

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Zusammenfassung

Da die systemtheoretische Beschreibung einer begrenzten Reflexion sehr abstrakt ist, wird anhand von Nachhaltigkeitsratings ein konkretes Beispiel angeführt, wie Entscheidungen mit einer begrenzten Reflexion in Unternehmen entstehen können. Neben dem Bezug zu bestehender Literatur erfolgt die systemtheoretische Einordnung auch auf Basis von empirischen Erkenntnissen. Im folgenden Kapitel wird die Vorgehensweise der Untersuchung erläutert. Nach einer Beschreibung, wie die Evolution einer Wirtschaft mit begrenzter Reflexion entstehen kann, wird beschrieben, wie Nachhaltigkeitsratings durch ihre Reflexions- und Generalisierungsfunktion einen Reentry der Gesellschaft in die Wirtschaft unterstützen und damit einen Beitrag zur Selbststeuerung der Wirtschaft leisten.
Da die systemtheoretische Beschreibung einer begrenzten Reflexion sehr abstrakt ist, wird anhand von Nachhaltigkeitsratings ein konkretes Beispiel angeführt, wie Entscheidungen mit einer begrenzten Reflexion in Unternehmen entstehen können. Neben dem Bezug zu bestehender Literatur erfolgt die systemtheoretische Einordnung auch auf Basis von empirischen Erkenntnissen. Im folgenden Kapitel wird die Vorgehensweise der Untersuchung erläutert. Nach einer Beschreibung, wie die Evolution einer Wirtschaft mit begrenzter Reflexion entstehen kann, wird beschrieben, wie Nachhaltigkeitsratings durch ihre Reflexions- und Generalisierungsfunktion einen Reentry der Gesellschaft in die Wirtschaft unterstützen und damit einen Beitrag zur Selbststeuerung der Wirtschaft leisten.

5.1 Empirische Untersuchung der begrenzten Reflexion durch Nachhaltigkeitsratings

Es gibt drei unterschiedliche Meinungen zur Vereinbarkeit von empirischer Forschung mit der Systemtheorie. Einige systemtheoretische Wissenschaftler sind davon überzeugt, dass empirische Forschungen, beispielsweise Experteninterviews, für eine systemtheoretische Arbeit absolut unproblematisch sind und daher nicht explizit begründet werden müssen. Vertreter der zweiten Meinung sehen ebenso eine Vereinbarkeit der Systemtheorie mit Empirie, was allerdings begründet werden sollte. Für Vertreter der dritten Meinung ist die Systemtheorie, die auf Kommunikation basiert, nicht mit qualitativen Untersuchungen, die mit dem Akteurskonzept arbeiten, vereinbar (John et al. 2010c, S. 327).
Vorliegende Arbeit schließt sich der zweiten Meinung an, und zwar mit der Begründung, dass die systemtheoretische Kommunikation nach ihrer eigenen Logik nur durch eine äußere Irritation, die in der Systemtheorie Resonanz erzeugt, fortgesetzt werden kann. Ohne Offenheit würde sich der systemtheoretische Diskurs nur noch um sich selbst drehen und damit eine pathologische Selbstreferenz erzeugen. Neues Wissen kann zu Irritationen des Diskurses führen und zur Selbsterhaltung beitragen. Besonders empirische Untersuchungen schaffen neues Wissen, wodurch Resonanz im systemtheoretischen Diskus erzeugt und somit ein Reentry der Gesellschaft in die Systemtheorie möglich wird.
Die Systemtheorie kann daher ihr volles Potenzial zur Erkenntnisgenerierung nur ausschöpfen, wenn sie sich auch auf andere Theorien bezieht und sich mit empirischen Erkenntnissen der gesellschaftlichen Wirklichkeit stellt (John et al. 2010c, S. 330).
In vorliegender Arbeit wird daher eine empirische Untersuchung durchgeführt, um die Selbstreferenz, wie sie in den verschiedenen Theoriesträngen im theoretischen Teil dieser Arbeit thematisiert wird, durch empirische Erkenntnisse zu irritieren und Resonanz im systemtheoretischen Diskurs zu erzeugen. Wie die vielen Beispiele in John et al. (2010a) zeigen, ist die Systemtheorie besonders mit qualitativer empirischer Sozialforschung kompatibel.
Vorliegende Arbeit stützt ihre Erkenntnisse auf Beobachtungen von Experten. Zwar wird der Akteur aus der Systemtheorie ausgeschlossen, allerdings zeigt selbst Luhmann (1988, S. 558), dass der Akteur nicht vollständig ignoriert werden kann. Das psychische System mit Bewusstsein ist zwar der Umwelt von sozialen Systemen zuzuordnen, aber es hat eine wichtige Bedeutung für die Autopoiesis der Kommunikation. Die Wahrnehmung von gesellschaftlichen Phänomenen kann nur durch menschliche Physis und Psyche erfolgen. Die Fortsetzung der kommunikativen Autopoiesis durch Irritationen ist daher auf eine Interpenetration durch das psychische System angewiesen (Luhmann 1984, S. 558).
Da die Systemtheorie die Emergenz von Systemen erfasst, sollte von Personen abstrahiert und sollten mithilfe der Wahrnehmung der Mitglieder der Organisation die dahinterliegenden Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen betrachtet werden. Nur so entsteht ein vollständiges Bild der Organisation (Willke 1996, S. 162).
Auch bei Interviews können die Informationen einem Akteur bzw. einem Menschen zugeordnet werden, dessen Bewusstsein ein eigenes System darstellt und das sich in der Umwelt der Gesellschaft bzw. außerhalb von gesellschaftlicher Kommunikation befindet (John et al. 2010c, S. 328). In vorliegender Arbeit wird durch Experteninterviews ein Bezug zum Akteur hergestellt, da er mithilfe des psychischen Bewusstseins in der Lage ist, Organisationen zu beobachten. Der Akteur ermöglicht eine Interpenetration des psychischen Systems mit dem sozialen System. Durch die Wahrnehmungsfähigkeit des Experten sollen neue Erkenntnisse geschaffen werden, mit denen die Systemtheorie irritiert wird.
Die empirische Untersuchung hat keinen Anspruch auf Beschreibung einer einzigen Wahrheit, sondern es sollen die Überlegungen des theoretischen Teils dieser Arbeit an einer Perspektive der Wirklichkeit gemessen werden. Mit der empirischen Untersuchung dieser Arbeit sollen die theoretischen Überlegungen einer begrenzten Reflexion unterzogen und gleichzeitig weiterentwickelt werden. Das wesentliche Problem für die Evolution einer Wirtschaft mit begrenzter Reflexion besteht darin, herauszufinden, wie die Gesellschaft wieder in der Wirtschaft berücksichtigt werden kann, ohne dass das Wirtschaftssystem überlastet wird. Durch die empirische Untersuchung der systemtheoretischen Annahmen soll daher beobachtet werden, wie die Gesellschaft innerhalb der Wirtschaft beobachtet wird, um dann daraus abzuleiten, wie die Beobachtung der Wirtschaft beeinflusst werden kann, um eine begrenzte Reflexion in der Wirtschaft zu erhöhen.

5.1.1 Beobachtungsfokus der empirischen Untersuchung

Um herauszufinden, wie eine Steuerung für die Evolution einer sinnvollen Wirtschaft möglicherweise realisierbar ist, wird der Einfluss von Fremdbeschreibungen auf die Selbstbeschreibungen und die Entscheidungen der Organisationen näher betrachtet.
Da die Fremdbeschreibungen der Nachhaltigkeitsratingagenturen sehr spezifisch, präzise und eindeutig sind und die Komplexität der gesellschaftlichen Anforderungen auf eine oder wenige Größen reduziert wird, kann besonders gut nachvollzogen werden, wie organisatorische Entscheidungen von Fremdbeschreibungen beeinflusst werden.
Nachhaltigkeitsratings eigenen sich für eine empirische Untersuchung, da sie die Theorie einer Wirtschaft mit einer begrenzten Reflexion zu überprüfen ermöglichen. Außer hinsichtlich der empirischen Bestätigung der theoretischen Überlegungen kann vorliegende Untersuchung auch dabei helfen, konkrete Aspekte der Theorie auf Basis von neuen Erkenntnissen weiterzuentwickeln.
Für die empirische Untersuchung wird daher folgende These zugrunde gelegt.
Nachhaltigkeitsratings ermöglichen eine Selbststeuerung der Wirtschaft durch eine begrenzte Reflexion in Unternehmen.
Durch ein mehrstufiges Experteninterview wurden in einem Unternehmen zunächst die Bedeutung und der Einfluss von Nachhaltigkeitsratings ermittelt, die dann anschließend mittels mehrerer Nachhaltigkeitsratingagenturen in der Breite validiert und ergänzt wurden, um die sehr konkreten Erkenntnisse der Befragungen im Unternehmen zu generalisieren.
Mit dem Fokus auf eine Organisation kann in einer tiefergehenden Analyse anhand mehrerer Experteninterviews untersucht werden, welchen konkreten Einfluss die Fremdbeschreibung der Nachhaltigkeitsratingagenturen auf Entscheidungen von Organisationen hat. Für die Auswahl einer passenden Organisation müssen allerdings einige Voraussetzungen erfüllt werden. Das Unternehmen sollte eine gewisse Bereitschaft zeigen, sich nachhaltig ausrichten zu wollen, damit Nachhaltigkeitsratings im Unternehmen überhaupt beachtet werden. Zudem muss sich das Unternehmen auch mit Nachhaltigkeitsratings auseinandersetzen oder es muss von Nachhaltigkeitsratingagenturen angefragt werden. Da die Nachhaltigkeitsratings besonders für den Kapitalmarkt Informationen bereitstellen, sollte es sich daher um ein börsennotiertes Unternehmen handeln. Ein Großunternehmen hat zudem den Vorteil, dass es in den einzelnen Fachbereichen stärker spezialisiert ist und dadurch eine tiefere und gleichzeitig differenziertere Analyse möglich ist. Es wurde ein Großunternehmen aus der Automobilindustrie gewählt, da diese Branche einem besonders hohen Druck ausgesetzt ist, zu einer nachhaltigeren Wirtschaftsweise überzugehen, und sich somit vor oder in einer Evolution einschließlich der damit verbundenen Herausforderungen befindet. Mit einem Umsatz von 222,88 Milliarden Euro im Jahr 2020 gehört der Volkswagen Konzern zu einem der größten Unternehmen weltweit (Volkswagen Aktiengesellschaft 2021a, S. 25). Es handelt sich um eine Aktiengesellschaft, deren Aktien auch an der Börse gehandelt werden, weshalb das Unternehmen auch von Nachhaltigkeitsratingagenturen bewertet wird (Volkswagen Aktiengesellschaft 2021a, S. 115). Mit der Beschäftigung von mehr als 665.000 Mitarbeitern trägt es auch eine große gesellschaftliche Verantwortung (Volkswagen Aktiengesellschaft 2021a, S. 109). Das Unternehmen hat mit 118 Standorten eine internationale Ausrichtung (Volkswagen Aktiengesellschaft 2021a, S. 152), und mit der Herstellung von 9,16 Millionen Fahrzeugen im Jahr (Volkswagen Aktiengesellschaft 2021a, S. 25) übt das Unternehmen auch einen hohen Einfluss auf die Umwelt aus. Im Hinblick auf den Klimawandel trägt das Unternehmen eine hohe ökologische Verantwortung, da der Volkswagen Konzern nach dem Scope-3-Standard des World Business Council for Sustainable Developments – insbesondere wegen der Emissionen von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotoren im Fahrbetrieb – für die CO2-Emissionen in Höhe von 369 Millionen Tonnen verantwortlich ist (Volkswagen Aktiengesellschaft 2021b, S. 89). Mit einer Dekarbonisierungsstrategie versucht das Unternehmen, die CO2-Emissionen zu reduzieren, indem der Anteil verkaufter Elektrofahrzeuge erhöht wird (Volkswagen Aktiengesellschaft 2018b, S. 56). Allerdings ist mit 231.624 ausgelieferten vollelektrischen Fahrzeugen (Volkswagen Aktiengesellschaft 2021a, S. 103) der Anteil von Elektrofahrzeugen am Gesamtfahrzeugabsatz in Höhe von 2,5 % noch sehr gering. Aufgrund der Notwendigkeit dieser Transformation steht das Unternehmen vor einer großen Nachhaltigkeitsherausforderung. Neben dieser langfristigen Evolution zu einer Organisation mit begrenzter Reflexion durchlebte das Unternehmen im Untersuchungszeitraum eine tiefgreifende Krise.
Am 18. September 2015 gab die US-Umweltbehörde EPA bekannt, dass Volkswagen mithilfe von einer Abschalt-Software die Stickoxid-Emissionen von Dieselfahrzeugen in den USA manipulierte. Vier Tage später sprach das Unternehmen eine Gewinnwarnung aus, wodurch der Aktienkurs einbrach. Volkswagen gab bekannt, dass weltweit 11 Millionen Fahrzeuge, wovon 5 Millionen Fahrzeuge zur Marke „Volkswagen“ gehörten, mit dieser Abschalt-Software ausgestattet waren und hohe Rechtsrisiken drohten. Am 23. September 2015 trat der damalige Vorstandsvorsitzende Dr. Martin Winterkorn vom Volkswagen Konzern zurück und wurde von Matthias Müller abgelöst (Volkswagen Aktiengesellschaft 2016, S. 6).
Trotz der bestehenden Risiken von Rückrufen und Rechtsstreitigkeiten konnte der Volkswagen Konzern durch Rekordumsätze (Volkswagen Aktiengesellschaft 2018b, S. 23) eine finanzielle Katastrophe abwenden.
Die Nachhaltigkeitsratingagenturen, die den Volkswagen Konzern bewerten, haben zu unterschiedlichen Zeitpunkten festgestellt, dass der Volkswagen Konzern auf eine Krise zusteuert bzw. sich in einer Krise befindet.
So hat beispielsweise die Governance-Bewertung des Volkswagen Konzerns bei der Nachhaltigkeitsratingagentur MSCI von 2014 auf 2015 abgenommen. Dann wurde der Volkswagen Konzern im Mai 2015 aus dem MSCI-Nachhaltigkeitsindex ausgeschlossen und in einen neu entstehenden Nachhaltigkeitsindex nicht aufgenommen. Im August wurde das Rating des Volkswagen Konzerns aufgrund stärkerer Bemühungen um die Reduktion der Umweltauswirkungen der Produkte mittels niedrigerer CO2-Flottenemissionen und einer geringeren Anzahl an Rückrufen von BBB auf BB angepasst. Mit dem Dieselskandal im September 2015 wurde das Nachhaltigkeitsrating von BBB auf CCC herabgesetzt (MSCI 2015).
Vor der Dieselkrise bescheinigten die meisten Nachhaltigkeitsratingagenturen, dass der Volkswagen Konzern sich auf einem sehr guten Weg in der langfristigen Evolution zu einer sinnvollen Organisation befand. Das Unternehmen stellte die positiven Bewertungen sehr ausführlich im Geschäftsbericht 2014 dar (Volkswagen Aktiengesellschaft 2015, S. 97 f.).
Aufgrund der sehr kurzfristig entstandenen Herausforderungen durch die Dieselkrise haben die meisten Nachhaltigkeitsratingagenturen den Volkswagen Konzern im Rating herabgestuft und aus den Nachhaltigkeitsindizes ausgeschlossen. So wurde der Volkswagen Konzern noch drei Wochen vor der Dieselkrise als nachhaltigster Automobilhersteller von der Nachhaltigkeitsratingagentur RobecoSAM, die auch den Dow Jones Sustainability Index erstellt, ausgezeichnet, die ihn kurz darauf wieder aus dem Index entfernte (Volkswagen Aktiengesellschaft 2018a, S. 108).
Der Beobachtungsfokus auf lediglich ein Unternehmen bringt zwar tiefere Erkenntnisse, aber es bleibt aus systemtheoretischer Sicht die Herausforderung bestehen, dass die Beobachtung eines anderen Unternehmens zu einer ganz anderen Erkenntnis führen könnte und dass somit aus der fallspezifischen Beobachtung keine Verallgemeinerungen gezogen werden können. Daher werden die Erkenntnisse der Unternehmensbefragung um die eigenen Beobachtungen der Ratingagenturen ergänzt. Um die Wahrscheinlichkeit zu reduzieren, dass die Beobachtungen nur auf Volkswagen zutreffen, werden mehrere Ratingagenturen unabhängig von Volkswagen ausgewählt und befragt. Dies ermöglicht eine breitere Perspektive, die auch die Einflüsse der Nachhaltigkeitsratingagenturen auf andere Unternehmen impliziert. Darüber hinaus werden die Nachhaltigkeitsratingagenturen möglichst heterogen ausgewählt, um ein möglichst breites Bild zu erhalten. Wie bereits in Abschnitt 4.​3.​2 beschrieben, ist der Markt der Nachhaltigkeitsratings von einer hohen Dynamik geprägt, insofern einerseits immer wieder neue Konzepte und Anbieter auftreten und es andererseits ebenso zu Zusammenschlüssen von mehreren Ratingagenturen kommt. Um die verschiedenen Perspektiven der vielfältigen Agenturen wahrnehmen zu können, werden sowohl etablierte Ratingagenturen, die teilweise durch Zusammenschlüsse entstanden sind oder andere Ratingagenturen aufgekauft haben und schon längere Zeit am Markt bestehen, als auch noch relativ junge Start-ups als Beobachtungsobjekte aufgenommen. Zu den etablierten Nachhaltigkeitsratingagenturen, die in dieser Untersuchung befragt wurden, gehören MSCI, RobecoSAM, Sustainalytics, CDP, oekom und VigeoEiris. Die genannten Ratings wurden 2013 nach einer Umfrage unter 702 Nachhaltigkeitsexperten im Rahmen der Rate-the-Rater-Untersuchung unter den 18 wichtigsten Ratings platziert (SustainAbility und GlobeScan 2013, S. 8). Die Nachhaltigkeitsexperten waren am vertrautesten mit den Nachhaltigkeitsratings: Dow Jones Sustainability Index, CDP und FTSE4Good Index Series, die damals noch von Eiris erstellt wurden. Auch in einer Befragung von 1363 Finanzmarktakteuren, zusammengesetzt aus Analysten und Portfoliomanagern, und 704 Unternehmensvertretern aus den Bereichen „Nachhaltigkeit“ und „Investor Relations“ wurden diese Nachhaltigkeitsratings als diejenigen der wichtigsten Ratingagenturen benannt. MSCI, Sustainalytics, CDP, oekom Research und VigeoEiris zählen demnach zu den sechs besten Unternehmen für „SRI research“ (Extel Surveys und SRI-CONNECT 2017, S. 69). Auch nach der Studie der Europäische Kommission, Generaldirektion Finanzstabilität, Finanzdienstleistungen und Kapitalmarktunion (2021, S. 15) zählen MSCI, RobecoSAM, Sustainalytics, CDP, oekom (Übernommen durch ISS-ESG) und VigeoEiris zu den zehn bis fünfzehn wesentlichen Nachhaltigkeitsratingagenturen. Diese Nachhaltigkeitsratingagenturen haben bereits einige Erfahrung sammeln können. RobecoSAM existiert seit 1995 (RobecoSAM 2018). Durch den Erwerb von andern Ratingagenturen verfügt MSCI über mehr als 40 Jahre Erfahrung (MSCI 2018), Sustainalytics blickt auf eine mehr als 25-jährige Unternehmensgeschichte zurück (Sustainalytics 2018). CDP engagiert sich bereits seit mehr als 15 Jahren (CDP 2018), oekom Research wurde 1993 gegründet (Institutional Shareholder Services (ISS) 2018), und VigeoEiris hat mit der Gründung von Eiris 1983 35 Jahre Erfahrung vorzuweisen (VigeoEiris 2018). Neben den etablierten Nachhaltigkeitsratingagenturen wurden auch Start-ups betrachtet, die die Schwächen oder Lücken der etablierten Nachhaltigkeitsratingagenturen nutzen, um neue Dienste anzubieten. Sie ermöglichen daher eine ergänzende und zusätzlich reflektierende Perspektive zu den etablierten Ratingagenturen. Darüber hinaus geben sie einen Hinweis, wie sich die Nachhaltigkeitsratings in Zukunft entwickeln werden. Die Auswahl der Start-ups entstand im Rahmen der Literaturrecherche zum Themenbereich „Nachhaltiges Investment“. Zu den Ausgewählten zählen WikiRate, die 2012 gegründet wurden (Berlin Amtsgericht 2012). Dieses Start-up hat eine öffentlich zugängliche Plattform entwickelt, auf der die Öffentlichkeit die Nachhaltigkeitsleistung von Unternehmen sowohl einsehen als auch bewerten kann, damit Nachhaltigkeitsbewertungen von Unternehmen nicht nur Investoren und Analysten erhalten, sondern auch für weitere Stakeholder zugänglich werden (WikiRate Project e. V. 2018).
Sustainability Intelligence bewertet die Nachhaltigkeitsleistung von Unternehmen. Im Gegensatz zu den klassischen ESG-Ratings berücksichtigt die Agentur auch die ökonomische Dimension, indem sie den Fokus auf die Zukunftsfähigkeit des Geschäftsmodells legt. Sustainability Intelligence wurde im Jahr 2013 gegründet (Sustainability Intelligence 2018).
Das Start-up TrueValue Labs mit Gründung im Jahr 2013 und Sitz in San Francisco analysiert und interpretiert mithilfe von maschineller Verarbeitung natürlicher Sprache (Natural Language Processing), künstlicher Intelligenz (Cognitive Computing) und maschinellem Lernen (machine learning) sehr große Mengen an unstrukturierten Daten (Big Data) in Echtzeit. Die Analyse von aktuellen Ereignissen zu Nachhaltigkeit und ESG-Themen mit dieser Methode soll zu besseren Entscheidungen bei Investoren und Unternehmen führen (TrueValue Labs 2018).
Das Unternehmen Arabesque, das 2013 gegründet wurde, geht mit der Analyse von Nachhaltigkeitsinformationen mithilfe von Big Data und maschinellem Lernen einen Schritt weiter, da es nicht nur die Nachhaltigkeitsleistung bewertet, sondern auf dieser Basis auch Auskunft darüber gibt, wie eine langfristige Wertsteigerung bei gleichzeitiger Risikoreduktion realisiert werden kann (Arabesque 2018).
Damit Entscheidungen mit begrenzter Reflexion in der Organisation wahrgenommen werden können, wird in dieser Untersuchung auf das psychische System von Experten zurückgegriffen. Experten werden als Personen in ihrer Rolle als Mitarbeiter befragt. Die Personen beobachten die Strukturen und geben damit Auskunft über die Erwartungen innerhalb der Organisationen, die die Kommunikation beeinflussen. Es ist daher nicht die Kommunikation der Experten selbst, die untersucht wird, sondern es werden deren Beobachtungen analysiert. Es wird daher, systemtheoretisch betrachtet, mit einer Beobachtung zweiter Ordnung gearbeitet. Im Untersuchungsgegenstand „Volkswagen Konzern“ werden die Personen als Experten identifiziert, die mit dem Inhalt und den Fragestellungen der Nachhaltigkeitsratings vertraut sind und sich auch in ihrer operativen Tätigkeit mit den Erwartungen beschäftigen, wodurch der konkrete Einfluss von Nachhaltigkeitsratingagenturen bekannt ist. Bevorzugt werden die Leiter der Fachbereiche interviewt, um die Entscheidungsrelevanz der Nachhaltigkeitsratings erfahren zu können. Falls dies nicht möglich ist, werden Vertreter aus diesem Fachbereich interviewt. Vorstände und Topmanager gehören nicht zu dem Expertenkreis, da sie bei der konkreten Umsetzung von Erwartungen nicht direkt beteiligt sind und tiefergehende Fragen damit nicht möglich wären. Um dennoch ein möglichst ganzheitliches Bild der Organisation zu erhalten, werden die Fachbereiche, zu denen die Experten gehören, möglichst heterogen ausgewählt. Folgende Fachbereiche werden über Interviews abgedeckt: Nachhaltigkeit, Vertrieb und Marketing, Investor Relations, Betriebsrat, Innovationsmanagement, Beschaffung, Rechtswesen, Entwicklung, Produktion, Personal, Umwelt, Risikomanagement, Arbeitssicherheit, Finanzpublizität, Umweltstrategie und Compliance. Die Interviewpartner wurden per E-Mail angeschrieben, ob sie sich an der Untersuchung beteiligen wollen. Alle Interviewpartner haben sich dazu bereit erklärt, an dem Interview teilzunehmen. Vereinzelt wurde ein Stellvertreter benannt. Es folgte eine Terminabsprache, die in relativ kurzer Zeit zu einem Interview führte. Nach einem Pretest fanden die bilateralen Interviews in einem Besprechungsraum der jeweiligen Interviewpartner statt. Der Erhebungszeitraum erstreckte sich von März 2016 bis November 2016. Die durchschnittliche Dauer der Interviews betrug eine Dreiviertelstunde, wobei das kürzeste Interview 37 Minuten und das Längste eine Stunde und sieben Minuten umfasste. Die Auswahl der Experten der Nachhaltigkeitsratingagenturen basierte auf ähnlichen Kriterien der Auswahl der Unternehmensexperten. Bevorzugt wird mit den Leitern des Researchbereichs gesprochen, um möglichst detaillierte Informationen über die Entwicklung der Bewertungsmethodik und die Unternehmensbewertung zu erhalten. Diese Bereiche stehen meist in einem direkten Austausch mit den Unternehmen, weshalb sie am ehesten Auskunft über den Einfluss von Ratingagenturen auf die Unternehmen geben können. Die Interviewpartner wurden per E-Mail angefragt, ob sie sich an der Untersuchung beteiligen möchten. Alle Interviewpartner der Nachhaltigkeitsratingagenturen haben sich dazu bereit erklärt, an dem Interview teilzunehmen. Vereinzelt wurde ein Stellvertreter benannt. Es folgte eine Terminabsprache, die in relativ kurzer Zeit zu einem Interview führte. Da es sich unter anderem um internationale Nachhaltigkeitsratingagenturen handelte, wurden nach einem Pretest überwiegend persönliche Interviews mit Unternehmensvertretern an deutschen Standorten durchgeführt. Bei den Nachhaltigkeitsratingagenturen Wikirate, TrueValueLabs, und RobecoSAM war dies jedoch nicht möglich, weshalb telefonische Interviews durchgeführt wurden. Bei den anderen Nachhaltigkeitsratingagenturen fand das Interview in Besprechungsräumen der Interviewpartner statt. Üblicherweise waren es bilaterale Gespräche. Bei einer Nachhaltigkeitsratingagentur wurde das Interview mit zwei Personen durchgeführt, bei einer anderen Nachhaltigkeitsratingagentur wurden drei Personen befragt. Der Erhebungszeitraum erstreckte sich von November 2016 bis Februar 2017. Die Dauer der Befragung betrug bei den meisten Interviews zwischen 45 Minuten und einer Stunde.

5.1.2 Vorgehensweise zur Ermittlung der empirischen Ergebnisse

Da die Systemtheorie konstruktivistisch ausgelegt ist und sich durch sich selbst als Theorie weiterentwickeln kann, besteht die Gefahr einer pathologischen Selbstreferenz, die sinnlos wäre. Das Ziel dieser Untersuchung besteht deswegen darin, die systemtheoretische Beschreibung der vorangegangenen Kapitel einer Wirtschaft mit begrenzter Reflexion empirisch zu belegen, aber gleichzeitig auch die Systemtheorie mit neuen Erkenntnissen zu irritieren, um weiteren Sinn zu erzeugen. Es wurde daher eine Methode ausgewählt, mit der sowohl Thesen überprüft werden können als auch Raum für neue Erkenntnisse entsteht.
Etablierte Auswertungsmethoden qualitativer Forschung wie die Grounded Theory (Glaser und Strauss 1998), bei der theoretisch codiert wird, oder die zusammenfassende Inhaltsanalyse (Mayring 2003), die sehr beschreibend ist, arbeiten stark induktiv und eigenen sich gut für die Entwicklung von neuen Theorien. Allerdings sind sie weniger für die Validierung einer Theorie geeignet. Da bei dieser empirischen Untersuchung die These einer Wirtschaft mit begrenzter Reflexion überprüft werden soll und gleichzeitig neue Erkenntnisse zur Weiterentwicklung der detaillierten Ausgestaltung einer solchen Theorie generiert werden sollen, wird die Auswertung auf Basis einer thematischen Codierung in Anlehnung an Hopf und Schmidt (1993) durchgeführt. Dies ermöglicht, auf Basis der bereits bestehenden Theorie Auswertungskategorien abzuleiten und gleichzeitig neue Kategorien aus dem empirischen Material induktiv zu entwickeln.
Die Vorgehensweise nach Hopf und Schmidt (1993) unterscheidet vier Schritte: Zuerst werden Auswertungskategorien entwickelt, dann wird das Material codiert, danach wird eine Fallübersicht erstellt und zuletzt eine vertiefende Analyse von ausgewählten Fällen dargestellt (Kuckartz 2010, S. 85).
Im folgenden Abschnitt wird dargestellt, wie der Interviewleitfaden entwickelt wurde, ferner werden die Fragen beschrieben, mit denen Erkenntnisse zur Prüfung der These ermöglicht werden sollen. Zwar ist Kommunikation die grundlegende Operation, mit der soziale Systeme in der Systemtheorie arbeiten, aber Kommunikation ist nicht der Untersuchungsgegenstand der Systemtheorie.
Aufgrund der ständigen Erneuerung ist die Systemtheorie gar nicht in der Lage Kommunikation zu beobachten. Sie bezieht sich daher auf Erwartungen, die als soziale Strukturen die konkrete Kommunikation lenken (John et al. 2010c, S. 328).
Empirische Untersuchungen sind also besonders dann mit der Systemtheorie kompatibel, wenn sie nicht die Kommunikation direkt beobachtet, sondern sich auf die Strukturen und Erwartungen konzentriert, die die Kommunikation beeinflussen. Da die Kommunikation der Organisation in Entscheidungen besteht, liegt der Fokus dieser empirischen Untersuchung nicht auf der Analyse, wie Entscheidungen mit begrenzter Reflexion getroffen werden, sondern es wird beobachtet, wie im Fall von Entscheidungen mit begrenzter Reflexion die Erwartungen bezüglich Entscheidungen beziehungsweise Entscheidungsprämissen beeinflusst werden. Es wird daher untersucht, wie Nachhaltigkeitsratings Entscheidungsprämissen wie Ziele oder Prozesse beeinflussen, sodass Entscheidungen mit begrenzter Reflexion in der Organisation entstehen. Die Befragung erfolgte auf Basis eines teilstandardisierten Interviews. Ein teilstandardisiertes Interview ist sowohl geschlossen, da es bestimmte Themenschwerpunkte vorgibt, als auch offen, weil die Befragten bisher unberücksichtigte Aspekte ergänzen können. Es ist daher sehr gut geeignet, gleichzeitig eine bestehende Theorie zu überprüfen und neue Erkenntnisse zu ergänzen. Da zu dem untersuchten Themenbereich bereits einige Literatur existiert, flossen diese Erkenntnisse in den Leitfaden ein. Gleichzeitig wurde genug Raum für Ergänzungsmöglichkeiten gegeben, um neue Erkenntnisse zu berücksichtigen, weil der Diskurs noch nicht abgeschlossen ist und die theoretischen Überlegungen ergänzt werden sollen. Zur Erstellung des Fragebogens wurde die bestehende Literatur so berücksichtigt, dass in der Auswertungsphase daraus Kategorien abgeleitet werden konnten. Die Literaturrecherche floss daher sowohl in die Erstellung des Fragebogens als auch in die Entwicklung von Auswertungskategorien ein. Auf der abstrakten Ebene wurden die systemtheoretischen Erkenntnisse berücksichtigt, auf der konkreten Ebene wurden Fragen und Kategorien aus Forschungen zur Pfadabhängigkeit von Unternehmen (Hasenmüller 2013) und insbesondere aus aktuellen Veröffentlichungen zu den Themen Nachhaltiges Investment und Nachhaltigkeitsratings abgeleitet. Da Publikationen zu dem Projekt „Rate the Raters“ (SustainAbility 2010a, 2010b, 2011a, 2011b, 2012, 2018), das die erste und umfangreichste Untersuchung zu Nachhaltigkeitsratings ist, eine Beobachtung der Nachhaltigkeitsratingagenturen zweiter Ordnung darstellt, werden in dieser Untersuchung besonders Relationen zu diesen Erkenntnissen hergestellt und an dieses Wissen angeknüpft. Darüber hinaus werden weitere Dokumente von wesentlichen Institutionen im Bereich des nachhaltigen Investments wie die Weltbank, G20, United Nations, Principles for Responsible Investments, Europäische Kommission und die EU High-Level Expert Group on Sustainable Finance herangezogen. Diese Publikationen sind oftmals eher praktisch als wissenschaftlich ausgelegt, und die Ergebnisse könnten durch eine andere Beobachtung möglicherweise ganz anders ausfallen. Sie bieten daher nur eine wahrscheinliche Aussage über Möglichkeiten und Herausforderungen in diesem Themenfeld. Da meist eine große Anzahl an Experten befragt wird, ergibt sich ein guter Einblick in die gelebten Praktiken und bietet sich ein guter Ausgangspunkt für tiefergehende Untersuchungen, welchen Einfluss Nachhaltigkeitsratings auf die Evolution einer sinnvollen Ökonomie ausüben können. In dem zweistufigen Interview wurden verschiedene Unternehmensvertreter eines Unternehmens und unterschiedliche Ratingagenturen befragt, weshalb zwei Interviewleitfäden entwickelt wurden.
Im Rahmen der Befragung von Unternehmen wurde untersucht, wie Nachhaltigkeitsratings eine begrenzte Reflexion im Unternehmen ermöglichen. Konkret wurde ermittelt, inwieweit Nachhaltigkeitsratings als Treiber für ein nachhaltiges Unternehmen gesehen werden und inwiefern sie Pfadabhängigkeiten eines nicht nachhaltigen Entwicklungspfades auflösen können. Es wurde in der Tiefe untersucht, welchen Einfluss Nachhaltigkeitsratings auf Unternehmensentscheidungen ausüben. Da die Befragung kurze Zeit nach der Dieselkrise stattfand und dieses Ereignis mit der damit verbundenen Abstufung bei Nachhaltigkeitsratings auch einen starken Einfluss auf die Sichtweise der Befragten hinsichtlich des Themas „Nachhaltigkeitsratings“ hätte ausüben können, wurden die Interviewpartner grundsätzlich zur Situation vor und nach der Dieselkrise befragt. Die Untersuchung gibt daher nicht nur Aufschluss darüber, wie ein Unternehmen mit einer guten Nachhaltigkeitsleistung mit Nachhaltigkeit und Nachhaltigkeitsratings umgeht, sondern auch dazu, wie sich dieser Umgang durch ein negatives Nachhaltigkeitsereignis verändert. Der Interviewleitfaden für die Befragten des Unternehmens gliedert sich in vier Themenbereiche. Im ersten Themenbereich werden die Motive für Nachhaltigkeit abgefragt, um herauszufinden, welche Treiber für das Unternehmen relevant sind. Der Teil der Befragung folgt der Logik vom Abstrakten zum Konkreten, da die Bedeutung von Nachhaltigkeit zuerst bezüglich der Gesellschaft, anschließend in Bezug auf Unternehmen und letztendlich hinsichtlich des Unternehmensbereichs abgefragt wird. Zu Beginn der Befragung wurde der Interviewpartner gebeten, die Bedeutung von Nachhaltigkeit für die Gesellschaft abzuschätzen. Damit sollte zum einen der Einstieg in die Befragung erleichtert werden und zum anderen war herauszufinden, welche individuelle Einstellung der Befragte zum Thema „Nachhaltigkeit“ hat. Damit die Bedeutung von Nachhaltigkeitsratings innerhalb des Unternehmens besser eingeordnet werden konnte, wurde untersucht, welche Bedeutung dem Thema „Nachhaltigkeit“ im Unternehmen überhaupt zukommt. Dazu wurde zuerst die Bedeutung von Nachhaltigkeit innerhalb des Unternehmens und anschließend innerhalb des Bereichs, in dem der jeweilige Befragte tätig gewesen ist, betrachtet. Da die Dieselkrise des Volkswagen Konzerns kurz vor der Erhebung auftrat, wurde die Bedeutung von Nachhaltigkeit sowohl vor der Dieselkrise als auch nach der Dieselkrise ermittelt. Im zweiten Themenbereich wird die Bedeutung von Nachhaltigkeitsratings als Treiber ermittelt. Dieser Teil verfolgt die entgegengesetzte Logik vom Konkreten zum Abstrakten. Ausgehend von der Bedeutung von Nachhaltigkeit auf der Bereichsebene, wurde übergeleitet auf die Bedeutung von Nachhaltigkeitsratings innerhalb des Bereichs. Anschließend wurde die Bedeutung von Nachhaltigkeitsratings für das Unternehmen untersucht. Die Bedeutung von Nachhaltigkeitsratings wurde ebenso jeweils vor und nach der Dieselkrise abgefragt. Am Ende des Interviews erging an die Befragten die Bitte, eine Einschätzung der Bedeutung von Nachhaltigkeitsratings für die Gesellschaft zu geben, um mit einer offenen Abschlussfrage bisher unberücksichtigte Themen und unerwähnte Aspekte zu erfassen. Zuvor wurde jedoch in einem dritten Themenbereich untersucht, welchen konkreten Einfluss Nachhaltigkeitsratings auf Unternehmensentscheidungen haben. Hier sollten die Befragten möglichst konkrete Beispiele nennen, wie Nachhaltigkeitsratings Organisationsentscheidungen beeinflusst haben. Im vierten Themenbereich wurden die Barrieren ermittelt, die den Einfluss von Nachhaltigkeitsratings als Treiber beschränken.
In einem zweiten Schritt wurden die Nachhaltigkeitsratingagenturen untersucht. Mit einer Abfrage von konkreten Beispielen, wie Unternehmen durch Nachhaltigkeitsratings beeinflusst werden, sollen die Erkenntnisse der Unternehmensbefragung verifiziert werden. Da die Nachhaltigkeitsratingagenturen im Austausch mit einer Vielzahl von Unternehmen stehen, ist Ihnen auch für eine Vielzahl von Unternehmen der Einfluss der Nachhaltigkeitsratingagenturen bekannt. Im Vergleich zur Unternehmensbefragung wird mit der Befragung der Nachhaltigkeitsratingagenturen dadurch eine breitere Perspektive eingenommen, mit der eher generalisierende Aussagen getroffen werden können. Zudem wird die Rolle der Nachhaltigkeitsratings bezüglich der Berücksichtigung der Gesellschaft in der Wirtschaft analysiert. Indem die Rolle der Nachhaltigkeitsratings für eine nachhaltige Entwicklung der Wirtschaft und Gesellschaft erfragt wird, wird untersucht, welche Bedeutung Nachhaltigkeitsratingagenturen für die Selbststeuerung der Wirtschaft haben. Die Ratingagenturen werden unabhängig vom Volkswagen Konzern befragt, damit die Erkenntnisse aus der Unternehmensbefragung noch besser verallgemeinert werden können und die Erfahrungen der Ratingagenturen nicht auf dem Volkswagen Konzern beschränkt bleiben, sondern auch die Wirkungen auf andere Unternehmen berücksichtigt werden. Aus einer eher makroökonomischen Perspektive wird die Bedeutung der Nachhaltigkeitsratings als Treiber für die nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft untersucht. Der Interviewleitfaden für die Nachhaltigkeitsratingagenturen orientiert sich sowohl an der Literatur zum nachhaltigen Investment als auch an den Erkenntnissen, die aus der ersten Stufe des Experteninterviews, also der tiefergehenden Analyse innerhalb des Unternehmens, gezogen werden. Nachhaltigkeitsratings wurden zuerst hinsichtlich ihrer Ziele, Methoden und Vorgehen befragt, um herauszufinden, wie und woher die Nachhaltigkeitsansprüche entstehen, die die Nachhaltigkeitsratingagenturen ihrem Rating zugrunde legen. Danach wurde die Bedeutung der Nachhaltigkeitsratings für die Finanzwirtschaft und anschließend für die Realwirtschaft ermittelt. Dafür wurden konkrete Beispiele für den Einfluss von Nachhaltigkeitsratings auf die bewerteten Unternehmen abgefragt. Abschließend wurden die Barrieren und Herausforderungen der Nachhaltigkeitsratings untersucht und die Rolle der Politik abgefragt. Mit einer offenen und sehr allgemeinen Frage zur Rolle von Nachhaltigkeitsratings für die Gesellschaft wird dem Interviewten die Möglichkeit eingeräumt, am Ende noch unberücksichtigte Themen oder weitere Aspekte anzusprechen.
Die Interviews wurden wie folgt durchgeführt. Der Ablauf der Interviews bei dem Unternehmen und den Nachhaltigkeitsratingagenturen gestaltete sich recht ähnlich. Das Interview wurde aus datenschutzrechtlichen Gründen mit einem nicht internetfähigen Diktiergerät aufgezeichnet. Es wurden zwei Geräte verwendet, um durch Redundanz die Datensicherheit zu erhöhen. Nach einer Begrüßung und persönlichen Vorstellung wurden kurz die Forschungsfrage und der Ablauf des Interviews dargestellt. Es gab keine Rückfragen bezüglich der Bedeutung oder des Sinns der Untersuchung. Nach den teilstandardisierten Fragen wurde noch eine offene Frage ans Ende gestellt, um mögliche Themen, die bisher nicht erfragt worden sind, zu erfassen. So wurde beispielsweise der Hinweis auf Qualitätsstandards bei Nachhaltigkeitsratings gegeben. Die Beantwortung der gestellten Fragen verlief sehr unterschiedlich. Einige Befragte zeigten sich sehr offen und beantworteten die Fragen sehr ausführlich, vereinzelt auch ausschweifend, was teilweise andere Fragen vorwegnahm, weshalb die Reihenfolge der Interviewfragen verändert werden musste. Demgegenüber gab es auch Interviewpartner, besonders Führungskräfte, die ihre Antworten sehr kurzhielten, aber sehr prägnant waren. In solchen Interviews wurden zusätzlich offene Nachfragen gestellt, um tiefer liegende Informationen zu erhalten. Das Interview wurde wortgetreu transkribiert und in einem zweiten Durchlauf nochmals auf Fehler überprüft und anschließend anonymisiert.
Die Auswertung umfasste folgende Schritte. Nach der Durchführung und Transkription der Interviews erfolgte das Codieren der Transkripte. Im Rahmen des ersten Schrittes wurden die Kategorien aus der Literatur abgeleitet, die auch bei der Erstellung des Fragebogens berücksichtigt wurden. Welche Quellen in die Kategorienbildung einflossen, wird in den Ergebnissen der empirischen Untersuchung anhand der ausgewählten Fälle der vertiefenden Analyse dargestellt, indem vor den jeweiligen Fällen die bereits erschlossenen Erkenntnisse der Literatur beschrieben werden. In einem zweiten Schritt wurden diese Kategorien in der Befragung überprüft und gegebenenfalls angepasst oder um neue Kategorien ergänzt. Damit die Codierung konsistent bleibt, waren nach dem ersten Durchgang ähnliche Codierungen zusammenzufassen beziehungsweise logisch zu gruppieren. Da im Verlauf der ersten Codierung weitere Kategorien dazukamen, die noch nicht bei allen Transkripten angewendet wurden, waren in einem zweiten Codierungsdurchgang alle Transkripte hinsichtlich der neu entwickelten Kategorien zu überprüfen. Im letzten Schritt wurden die Kategorien den systemtheoretischen Überlegungen aus dem ersten Teil der Arbeit angepasst, um die These, dass Nachhaltigkeitsratings durch eine begrenzte Reflexion in Unternehmen eine Selbststeuerung der Wirtschaft ermöglichen, überprüfen zu können. Auf Basis der Interviews mit Unternehmensvertretern wurden Kategorien erarbeitet, die die Motive und die Barrieren des Unternehmens für eine Auseinandersetzung mit Nachhaltigkeit und Nachhaltigkeitsratings darstellen. Zudem wurden Kategorien entwickelt, die die Veränderungen durch Nachhaltigkeitsratings innerhalb der Organisation und der Gesellschaft insgesamt beschreiben. Auf Grundlage der Interviews mit Nachhaltigkeitsratingagenturen wurden Kategorien zu den Zielen und Methoden der Nachhaltigkeitsratingagenturen bestimmt. Zudem wurden Kategorien bezüglich des Einflusses der Nachhaltigkeitsratingagenturen auf die Real- und Finanzwirtschaft und die Gesellschaft gebildet. Zuletzt wurden Kategorien erzeugt, die die Herausforderungen der Nachhaltigkeitsratingagenturen und die Rolle der Politik beschreiben. Der dritte Schritt umfasste die Erstellung einer Fallübersicht. Dieser quantitative Überblick auf Grundlage einer Häufigkeitsauszählung gibt einen ersten Eindruck hinsichtlich der Relevanz einzelner Kategorien. Es konnten auf Basis der Fallübersicht weitere Zusammenhänge entdeckt und im Material näher analysiert werden. Eine Fallübersicht wurde insbesondere für eine bessere Einschätzung der Bedeutung, der Treiber und der Barrieren von Nachhaltigkeit und den Nachhaltigkeitsratings herangezogen. Die Fallübersicht mit repräsentativen Zitaten ist Teil des Codebuchs. Mithilfe der Fälle konnten die aus der Literatur abgeleiteten Erkenntnisse besonders gut bestätigt oder widerlegt werden. Insgesamt geben die ausgewählten Fälle repräsentative Antworten auf die Fragestellungen des Interviewleitfadens.
Durch die Darstellung des Einflusses von Nachhaltigkeitsratings auf Unternehmensentscheidungen aus Sicht des Unternehmens und aufgrund der Beschreibung der Nachhaltigkeitsratings als Treiber für eine nachhaltige Ausrichtung von Unternehmen und der damit verbundenen Pfadabhängigkeiten, die einen nachhaltigen Entwicklungspfad behindern, kann gezeigt werden, wie Nachhaltigkeitsratings eine begrenzte Reflexion in Unternehmen ermöglichen. Mit der Beschreibung des Einflusses der Nachhaltigkeitsratings auf die Unternehmensentscheidungen aus Sicht der Nachhaltigkeitsratings ist es möglich, die Erkenntnisse der Unternehmensbefragung generalisiert zu überprüfen, sodass eine begrenzte Reflexion durch Nachhaltigkeitsratings und die Erzeugung von Entscheidungen mit begrenzter Reflexion nachvollziehbarer wird. Mit einer fallbezogenen Beschreibung der Bedeutung von Nachhaltigkeitsratings für eine nachhaltige Entwicklung der Wirtschaft und Gesellschaft kann dargestellt werden, welche Bedeutung Nachhaltigkeitsratingagenturen für die Selbststeuerung der Wirtschaft zukommt.
Insgesamt wird durch diese Auswertung möglich, die These zu überprüfen, ob Nachhaltigkeitsratings eine Selbststeuerung der Wirtschaft durch eine begrenzte Reflexion in Unternehmen ermöglichen.
Dazu werden mit einem Transfer der systemtheoretischen Überlegungen aus Kapitel 4 auf den konkreten Anwendungsfall der Nachhaltigkeitsratings folgende Unterthesen überprüft:
Mit der Erzeugung einer höheren Reflexion der Gesellschaft unterstützen Nachhaltigkeitsratings die Auflösung des bisherigen Evolutionspfades des Wirtschaftssystems. (Abschnitt 5.3)
 
Mithilfe der Generalisierung tragen Nachhaltigkeitsratings zu einer Stabilisierung eines neuen Evolutionspfades für eine Wirtschaft mit beschränkter Reflexion bei. (Abschnitt 5.4)
 
Die begrenzte Reflexion durch Nachhaltigkeitsratings ermöglicht einen Reentry der Gesellschaft in die Wirtschaft und trägt zur Selbststeuerung der Wirtschaft bei. (Abschnitt 5.5)
 
Die folgenden Ausführungen stellen eine Zusammenfassung der Ergebnisse der empirischen Untersuchung dar und umfassen insbesondere die Interpretation der Ergebnisse der Auswertung in Bezug auf die systemtheoretischen Thesen.

5.2 Evolution einer Wirtschaft mit begrenzter Reflexion

Eine Wirtschaft mit begrenzter Reflexion entsteht, wenn in Unternehmen eine begrenzte Reflexion der Gesellschaft stattfindet. Wenn Unternehmen zu einer Wirtschaft mit begrenzter Reflexion der Gesellschaft beitragen, unterstützen sie die Selbsterhaltung der Gesellschaft. Das heißt, einen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung der Gesellschaft leistet ein Unternehmen, wenn es die Erwartungen der anderen Systeme berücksichtigt und sich so beschränkt, dass die Möglichkeiten der anderen Systeme nicht eingeschränkt werden und sie weiterhin ihre Autopoiesis fortsetzen können. Wie bereits in Abschnitt 2.​2.​3 beschrieben, kann systemtheoretisch die Evolution von Organisationen verändert werden, wenn durch einen Einfluss auf Pfadabhängigkeiten die Rahmenbedingungen für Entscheidungen verändert werden. Im folgenden Kapitel werden anhand der Nachhaltigkeitstreiber und -barrieren die Einflüsse auf die Evolution eines Unternehmens mit begrenzter Reflexion dargestellt, ferner wird die Rolle der Nachhaltigkeitsratings beschrieben.

5.2.1 Bedeutung von Nachhaltigkeit in Unternehmen

Für den Wandel von Unternehmen zu einer stärkeren begrenzten Reflexion müssen die Entscheidungen innerhalb der Organisation verändert werden.
Das Management einer Organisation arbeitet mit einem vereinfachten Abbild der Organisation innerhalb der Organisation, indem die Organisation vom Rest der Gesellschaft differenziert wird. Das Abbild der Organisation kann daher als Reentry der Differenz zwischen Organisation und Gesellschaft in die Organisation angesehen werden. Es ähnelt sich zwar der Organisation, unterscheidet sich jedoch von der Realität. Dabei können unterschiedliche Managementkonzepte innerhalb einer Organisation existieren, die miteinander konkurrieren. Es bestehen also unterschiedliche Formen, wie die Differenz zwischen Organisation und Gesellschaft gesetzt werden kann, wodurch die Reproduktion in der Organisation unterschiedlich gesteuert wird (Baecker 2003, S. 228).
Gesellschaftliche Aspekte werden für Unternehmen immer wichtiger. 97 % der Vorstände internationaler Unternehmen glauben, dass Nachhaltigkeit wichtig für den zukünftigen Geschäftserfolg ist (UN Global Compact und Accenture 2016). Am ehesten wird die Bedeutung von Nachhaltigkeit anhand der Transparenz der Unternehmen ersichtlich (UN Principles for Responsible Investment (UN PRI) 2017, S. 33). Besonders die Nachhaltigkeitsberichterstattung hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Während von den 100 größten Unternehmen aus 49 Ländern 1993 lediglich 12 % einen Nachhaltigkeitsbericht publizierten, waren es 2017 bereits 75 % (KPMG International Cooperative 2017, S. 10). Als Ursache für die zunehmende Transparenz können gestiegene Anforderungen von Stakeholdern, worunter auch der Gesetzgeber fällt, gesehen werden (Guenther et al. 2015). Ein weiteres Anzeichen für eine zunehmende Bedeutung von Nachhaltigkeit sind, wie in Abschnitt 5.5.1 beschrieben, der wachsende Markt für nachhaltige Investments und das damit zusammenhängende Wachstum der Nachhaltigkeitsratings.
Im untersuchten Unternehmen wird deutlich, dass die Relevanz von Nachhaltigkeit stark mit Wirtschaftlichkeit zusammenhängt.
Zwar hat das befragte Unternehmen bereits vor der Krise einige Bemühungen unternommen, sich zu einem nachhaltigen Unternehmen zu entwickeln (Interview U8, Pos. 5). Allerdings wurde das als nicht ausreichend eingeschätzt (Interview U11, Pos. 6). Es folgte die Dieselkrise. Direkt danach verschob sich der Fokus des Unternehmens durch die existenzielle Bedrohung nahezu vollständig von der gesellschaftlichen Umwelt hin zu einer wirtschaftlichen Rationalität, um kurzfristig die Zahlungsfähigkeit nicht zu verlieren: „Aber in diesem Spannungsfeld befinden wir uns gerade und während des Umbaus, glaube ich, stehen noch mal andere Themen im Vordergrund als Nachhaltigkeit.“ (Interview U6, Pos. 14) Die Kommunikation zu Nachhaltigkeit wurde nahezu vollständig eingestellt (Interview U2, Pos. 8). Im Zweifel scheint die Priorität also nicht auf der Gesellschaft, sondern auf der Selbsterhaltung der Organisation zu liegen. Das Unternehmen kündigte an, dass nach der Krise Nachhaltigkeit wieder stärker in den Entscheidungen berücksichtigt wird (Interview U17, Pos. 15–16).
Dies deutet darauf hin, dass gesellschaftliche Themen berücksichtigt werden müssen, damit das Unternehmen langfristig wirtschaftlich operieren und sich selbst erhalten kann. Allerdings kann das Unternehmen nicht sofort alle gesellschaftlichen Erwartungen erfüllen, sondern ist durch Pfadabhängigkeiten und weitere wirtschaftliche Zwänge gebunden. Das Problem resultiert aus der allgemeinen Paradoxie, die Gesellschaft in der Wirtschaft zu berücksichtigen. Das Unternehmen löst diese allgemeine Paradoxie von Wirtschaft und Gesellschaft temporal auf, indem kurzfristig erst mal der Fokus auf Wirtschaft und dann langfristig auf die Gesellschaft gelegt wird. Die Dieselkrise zeigt, welche Abhängigkeiten zwischen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aspekten bestehen. Eine zu geringe Berücksichtigung von gesellschaftlichen Aspekten kann zu negativen wirtschaftlichen Folgen führen, wie auch die zu starke Berücksichtigung von gesellschaftlichen Aspekten in bestimmten Situationen zu einer wirtschaftlichen Gefahr werden kann. Zwar gibt es einen langfristigen Trend durch die Verschiebung der Generalisierung von einem kurzfristigen Fokus auf wirtschaftliche Aspekte zu einem langfristigen Fokus auf gesellschaftliche Aspekte, der aber weder schlagartig noch linear verlaufen kann. Es ist ein schmaler Grat, auf dem der Weg aus zu viel und zu wenig gesellschaftlicher Berücksichtigung zu einer Wirtschaft mit begrenzter Reflexion führt.
Wie bereits in Abschnitt 4.​3.​2 beschrieben, gibt es unterschiedliche Selbstbeschreibungen der Organisation. Mit der Finanzberichterstattung und der Nachhaltigkeitsberichterstattung gibt es zwei unterschiedliche Differenzen, die zwischen Organisation und Gesellschaft gesetzt werden, wodurch zwei unterschiedliche vereinfachte Abbildungen der Organisation entstehen, die nach außen getragen werden. Ähnlich dazu gibt es das klassische betriebswirtschaftliche Managementmodell der Organisation (Gutenberg 1998), das die Differenz der Organisation sehr stark in Bezug zum Wirtschaftssystem abgrenzt. Demgegenüber entsteht ein Nachhaltigkeitsmanagement (Hasenmüller 2013), das die Grenzen zwischen Organisation stärker in Richtung Gesellschaft setzt und dadurch den Fokus von einer reinen wirtschaftlichen Perspektive auf eine eher gesellschaftliche Perspektive verschiebt.
Es gibt einige Faktoren, die die Entstehung einer solchen internen Steuerungsform, die eine stärkere gesellschaftlich orientierte Differenz zwischen Organisation und Umwelt innerhalb der Organisation setzt, positiv beeinflussen können und damit wahrscheinlicher machen. Ein solches Nachhaltigkeitsmanagement kann sich besonders gegenüber etablierten Managementansätzen durchsetzen, wenn Nachhaltigkeit in der Unternehmensstrategie verankert ist (siehe dazu auch Abschnitt 4.​3.​1). Auch auf der Strukturebene sollte das Geschäftsmodell auf Nachhaltigkeit ausgerichtet werden. Durch Unterstützung seitens des Vorstandes und durch regelmäßige Kommunikation kann Nachhaltigkeit stärker in die Unternehmenskultur aufgenommen werden. Darüber hinaus kann die Integration von Nachhaltigkeit durch organisationales Lernen und Promotoren beeinflusst werden. Zudem gibt es eine Reihe von Ansätzen, die das Nachhaltigkeitsbewusstsein im Unternehmen steigern. Dazu gehören Informations- und Kommunikationsinstrumente oder Maßnahmen, die Motivation für ein nachhaltiges Handeln erzeugen. Darüber hinaus gibt es einige Ansätze, die Anreize schaffen, dass Nachhaltigkeit stärker in den Entscheidungen berücksichtigt wird. Neben intrinsischen Anreizen kommen extrinsische Anreize infrage. Neben einer Führung von unten, die die intrinsische Motivation unterstützt, kann ein taktisches Verhalten auf der Führungsebene die Pfadschaffung unterstützen (Hasenmüller 2013, S. 283 ff.).
Neben Treibern gibt es jedoch auch Pfadabhängigkeiten, die eine stärkere Berücksichtigung der Gesellschaft verhindern. Bei Pfadabhängigkeiten handelt es um einen evolutorischen Prozess, der stark von Kontingenz geprägt ist. Pfadabhängigkeiten entstehen weder ausschließlich durch Planung noch absolut zufällig. Das heißt, für Organisationen ist diese Evolution nicht direkt steuerbar, aber es besteht eine gewisse Einflussmöglichkeit, einen Pfad zu verändern. Bei der Untersuchung von Pfadabhängigkeiten geht es vor allem darum, herauszufinden, wie ein bestehender Pfad gebrochen beziehungsweise aufgelöst oder wie ein neuer Pfad geschaffen werden kann. Pfadabhängigkeiten können besonders dann überwunden werden, wenn der bestehende Pfad durch einen externen Einfluss oder auf einer höheren Ebene gebrochen wird. Je nach selbstverstärkendem Mechanismus müssen bei einer Reform einzelne Regeln bis zu ganzen Regelstrukturen verändert werden. Damit ein Pfad aufgebrochen werden kann, müssen die Ursachen des Pfades bekannt sein. Vertreter von Pfadkreationsansätzen gehen von einer höheren Steuerungsfähigkeit aus. Während die Vertreter der Pfadbrechung annehmen, dass Pfade eher aus zufälligen Ereignissen entstehen und sich nur im Nachhinein durch externe Eingriffe verändern lassen, gehen Vertreter des Pfadkreationsansatzes davon aus, dass Akteure die Evolution von Pfaden strategisch und planbar beeinflussen können. Mit einem Fokus auf die Möglichkeiten von Unternehmern und deren Innovationen wird es als wahrscheinlich erachtet, dass neue Pfade erschaffen werden können. Bei der Pfadschaffung geht es um bewusste Abweichungen und die Erzeugung einer Dynamik, die zu einer Veränderung des kollektiven Handelns von Akteuren führt. Voraussetzung für die Pfadschaffung ist jedoch ausreichend Zeit, damit mit Zufällen gespielt werden kann und Innovationen getestet werden können. Gleichzeitig müssen Institutionen und Marktverhältnisse unterstützend wirken, damit ein neuer Pfad sich durchsetzen kann. Für die Schaffung eines neuen Pfades müssen bestehende Grenzen erweitert werden. Dafür ist ein zukünftiger Nutzen überzeugend darzustellen (Hasenmüller 2013, S. 263 ff.).

5.2.2 Treiber von Nachhaltigkeit in Unternehmen

Für die Evolution eines Unternehmens mit begrenzter Reflexion braucht es Irritationen, die das Unternehmen in den entsprechenden Entwicklungspfad lenken. Es existieren bereits wissenschaftliche Untersuchungen, die beschreiben, welche Treiber zu einer nachhaltigeren Ausrichtung von Unternehmen führen können. Dies ist aus systemtheoretischer Sicht nicht mit absoluter Sicherheit gegeben, da jedes Unternehmen individuell ist. Wie in Abschnitt 2.​2.​3 beschrieben, ist dieser Einfluss auf die Organisation aber mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erfolgreich und kann zu anderen Entscheidungen und damit zu einer anderen Evolution führen.
Die zunehmende Bedeutung von Nachhaltigkeit für Unternehmen kann auf zwei wesentliche Gründe zurückgeführt werden. Einerseits gibt es einen höheren gesellschaftlichen Druck, der dazu führt, dass Nachhaltigkeit stärker in der Unternehmensstrategie berücksichtigt wird (Hasenmüller 2013, S. 30). Es gibt bei Unternehmen eine Reihe von Stakeholdern, die zwar unterschiedliche Motive haben, aber gemeinsam die Entscheidungen von Unternehmen hinsichtlich Nachhaltigkeit beeinflussen. Auch institutionelle Kräfte wie Regulierung, Standards und Zertifizierungen üben Einfluss auf die Nachhaltigkeit der unternehmerischen Operationen aus (Aguinis und Glavas 2012, S. 941). Neben den externen Faktoren zeigen Unternehmen aber auch ein gewisses Eigeninteresse, die Unternehmensstrukturen und -prozesse nachhaltiger auszurichten (Hasenmüller 2013, S. 30). Unternehmen haben das Motiv, sich mit Nachhaltigkeit zu beschäftigen, da dies positive wirtschaftliche Effekte bewirken kann (siehe Abschnitt 4.​3.​1). Gleichzeitig gibt es jedoch auch einen normativen Anspruch, der in den Unternehmenswerten liegt, indem Unternehmen beispielsweise versuchen „das Richtige zu tun“ (Aguinis und Glavas 2012, S. 943).
Zwar spielen auch individuelle Faktoren wie die intrinsische Motivation eine Rolle in der nachhaltigen Ausrichtung von Unternehmen, allerdings liegen die psychologischen Faktoren außerhalb des Beobachtungshorizonts vorliegender Arbeit, die daher separat untersucht werden müssten.
Hasenmüller (2013, S. 44 f.) beschreibt auch Rückkopplungseffekte, die einen selbstverstärkenden Mechanismus erzeugen können. Nachhaltigkeit kann einen größeren Effekt auf die Wirtschaftlichkeit ausüben, wodurch mehr Anreize entstehen, in Nachhaltigkeit zu investieren, was zu Wettbewerbsvorteilen führen kann, die die Wirtschaftlichkeit wiederum beeinflussen. Durch die gezielte Einflussnahme auf diese selbstverstärkenden Effekte kann unter Umständen ein nachhaltigkeitsorientierter Unternehmenspfad kreiert werden. Hierbei wird deutlich, dass die Zahlungsfähigkeit von den gesellschaftlichen Erwartungen abhängig ist, aber gleichzeitig die gesellschaftlichen Erwartungen nur unter der Berücksichtigung von Effekten auf die Zahlungsfähigkeit erfüllt werden können. Zukünftig muss daher auch stärker auf die gesellschaftlichen Erwartungen geachtet werden, damit die Zahlungsfähigkeit gesichert ist. Nur wenn ein Unternehmen nicht die eigenen Grundlagen zerstört, wird es durch die Aufrechterhaltung der Zahlungsfähigkeit belohnt und kann weiterexistieren.
In der Literatur wurden bereits sowohl interne als auch externe Treiber für die Entstehung einer nachhaltigen Organisation identifiziert. Während externe Treiber vornehmlich eine gesellschaftliche Reflexion im Unternehmen ermöglichen, unterstützen überwiegend interne Treiber sowohl eine Generalisierung von Nachhaltigkeit als auch einen Reentry der Gesellschaft in das Unternehmen.
Zu den externen Treibern, die gesellschaftliche Erwartungen an das Unternehmen herantragen und damit eine gesellschaftliche Reflexion ermöglichen, werden in wissenschaftlichen Arbeiten wie der von Bassen et al. (2005) oder Haigh und Jones (2006) beispielsweise Investoren, Konsumenten, NGOs, Medien und die Politik genannt.
In Unternehmen gibt es eine Vielzahl von individuellen Anfragen von Stakeholdern zu Daten und Informationen über die nachhaltigkeitsbezogene Leistung, einschließlich – aber nicht nur – Großkunden, Gesetzgeber, NGOs, Verbände, Medien, lokale Gemeinden, Forschungseinrichtungen, Aktionäre, Investoren und nachhaltigkeitsbezogene Ratings, Daten, Rankings und Benchmark-Anbieter. Nachhaltigkeitsratingagenturen bilden daher nur einen Teil dieser Nachfrage (Europäische Kommission, Generaldirektion Finanzstabilität, Finanzdienstleistungen und Kapitalmarktunion 2021, S. ii).
Die häufigsten externen Treiber, die von den Experten des Unternehmens genannt wurden, sind Politik (Interview U7, Pos. 11–12), Gesellschaft (Interview U18, Pos. 2) und Investoren (Interview U3, Pos. 15–16), weshalb auch die Einschätzung der Nachhaltigkeitsratingagenturen immer wichtiger für die Refinanzierungskosten geworden ist.
Für mich ist es eine ganz besondere Situation. Wir haben ja bei Volkswagen die Gleichrangigkeit von Wirtschaftlichkeit und Beschäftigungssicherung. Das ist ein wesentlicher Punkt und das ist auch in der Unternehmenspolitik so verankert. Und ohne die gute Bewertung des Standings der Nachhaltigkeit eines Unternehmens habe ich auch eine andere Fremdkapitalfinanzierung zu leisten / andere Zinsbeaufschlagung zu leisten, und letztendlich kann ich dann auch nicht so gewinnorientiert arbeiten, wie ich es gerne würde. Bei einer hohen Fremdkapitalaufnahme, wie wir sie hier haben, habe ich ein anderes Geschäftsmodell zugrunde liegen – und letztendlich, wenn ich es nicht erfülle, gefährde ich eben auch den Aspekt der Beschäftigungssicherung – weil ich dann den wirtschaftlichen Gewinn nicht mehr einfahren kann. Also es ist ein direkter Zusammenhang zwischen Einstufung von Nachhaltigkeit eines Unternehmens, der Refinanzierung des Unternehmens und damit letztendlich der Absicherung der Fremdkapitalquoten und damit auch der Gewinnerzeugung des Unternehmens. (Interview U4, Pos. 5–6)
Von geringerer Bedeutung sind NGOs (Interview U12, Pos. 8), Wissenschaft (Interview U4, Pos. 11–12) und Medien (Interview U18, Pos. 8). Aber auch Mitarbeiter1 versuchen, Nachhaltigkeit zu fördern, da sie das Thema als wichtig erachten (Interview U12, Pos. 12). Durch ein vielfältiges Netzwerk an Stakeholdern aus diversen gesellschaftlichen Funktionssystemen ist das Unternehmen in der Lage, eine höhere Sensibilität gegenüber gesellschaftlichen Erwartungen zu erzeugen, dies ermöglicht, sich durch die stärkere gesellschaftliche Reflexion ausgiebiger mit Nachhaltigkeit auseinanderzusetzen.
Neben externen Treibern haben aber auch interne Treiber einen großen Einfluss auf die nachhaltige Ausrichtung eines Unternehmens. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass die internen Treiber sogar wichtiger für die nachhaltige Ausrichtung einer Organisation sind als die externen Treiber (Orlitzky et al. 2015, S. 14 ff.). Dies steht im Einklang mit der systemtheoretischen Perspektive, dass sich Systeme nur durch Selbststeuerung verändern, aber Irritationen von außen diesen Selbststeuerungsprozess auch beeinflussen können. Durch Stakeholder-Anforderungen kann die gesellschaftliche Reflexion im Unternehmen gesteigert werden. Damit die gesellschaftlichen Themen allerdings Eingang in Operationen der Organisation finden und eine Entscheidung getroffen werden kann, muss der Möglichkeitshorizont der Gesellschaft so reduziert werden, dass Entscheidungen mit einer bestimmten Sicherheit getroffen werden können. Diese Sicherheit kann durch die Generalisierung von Nachhaltigkeit aufgebaut werden. Denn dadurch entstehen Entscheidungserwartungen, mit denen die gesellschaftliche Reflexion begrenzt wird. Im untersuchten Unternehmen sorgen besonders Eigeninteresse (Interview U20, Pos. 6), Strategien (Interview U17, Pos. 7–8), die Berichterstattung (Interview U20, Pos. 11–12) und Nachhaltigkeitsratingagenturen (Interview U10, Pos. 27–28) für eine Begrenzung von möglichen gesellschaftlichen Themen und der gesellschaftlichen Reflexion, wodurch Erwartungsstrukturen aufgebaut werden können. Am Beispiel der Nachhaltigkeitsratingagenturen wird deutlich, wie es möglich wird, dass die Gesellschaft in den Entscheidungen des Unternehmens berücksichtigt werden kann.
Naja, vielleicht kann man schon sagen, dass im Unternehmen die Erkenntnis entstanden ist, dass Ratings eine Rolle spielen und damit das auf ein Rating auszahlt muss man das in irgendeiner Form systematisieren und gezielt verfolgen, und damit entwickelt es sich auch von der reinen Einstellung der Leute und dem Gesamtkonsens im Unternehmen zu einem systematischen Prozess. Das ist wahrscheinlich ein wesentlicher Punkt, das kann eine wesentliche Erkenntnis sein, aus der Forschung dazu, dass es halt einen Unterschied gibt, ob ich, sag ich mal, so einen Grundkonsens habe oder ob man das systematisch anhand von Regeln, Leitlinien, Programmen, Zielen, zugeordneten Budgets usw. macht, also ob es Teil des Unternehmensbetriebssystems ist, inklusive Zielsetzung usw., oder ob es eher so auf so einer Werteebene ist. Bei Volkswagen ist eben gelungen, von einer reinen Werteebene auf eine also im Betriebssystem des Unternehmens zu verankern, genauso wie Qualität und Wirtschaftlichkeit. Und ich glaube, das ist der entscheidende Unterschied, den wir gemacht haben, und da kann schon ein Auslöser sein, dass wir gesagt haben, wenn wir darüber extern sprechen wollen, wenn wir intern damit erfolgreich sein wollen, dann müssen wir es eben so systematisieren. (Interview U9, Pos. 27–30)
Die Bedeutung der internen Treiber von Nachhaltigkeit ist auch abhängig von den externen Treibern. In dem untersuchten Unternehmen kam das Thema „Nachhaltigkeit“ erstmals durch wissenschaftliche Untersuchungen auf. Anschließend hatte sich das Unternehmen insbesondere durch individuelle Motive und aus dem Gefühl einer gesellschaftlichen Verantwortung und aus sich selbst heraus damit beschäftigt. Danach entstand erst ein externer Druck durch NGOs, Investorenanforderungen und die Politik, wodurch sich das Unternehmen intensiver damit auseinandersetzte. Dazu kamen höhere Anforderungen an die Berichterstattung und seitens der Kunden, weshalb das Unternehmen Nachhaltigkeit stärker in die Unternehmensstrategie verankerte (Interview U11, Pos. 12; Interview U17, Pos. 22).
Der Wandel zu einer sinnvollen Organisation kann nur durch andere Entscheidungen entstehen, die mit einem Wandel der Entscheidungsprämissen einhergehen. Dazu sind Irritationen durch Stakeholder außerhalb der Organisation notwendig, die zu einer höheren Reflexion bezüglich gesellschaftlicher Themen im Unternehmen führt. Die Entscheidung, welche Irritation zu einer Resonanz führt und in den Entscheidungen berücksichtigt wird, obliegt jedoch der Organisation. Durch eine Verschiebung der Generalisierung von kurzfristigen wirtschaftlichen Aspekten hin zu langfristigen gesellschaftlichen Aspekten in Form von Nachhaltigkeit werden Entscheidungsprämissen geändert, und der Entscheidungshorizont wird so eingeschränkt, dass gesellschaftliche Aspekte berücksichtigt werden können. Dadurch entsteht eine neue Entscheidungssicherheit, die neuen Sinn schafft. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass gesellschaftliche Aspekte nur durch eine koevolutionäre Entwicklung von externen und internen Treibern erfolgreich in den Entscheidungen des Unternehmens berücksichtigt werden können und so zu einem Unternehmen mit begrenzter Reflexion beitragen.
Eine Evolution zu einem Unternehmen mit begrenzter Reflexion entsteht aus dem Zusammenspiel einer höheren Reflexion der Gesellschaft durch externe Stakeholder und der Generalisierung von Nachhaltigkeit durch den Aufbau von Erwartungsstrukturen im Unternehmen. Die Voraussetzung einer begrenzten Reflexion besteht in der Aufrechterhaltung der Zahlungsfähigkeit, denn die Wirtschaft kann gesellschaftliche Aspekte nur berücksichtigen, wenn die Autopoiesis nicht gefährdet wird. Es gibt verschiedene gesellschaftliche Themen, die mit der Wirtschaftlichkeit des untersuchten Unternehmens kompatibel sind. Für das untersuchte Unternehmen führt die Berücksichtigung von gesellschaftlichen Aspekten zu einer Erhöhung des Umsatzes (Interview U19, Pos. 14–22), der Reputation (Interview U4, Pos. 7–8), der Kundenanzahl (Interview U11, Pos. 12), der Wettbewerbsfähigkeit (Interview U15, Pos. 8), der Innovationsfähigkeit (Interview U3, Pos. 66–67), der Arbeitgeberattraktivität (Interview U10, Pos. 50–51) und zu einer Reduktion von Kosten (Interview U17, Pos. 11–12) und Risiken, wie die folgende Aussage zeigt.
Wir erfassen, sag ich mal, Nachhaltigkeitsrisiken, zum Beispiel im Risikomanagement. Das Ziel des Risikomanagements ist es ja, bestandsgefährdende Risiken für das Unternehmen zu erkennen und zu steuern. Das können natürlich auch Nachhaltigkeitsthemen sein, wenn ich sage, für das Thema haben wir vor drei Jahren oder zwei Jahren eine neue Kategorie geschaffen, dass wir explizit auf Umwelt und Nachhaltigkeitsthemen eingehen, wo man sagt: „Wo sind denn da unsere Risiken in unserem Bereich?“ Das wird wieder auf der Agenda haben und auch entsprechend steuern, von daher beschäftigt sich unser Prozess schon intensiv damit. Da gehen mehrere hundert Risiken ein in diesen Bereich. Da spielt jetzt aktuell [..] eine Rolle, als ein Element solche Informationen weltweit einzusammeln, zu sagen „Wo habe ich jetzt denn irgendwelche Nachhaltigkeit?“, nennen wir das man lieber sustainability risks. Aber an sich Nachhaltigkeit, und damit ist der ganze Prozess ein Beitrag zur Nachhaltigkeit des Unternehmens, in die man sich frühzeitig mit diesen Risiken beschäftigt und sagt „Wir gehen vierteljährlich im Vorstand mit dem Thema durch und diskutieren die wichtigsten Risiken“ und gucken „Werden die adäquat angegangen?“. Von daher ist es ein Beitrag zur Stabilität und Nachhaltigkeit des Unternehmens. So wird das Thema auch gesehen. (Interview U13, Pos. 25–26)
Eine nachhaltige Ausrichtung des Unternehmens muss sich letztendlich immer auch wirtschaftlich rentieren (Interview U15, Pos. 21–22).
Eine Berechnung des Business Case von Nachhaltigkeit, indem Aufwand und Nutzen von Nachhaltigkeit bestimmt werden, könnte dabei helfen, zu entscheiden, ob eine Investition in Nachhaltigkeit sinnvoll ist (Interview U6, Pos. 87–88).
Einerseits können Unternehmen ihre Wirtschaftlichkeit nur erhalten, indem gesellschaftliche Aspekte berücksichtigt werden. Andererseits können Unternehmen nur gesellschaftliche Aspekte berücksichtigen, wenn die Zahlungsfähigkeit gesteigert oder zumindest nicht geschmälert wird, da sonst ihre Selbsterhaltung gefährdet würde.
Die Berücksichtigung von gesellschaftlichen Aspekten führt zu einer Paradoxie, da die Gesellschaft aufgrund ihrer Komplexität nicht vollständig in der Wirtschaft berücksichtigt werden kann. Die Organisation löst diese Paradoxie auf, indem sie sich besonders auf die gesellschaftlichen Themen fokussiert, die zur Aufrechterhaltung der Zahlungsfähigkeit beitragen. Ein Reentry der Gesellschaft in die Wirtschaft ist daher nur durch die Berücksichtigung der wirtschaftlich relevanten Gesellschaftsaspekte möglich.

5.2.3 Pfadabhängigkeiten bei einer nachhaltigen Ausrichtung von Unternehmen

Die Evolution eines Unternehmens in einem sinnvollen Entwicklungspfad ist nur möglich, wenn der bestehende Entwicklungspfad verlassen wird. Dieser Pfad besitzt jedoch Beharrungskräfte, die zu einer Pfadabhängigkeit führen. Erst wenn diese Pfadabhängigkeiten überwunden werden, ist die Evolution zu einem Unternehmen mit begrenzter Reflexion erfolgreich. Der Abbau von Barrieren bietet Ansatzpunkte, wie eine begrenzte Reflexion in Unternehmen entstehen kann und eine solche Entwicklung wahrscheinlicher wird. In der Literatur wurden bereits wesentliche Barrieren beschrieben, die die Ausrichtung von Unternehmen in Richtung Nachhaltigkeit behindern. Diese lassen sich in einen Mangel an Veränderungsbereitschaft und einen Mangel an Veränderungsfähigkeit unterscheiden. Darüber hinaus gibt es noch Unwissenheit und Paradoxien, die verhindern, dass sich Unternehmen in diese Richtung entwickeln (Hasenmüller 2013, S. 160).
Wissen ist eine der wichtigsten Ressourcen für die Wettbewerbsfähigkeit von Organisationen. Damit sich eine Organisation dieses Wissen aneignen kann, muss es sowohl replikationsfähig als auch rekonfigurationsfähig sein. Pfadabhängigkeiten entstehen besonders dann, wenn ein in der Vergangenheit erlernter Sachverhalt zum Erfolg geführt hat. So kann der Erfolg durch eine starke Wettbewerbsperspektive zu einer Bestätigung führen, bestehende Praktiken nicht zu verändern, wodurch sich das Gelernte noch weiter verfestigt. Dieser Lerneffekt kann dazu führen, dass sich das Unternehmen auf einen nichtnachhaltigen Evolutionspfad befindet. Solange das Unternehmen erfolgreich ist und sich noch nicht in eine Krise befindet, besteht für das Unternehmen kein Handlungsdruck (Hasenmüller 2013, S. 232 ff.).
Auch bei dem untersuchten Unternehmen bestehen Pfadabhängigkeiten aufgrund von Lerneffekten, sodass das wegen der Berücksichtigung von gesellschaftlichen Themen bestehende Potenzial an neuen Erkenntnissen nicht ausgeschöpft wird. So werden beispielsweise kaum Konsequenzen aus den Nachhaltigkeitsratings gezogen, da die Unterstützung für eine Reflexion der Ergebnisse fehlt. Dies resultiert einerseits aus fehlenden Arbeitsanweisungen seitens des Vorstandes und andererseits aus zu geringen Ressourcen (Interview U6, Pos. 82).
Zur Berücksichtigung von gesellschaftlichen Aspekten muss die Organisation in der Lage sein, neue Themen zu verarbeiten. Besonders erfolgreiche Unternehmen tun sich aber schwer, zusätzliche gesellschaftliche Themen aufzunehmen, da ihnen der Erfolg keinen Anlass zum Lernen gibt. Solange also keine externen Irritationen entstehen, die zu einer Resonanz führen, bleiben die Prozesse und Strukturen der Organisation unverändert. Diese Beharrungskräfte werden zu einer Barriere, die eine nachhaltige Ausrichtung der Organisation verhindert. Entscheidend für die Berücksichtigung von gesellschaftlichen Themen in den Entscheidungen ist, dass eine Reflexion der gesellschaftlichen Themen, die von einem Netzwerk an Stakeholdern an das Unternehmen herangetragen wird, nicht durch zu positive Erfahrungen mit einem reinen Fokus auf wirtschaftliche Aspekte behindert wird, wodurch gesellschaftliche Erwartungen ignoriert werden.
Eine weitere Ursache der Pfadabhängigkeiten besteht in Koordinationseffekten. Organisationen werden einerseits von den gesellschaftlichen Institutionen geprägt, andererseits beeinflussen Organisationen auch die gesellschaftlichen Institutionen. Durch die Anpassung der Organisationen an Institutionen, verfestigen sich diese immer mehr. Mit der Zeit führt dies zu stabilen formalen und informalen Strukturen. Mithilfe von Normen werden Unsicherheiten reduziert und Erwartungssicherheit für Handlungen erzeugt. Die Mitglieder der Organisation haben ähnliche Erwartungen, was zu Sicherheit führt. Personen befolgen besonders dann Regeln, wenn sie erwarten, dass sie auch von anderen eingehalten werden. Informale Strukturen beruhen in Unternehmen besonders auf Normen und Routinen und wirken komplementär zu den formalen Strukturen, weshalb Unternehmen überhaupt erst durch informale Strukturen funktionieren (Hasenmüller 2013, S. 175 ff.).
Eine weitere Barriere, die den Wandel von Unternehmen verhindert, besteht in Koordinationseffekten, die durch unterschiedliche Erwartungen entstehen. Während Nachhaltigkeitsabteilungen eine langfristige Zukunftsorientierung sicherstellen wollen, müssen sie doch andererseits auch die Anschlussfähigkeit an andere Bereiche berücksichtigen und einen Kompromiss mit kurzfristigen Erfolgen finden. Gleichzeitig kann mit einem reinen Fokus auf eine kurzfristige Orientierung auch die langfristige Orientierung und damit die Zukunftssicherung verloren gehen. Wenn formale Strukturen sehr auf kurzfristigen Erfolg ausgerichtet sind, kann das zur Folge haben, dass individuell kein Nutzen gesehen wird, langfristige Ziele zu verfolgen. Dies ist besonders dann der Fall, wenn keine klare Priorisierung der Ziele existiert und das Topmanagement sich nicht klar zur Nachhaltigkeit bekennt (Hasenmüller 2013, S. 185 ff.).
Auch in dem untersuchten Unternehmen existieren Barrieren durch Koordinationseffekte, die aus hinderlichen Normen und Routinen hervorgehen. Da Nachhaltigkeit bisher nicht strategisch verankert gewesen ist, kann kaum ein Bezug auf die formalen Strukturen auf der abstrakten Ebene hergestellt werden (Interview U1, Pos. 4).
Zudem gibt es noch viele Mitarbeiter, die keinen Wert auf Nachhaltigkeit legen, was deutlich macht, dass in dem untersuchten Unternehmen noch eine starke Ausrichtung auf kurzfristige Effekte auf Grund des Wachstumsparadigmas vorherrscht. Oftmals beschäftigen sich die Mitarbeiter nur deshalb mit Nachhaltigkeit, weil sie es müssen (Interview U6, Pos. 16).
Nachhaltigkeit allgemein und die konkreten Anforderungen aus den Nachhaltigkeitsratings werden nur von einem kleinen Mitarbeiterkreis, der sehr intrinsisch motiviert ist, vorangetrieben. Da die Mitarbeiter aber nicht mit einer Weisungsbefugnis des Vorstandes ausgestattet sind, können verweigernde Bereiche nicht zur Unterstützung gezwungen werden (Interview U6, Pos. 82).
Zusammenfassend ist hinsichtlich der Koordinationseffekte festzuhalten, dass die informellen Strukturen für eine Evolution einer nachhaltigen Organisation in dem untersuchten Unternehmen stärker ausgeprägt sind als die formellen Strukturen.
Eine weitere Barriere gegen die Evolution zu einer sinnvollen Organisation besteht in den Machteffekten. Durch Macht können Strukturen und Prozesse so gestaltet werden, dass Macht gefestigt wird. Wenn das Nachhaltigkeitsmanagement versucht, Strukturen, Prozesse und Strategien anzupassen, kann das immer auch zu Machtreduktion in den etablierten Machtstrukturen führen, was somit Gegenwehr auslöst. Daher ist es besonders wichtig, dass das Topmanagement hinter Nachhaltigkeit steht und das Thema mit formaler Weisungsbefugnis ausgestattet ist (Hasenmüller 2013, S. 196 ff.).
Auch das untersuchte Unternehmen wird durch Machteffekte an einer nachhaltigen Ausrichtung gehindert. Insgesamt ist die Veränderung in Richtung Nachhaltigkeit in dem untersuchten Unternehmen sehr stark personenabhängig (Interview U4, Pos. 15–16). Die fehlenden formalen Strukturen verhindern, dass die nachhaltige Ausrichtung der Organisation über die klassischen hierarchischen Funktionen der Organisation erfolgt.
Es gibt auch in meiner Wahrnehmung gar keinen klaren Auftrag dafür, dass die Fachbereiche zuarbeiten müssen bei den Ratings. Ich warte immer noch auf den Tag, dass ein Fachbereich sagt: „Nein, wieso?“ Ich hab da überhaupt gar keinen Vorstandsauftrag, das zu machen. Den gibt es einfach nicht. (Interview U6, Pos. 22)
Eine nachhaltige Ausrichtung des Unternehmens wird in diesem Fall stark durch Eigenmotivation getrieben (Interview U6, Pos. 84), was eher der informellen Organisation zugeordnet werden kann. Der Letztbezug, auf dem die Entscheidungsentscheidung beruht, sind daher eher Personen. Da Personen ihre Stellen wechseln können, ist die Verankerung in der Organisation sehr instabil, daher sollten gesellschaftliche Themen stärker in die Entscheidungsprämissen verankert werden (Interview U4, Pos. 15–16).
Komplementaritätseffekte zeigen, dass sich mikropolitische Prozesse und Strukturen gegenseitig beeinflussen können (Hasenmüller 2013, S. 235 ff.). Die nachhaltige Ausrichtung der Organisation kann zu Machtverlusten führen, was eine Gegenwehr auslöst und zur Barriere wird. Wenn außerdem gesellschaftliche Aspekte in formalen und informalen Strukturen nicht berücksichtigt werden, fehlen Anreize, die Organisation nachhaltig auszurichten. Die Unterstützung der Mitarbeiter bleibt aus, da sie keine Karriere damit machen können und keine zusätzliche Macht bekommen. Da die Motivation der Mitarbeiter für gesellschaftliche Aspekte stark von individuellen Interessen und dem gesellschaftlichen Bewusstsein abhängt, sind sie durch die Organisation kaum beeinflussbar. Die Aufhebung von Pfadabhängigkeiten aufgrund von Machteffekten kann daher besonders durch eine Veränderung von formalen und informalen Strukturen erfolgen. Eine entscheidende Barriere kann also auch die Generalisierung sein, insofern formale Strukturen eher auf einer kurzfristigen wirtschaftlichen Orientierung ausgerichtet sind und nicht auf eine langfristige Berücksichtigung von gesellschaftlichen Aspekten abzielen.
Eine weitere Barriere, die die Evolution zu einer sinnvollen Organisation verhindert, bilden die Investitionseffekte. Eine Pfadabhängigkeit entsteht bei Investitionen besonders dann, wenn sie sehr spezifisch sind und es keine alternativen Verwendungen für die Investitionsobjekte gibt. Stabilisierende Rückkopplungseffekte entstehen besonders dann, wenn Folgeinvestitionen notwendig sind. Investitionen in Investitionsobjekte, die schwer liquidierbar sind, sind erst einmal Sunk Costs, die zwar aufgewendet wurden, aber zunächst nicht amortisiert werden können. Wenn diese Investitionen weitere Investitionen in bestimmten Ressourcen nach sich ziehen, wird dieser Effekt noch verstärkt, insbesondere wenn die Ressourcen asynchron beschafft werden. Diese Rückkopplungseffekte erschweren die Verschiebung der Investitionen in alternative Investitionsobjekte. Investitionen in Nachhaltigkeit sind meist sehr spezifisch, was mit einem hohen Risiko verbunden ist. Besonders langfristige Investitionen wie der Aufbau einer nachhaltigen Infrastruktur verursacht große Unsicherheiten, die durch einen unklaren politischen Rahmen verstärkt werden können. Eine Verschiebung von nicht nachhaltigen zu nachhaltigen Investitionen wird dadurch erschwert. Auch in Unternehmen sind Investitionen in nachhaltige Investitionsobjekte oft schwierig. Denn das bereits investierte Kapital ist durch Amortisationszeiten gebunden und kann nicht direkt in nachhaltigere Alternativen investiert werden (Hasenmüller 2013, S. 189 ff.).
Die Unsicherheitsabsorption der Unternehmen erfolgt durch Entscheidungen, die sich auf weitere Entscheidungen beziehen. Damit gibt es grundsätzliche Entscheidungen, deren Änderung eine Vielzahl von weiteren Änderungen von Entscheidungen nach sich ziehen würde. Dies trifft besonders auf Investitionsentscheidungen mit hohem Investitionsvolumen und einem langen Investitionszeitraum zu. Bereits getätigte Investitionen können als pfadabhängig betrachtet werden, da ein Wechsel zu einer anderen Investition mit einem hohen Risiko verbunden ist. Das untersuchte Unternehmen bestätigt, dass sich die Investitionsentscheidungen für Nachhaltigkeit erst langfristig auszahlen (Interview U11, Pos. 31–32) und auch ein hohes Investitionsvolumen umfassen, wie am Beispiel des Wandels von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotoren hin zu Elektrofahrzeugen ersichtlich wird (Interview U10, Pos. 69). Die Entscheidungen sind meist sehr grundsätzlich und können daher nicht schnell geändert werden (Interview U9, Pos. 77), wodurch sie ein sehr großes Risiko implizieren. Diese Unsicherheit könnte reduziert werden, indem Nachhaltigkeit in die sehr grundsätzlichen Entscheidungsprämissen, die als Generalisierungsfunktion dienen, mit aufgenommen wird. Dies erzeugt Entscheidungssicherheit bezüglich Nachhaltigkeit, wodurch weitere nachhaltige Entscheidungen möglich werden. Somit können grundsätzliche Entscheidungen in nachhaltige Investitionen auch weitere nachhaltige Investitionen nach sich ziehen, wodurch der Zahlungsstrom des Wirtschaftssystems aufrechterhalten werden kann. Insgesamt können Investitionseffekte eine begrenzte Reflexion der Gesellschaft in die Wirtschaft behindern, da die Berücksichtigung von gesellschaftlichen Themen in den Entscheidungen nicht wirtschaftlich ist.

5.2.4 Rolle von Nachhaltigkeitsratings bei der Evolution von Unternehmen mit begrenzter Reflexion

Für eine begrenzte Reflexion in Unternehmen stellt das Finanzsystem mit Investoren als Stakeholdern wichtige Treiber bereit und erzeugt gleichzeitig durch Investitionseffekte hohe Barrieren und Pfadabhängigkeiten.
Durch das Finanzsystem können gesellschaftliche Auswirkungen verändert werden, denn der Finanzsektor hat große finanzielle Ressourcen, die eine nachhaltige Entwicklung fördern können (Scholtens et al. 2008, S. 138).
Aus einer mikroökonomischen Perspektive stellen Finanzintermediäre privaten und gewerblichen Haushalten ein Risikomanagement zur Verfügung, indem sie analysieren, kontrollieren und steuern. Gleichzeitig geben die Finanzmarktintermediäre durch die Analyse und Kontrolle der Unternehmen und Projekte dem Unternehmen vor, wie sie ihre Entwicklung ausrichten sollten, wodurch sie die Wirtschaft indirekt lenken. Dadurch können Finanzmarktintermediäre auch einen Einfluss auf die gesellschaftlichen Auswirkungen von Unternehmen ausüben, wodurch sie aggregiert auch Einfluss auf die gesellschaftlichen Auswirkungen der Wirtschaft insgesamt ausüben (Scholtens 2006, S. 24 ff.).
Investoren können keine direkten Auswirkungen auf die Gesellschaft haben, denn sie verfügen nur über Einfluss auf die Unternehmen, in die sie investieren, welche wiederum Einfluss auf die Veränderung von gesellschaftlichen und ökologischen Parametern haben (Brest et al. 2018). Auf Basis dieses Verständnisses identifizieren Kölbel et al. (2020) mithilfe einer Literaturauswertung drei wesentliche Mechanismen, wie Investoren Unternehmen beeinflussen. Durch Aktionärsengagement können Investoren Unternehmen direkt beeinflussen. Durch die Kapitalallokation wird ein Anreiz für Veränderungen erzeugt und Wachstum geschaffen, und durch einen Einfluss auf Dritte können die Auswirkungen von Unternehmen indirekt beeinflusst werden.
Der direkte Effekt entsteht aus einer direkten Beziehung der Nachhaltigkeitsinvestoren und des Unternehmens, die in zwei Richtungen wirkt. Einerseits kommunizieren Unternehmen wesentliche Informationen an die Investoren, die die Entscheidungen der Investoren prägen. Andererseits versuchen die Nachhaltigkeitsinvestoren, die zur Verfügung gestellten Informationen zu reflektieren und das Unternehmen nach ihren Interessen zu beeinflussen (Carolina Rezende de Carvalho Ferrei et al. 2016, S. 116).
Mehrere Studien zeigen, dass das Engagement der Aktionäre zu Verbesserungen der Nachhaltigkeitsaktivitäten von Unternehmen führen kann. Die Ergebnisse zeigen, dass die Engagementaktivitäten eine Erfolgsquote von 18–60 % aufweisen (Barko et al. 2017; Dimson et al. 2015, 2020; Dyck et al. 2019; Hoepner et al. 2022). Der Erfolg wird auch über einer Verbesserung bei Nachhaltigkeitsratings festgestellt (Barko et al. 2017; Dyck et al. 2019).
Je größer der Einfluss des Investors ist und je mehr Erfahrung das Unternehmen mit Nachhaltigkeitsaktivitäten hat, umso erfolgreicher sind die Engagementaktivitäten der Investoren. Zusätzliche Forderungen verursachen jedoch zunehmend Kosten in den Unternehmen, die die Wahrscheinlichkeit für eine Veränderung reduzieren (Kölbel et al. 2020, S. 560).
Investoren haben einerseits Einfluss auf Unternehmen, da sie direkt mit dem Management sprechen, andererseits haben sie auch Einfluss, wenn sie durch den Kauf und Verkauf von Aktien den Unternehmenswert und die Refinanzierungskosten prägen (Carolina Rezende de Carvalho Ferrei et al. 2016, S. 118).
Aus einer theoretischen Sicht können Investoren positive gesellschaftliche Auswirkungen verstärken, wenn sie in Unternehmen mit positiven gesellschaftlichen Auswirkungen investieren und für dessen Wachstum sorgen (Kölbel et al. 2020, S. 563). Investoren können nachhaltige Unternehmen unterstützen, indem sie solchen Unternehmen Kapital zu günstigeren Konditionen als Investoren mit neutralen Präferenzen zur Verfügung stellen (Brest et al. 2018; Chowdhry et al. 2019). Dies ist jedoch nur möglich, wenn die Finanzierung einen Engpassfaktor darstellt, was besonders auf kleine und junge Unternehmen zutrifft (Baker et al. 2003). Allerdings ist es empirisch bisher nicht nachgewiesen, dass höhere Kapitalkosten zu einer Veränderung der gesellschaftlichen Auswirkungen der Unternehmen führen (Kölbel et al. 2020, S. 562).
Darüber hinaus gibt es einen indirekten Effekt von Investoren auf die Auswirkungen der Unternehmen. Ein indirekter Einfluss der Investoren auf die gesellschaftlichen Auswirkungen der Unternehmen entsteht, indem Investoren durch ihre Aktivitäten Einfluss auf Dritte und somit indirekt auf die Unternehmen ausüben.
Wie beispielsweise Divestmentkampagnen zeigen, können Investoren durch Stigmatisierung Unternehmen über die öffentliche Meinung beeinflussen. Investoren können auch die Nachhaltigkeitsleistung von Unternehmen bestätigen, indem sie die Unternehmen in nachhaltige Fonds oder Indizes aufnehmen. Benchmarking mit Nachhaltigkeitsratingagenturen kann zu einer besseren Beantwortung der Fragebögen und einer Verbesserung der Nachhaltigkeitsleistung führen. Nachhaltige Investoren können helfen, nachhaltige Investments als gesellschaftliche Norm zu etablieren, wodurch es anderen Investoren leichter fällt, sich daran zu orientieren. Durch Investitionen, die neue Möglichkeiten veranschaulichen (zum Beispiel effizientere Technologien), können andere Investoren überzeugt werden, weiterer Investitionen zu tätigen. Diese Effekte sind empirisch jedoch kaum belegt (Kölbel et al. 2020, S. 564 ff.).
Aus systemtheoretischer Sicht entsteht der Einfluss der Finanzwirtschaft, indem die Entscheidungen der wirtschaftlichen Organisation verändert werden. Entscheidungen mit begrenzter Reflexion können durch einen direkten Einfluss der Finanzwirtschaft auf die Entscheidungen erfolgen, indem eine Veränderung der Entscheidungsprämissen direkt angestoßen wird – oder indirekt durch eine Veränderung der Rahmenbedingungen, die eine Änderung der Entscheidungsprämissen für eine begrenzte Reflexion erleichtern.
Eine Voraussetzung dafür, dass die Finanzwirtschaft sowohl direkt als auch indirekt Einfluss auf die gesellschaftlichen Auswirkungen ausüben kann, besteht darin, dass die gesellschaftlichen Auswirkungen von Unternehmen gemessen werden (Busch et al. 2016, S. 320). Nachhaltigkeitsratings spielen also eine wesentliche Rolle in den Unternehmensentscheidungen in Bezug auf eine Verbesserung der gesellschaftlichen Auswirkungen. Nachhaltigkeitsratings können zu einem wesentlichen Treiber für die Evolution von Unternehmen mit begrenzter Reflexion werden (Ho 2013, S. 370).
Bisher gibt es jedoch kaum Informationen über die Bedeutung der Nachhaltigkeitsratings für die Unternehmen. So kommt die Umfrage von oekom research (2013) zu der Erkenntnis, dass es für viele Unternehmen wichtig ist, ein positives Nachhaltigkeitsrating zu erhalten und in Nachhaltigkeitsfonds und -indizes aufgenommen zu werden.
Ergänzend zur Bedeutung von Nachhaltigkeit wurden daher die Experten des untersuchten Unternehmens zur Bedeutung von Nachhaltigkeitsratings innerhalb ihres Unternehmens und Bereichs befragt. Nachhaltigkeitsratings haben weniger eine Bedeutung für einzelne Bereiche (Interview U3, Pos. 19–20), sondern eher für das Unternehmen als Ganzes (Interview U19, Pos. 31–32). Ähnlich zur Bedeutung der Nachhaltigkeit hat die Relevanz der Nachhaltigkeitsratings kurz nach der Dieselkrise eher abgenommen (Interview U3, Pos. 4), sie soll aber langfristig wieder zunehmen:
Ja aktuell, mehr denn je würde ich sagen. Wir sind ja gerade in keinem drin [lachen]. Aufgrund der aktuellen Situation – ich sag mal, in der Vergangenheit wurden die immer nickend zur Kenntnis genommen und man hat, wie ich vorhin schon sagte, da nicht den größten Fokus darauf gelegt – jetzt, wo es auf einmal richtig im Karton gescheppert hat sozusagen, da ist man aufgewacht. Und nimmt das anders wahr. Man nimmt wahr, dass man sich aus allen Ratings verabschiedet hat. Die Mitgliedschaften ruhen lässt und da wird man dann doch nach vorne gucken und schauen, dass man in 2/3 Jahren, das ist der Zeitraum von dem Herr [XX] spricht, doch dann wieder seine Hausaufgaben gut gemacht hat bis dahin, und dann wieder reinkommt in diese Ratings, das wird jetzt deutlicher wahrgenommen als vorher, und da ist sicherlich ein gesteigertes Interesse da. (Interview U2, Pos. 29–30)
Die Bedeutung von Nachhaltigkeitsratings ist damit grundsätzlich stark von der Bedeutung von Nachhaltigkeit abhängig. Die Rolle der Nachhaltigkeitsratings ist also auch sehr davon abhängig, wie die Generalisierung in einer Organisation stattfindet. Mit einem Wechsel von einer kurzfristig rein ökonomischen Perspektive hin zu einer langfristigen gesellschaftlichen Perspektive nehmen auch die Bedeutung und der Einfluss von Nachhaltigkeitsratings auf die Organisation zu (Interview U17, Pos. 29–30). Damit ist die Bedeutung der Nachhaltigkeitsratings nicht nur von den Einflüssen, die direkt auf sie wirken, sondern auch von den indirekten Einflüssen, die zu einer stärkeren Generalisierung durch Nachhaltigkeit führen, abhängig.
Bisher ist auch wenig darüber bekannt, welchen Einfluss Nachhaltigkeitsratings auf die gesellschaftlichen Auswirkungen der Unternehmen tatsächlich haben. Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob diese nur die gesellschaftlichen Auswirkungen der Unternehmen bewerten oder ob sie auch zu einer Veränderung der Unternehmen im Sinne einer sinnvollen Evolution beitragen (Slager 2015, S. 387).
Es existieren Studien, die herauszufinden versuchen, wie sich Unternehmen aufgrund der Anfragen durch Nachhaltigkeitsratings verändern.
Scalet und Kelly (2010, S. 77 ff.) untersuchen, ob Unternehmen, die als nicht nachhaltig eingestuft wurden, sich öffentlich dazu äußern und mit welchen Maßnahmen sie darauf reagieren. Sie finden heraus, dass Unternehmen, die eine schlechtere Bewertung erhalten haben, dahin tendieren, nicht über diese Verschlechterung zu berichten, sondern sie versuchen, die positive Seite ihrer gesellschaftlichen Auswirkungen zu betonen. Während 80 % der untersuchten Unternehmen nicht auf die negativen Veränderungen eingehen, geben 20 % der Unternehmen einen öffentlichen Kommentar zu dieser Verschlechterung ab. Die Autoren vermuten, dass die Verschlechterung der Ergebnisse bei Nachhaltigkeitsratings auch mit Rechtsstreitigkeiten zusammenhängen könnte. Rechtsabteilungen könnten die Kommunikation über vorgefallene Ereignisse verhindern, da sich eine öffentliche Aussage gegebenenfalls negativ auf das Rechtsverfahren auswirkt. Da Unternehmen nicht öffentlich äußern, dass sie Maßnahmen aufgrund eines schlechteren Ergebnisses bei Nachhaltigkeitsratings definiert haben, kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass die Nachhaltigkeitsratingagenturen kaum Einfluss auf die Unternehmen ausüben. Am Ende geben sie allerdings selbstkritisch zu, dass diese Betrachtung kaum etwas darüber aussagt, welche Erwartungen der Nachhaltigkeitsratings von den Unternehmen übernommen und umgesetzt werden. Denn das, was extern kommuniziert wird, muss noch lange nicht das sein, was die Organisation alles aufgrund der Irritation der Nachhaltigkeitsratings durch die Kommunikationsform Entscheidungen innerhalb der Organisation verarbeitet.
So zeigen beispielsweise Chatterji und Toffel (2010), dass Unternehmen besonders dann ihre Nachhaltigkeitsleistung verbessern, nachdem sie eine schlechte Platzierung in einem Benchmark erzielt haben.
Andere Studien versuchen herauszufinden, ob Fonds, die angeben, dass sie nachhaltig sind, tatsächlich nachhaltiger sind als konventionelle Fonds, die nicht explizit auf Nachhaltigkeit verweisen. Sie versuchen dies herauszufinden, indem sie die Nachhaltigkeitsleistung der Unternehmen des nachhaltigen Fonds und die Nachhaltigkeitsleistung der Unternehmen eines konventionellen Fonds direkt von einer Nachhaltigkeitsratingagentur heranziehen und vergleichen.
So finden Kempf und Osthoff (2008) in einer Untersuchung amerikanischer Aktienfonds im Zeitraum von 1991–2004 heraus, dass auf Basis der Nachhaltigkeitsratingagentur KLD im Durchschnitt die Ergebnisse bei nachhaltigen Fonds leicht besser sind als bei kommerziellen Fonds.
Darüber hinaus untersuchen Hirschberger et al. (2012), ob Nachhaltigkeit gegebenenfalls nur als Marketinginstrument verwendet wird, um Investoren anzuziehen, oder ob bei dem Auswahlprozess tatsächlich gesellschaftliche Themen berücksichtigt werden. Sie finden heraus, dass die Nachhaltigkeitsfonds im Durchschnitt ein besseres Ergebnis bei der Nachhaltigkeitsratingagentur Inrate erzielen als die kommerziellen Fonds.
Darüber hinaus finden Nitsche und Schröder (2015) heraus, dass in ihrer Untersuchung, in der drei unterschiedliche Nachhaltigkeitsratingagenturen und zwei unterschiedlichen geografische Regionen betrachtet wurden, alle Nachhaltigkeitsfonds ein besseres Ergebnis erzielen als konventionelle Fonds.
In einem Vergleich der zehn größten Nachhaltigkeitsaktienfonds und ähnlicher konventioneller Fonds in Deutschland erzielen die Nachhaltigkeitsfonds bei Thomson Reuters Asset4 durchschnittlich ein besseres Ergebnis. Allerdings gibt es auch einen konventionellen Fond, der bessere Ergebnisse erzielt als der nachhaltige Fond (Bauckloh et al. 2017, S. 89).
Der Vergleich von nachhaltigen Fonds und konventionellen Fonds auf Basis der durchschnittlichen Ergebnisse bei Nachhaltigkeitsratings zeigt zwar, dass die nachhaltigen Fonds meist tatsächlich bessere Ergebnisse bei Nachhaltigkeitsratings erzielen. Daraus kann abgeleitet werden, dass die Nachhaltigkeitsfonds sich tatsächlich darum bemühen, die Bewertungen über die gesellschaftlichen Auswirkungen der Nachhaltigkeitsratings zu berücksichtigen und nicht nur behaupten, dass sie nachhaltiger sind. Allerdings lässt sich daraus nicht ableiten, dass nachhaltige Fonds tatsächlich bessere gesellschaftliche Auswirkungen haben als konventionelle Fonds. Denn es bleibt offen, ob Fonds, die im Durchschnitt ein besseres Ergebnis bei Nachhaltigkeitsratings erzielen, tatsächlich bessere gesellschaftliche Auswirkungen vorweisen können. Denn die dahinter liegende Frage ist, ob ein gutes Nachhaltigkeitsrating tatsächlich bedeutet, dass Unternehmen bessere gesellschaftliche Auswirkungen haben und sich positiv entwickeln.
Aus systemtheoretischer Sicht arbeiten Nachhaltigkeitsratings mit einer strukturellen Latenz, indem sie latent halten, dass sie nur einen Bruchteil der gesellschaftlichen Auswirkungen von Unternehmen in ihrer Bewertung betrachten können. Mit der Verschleierung, dass sie gar nicht die gesellschaftlichen Auswirkungen von Unternehmen vollständig bewerten können, erzeugen sie eine Scheinsicherheit, dass die Nachhaltigkeitsratingagenturen in der Lage sind, die gesellschaftlichen Auswirkungen zu bewerten. Erst durch diese Scheinsicherheit ist es den Nachhaltigkeitsratings möglich, ein Ergebnis über die gesellschaftlichen Auswirkungen der Unternehmen darzustellen. Diese Scheinsicherheit entsteht durch Entscheidungen über die Auswahl und Priorisierung der gesellschaftlichen Themen, die innerhalb der Nachhaltigkeitsratingagenturen getroffen werden (siehe Abschnitt 4.​3.​2).
Es wird deutlich, dass die Nachhaltigkeitsratingagenturen gar nicht in der Lage sind, die gesellschaftlichen Auswirkungen von Unternehmen vollständig zu bewerten, weshalb sie genau genommen auch keine Aussage über den Beitrag von Unternehmen zu einer nachhaltigen Gesellschaft treffen können. Auch jede weitere quantitative Untersuchung muss daran scheitern, dies abzubilden, da dazu eine weitere Bewertung notwendig wäre. Diese wäre aber von der gesellschaftlichen Komplexität im gleichen Maße überfordert wie die Nachhaltigkeitsratingagenturen. Alle müssen mit einem vereinfachten Abbild der Gesellschaft arbeiten, weshalb sie auch nie die vollständigen gesellschaftlichen Auswirkungen von Unternehmen abbilden können, weshalb sie auch nicht mit vollkommener Sicherheit über die gesellschaftlichen Auswirkungen zu berichten vermögen. Was allerdings betrachtet werden kann, ist der Einfluss der Nachhaltigkeitsratings auf die Faktoren, die die Entscheidungen im Unternehmen beeinflussen.
Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass für die Evolution von Unternehmen mit begrenzter Reflexion Treiber notwendig sind, die das Unternehmen auf einen nachhaltigen Entwicklungspfad lenken. Es gibt externe und interne Treiber, die dazu führen, dass sich Entscheidungen in Unternehmen stärker an Nachhaltigkeit orientieren. Zwischen diesen Faktoren können auch Rückkopplungseffekte entstehen. Für das untersuchte Unternehmen sind die externen Treiber besonders die Politik, die Gesellschaft allgemein und die Investoren, weshalb Nachhaltigkeitsratings auch an Bedeutung gewinnen. Sie erzeugen eine Irritation, die eine höhere gesellschaftliche Reflexion im Unternehmen auslöst. Strategien, die Berichterstattung und Nachhaltigkeitsratingagenturen erzeugen innerhalb des Unternehmens einen Anreiz, dass Entscheidungen in Bezug zu Nachhaltigkeit getroffen werden. Sie sind daher als Teil der Erwartungsstrukturen innerhalb des Unternehmens zu sehen, die den Möglichkeitsraum der Entscheidungen einschränken. Allerdings muss das Unternehmen als wirtschaftliche Organisation dabei seine Zahlungsfähigkeit berücksichtigen. Mit dem Fokus auf gesellschaftliche Themen, die sich positiv auf die Wirtschaftlichkeit auswirken, können gesellschaftliche Themen leichter in Entscheidungen berücksichtigt werden, da die Fokussierung auf wirtschaftliche Gesellschaftsthemen die Differenz zwischen Gesellschaft und Wirtschaft invisibilisieren.
Für die Evolution einer Organisation mit einer beschränkten Reflexion der Gesellschaft bestehen verschiedene Herausforderungen, die überwunden werden müssen. Wie in Abschnitt 5.2.3 ersichtlich wurde, kann die beschränkte Reflexion durch eine Generalisierung von Nachhaltigkeit durch Koordinationseffekte, Machteffekte und Komplementaritätseffekte behindert werden. Eine wesentliche Voraussetzung für den Reentry der Gesellschaft in die Organisation besteht darin, dass diese Entscheidung für das Unternehmen wirtschaftlich sein muss. Investitionseffekte von Nachhaltigkeit, die eine langfristige Kapitalbindung in Verbindung mit hoher Unsicherheit darstellen, können dazu führen, dass die Berücksichtigung von gesellschaftlichen Aspekten nicht wirtschaftlich ist.
Für eine begrenzte Reflexion in Unternehmen stellt das Finanzsystem mit Investoren als Stakeholdern wichtige Treiber bereit und erzeugt gleichzeitig durch Investitionseffekte hohe Barrieren und Pfadabhängigkeiten. Aus systemtheoretischer Sicht kann die Finanzwirtschaft die Entscheidungen der wirtschaftlichen Organisation beeinflussen. Eine Voraussetzung dafür, dass die Finanzwirtschaft Einfluss auf die gesellschaftlichen Auswirkungen ausüben kann, besteht in der Messung der gesellschaftlichen Auswirkungen von Unternehmen durch Nachhaltigkeitsratings. Mit einer strukturellen Latenz bauen sie die Scheinsicherheit auf, dass sie die Gesellschaft als Ganzes erfassen können, sodass scheinbar die Gesellschaft in Entscheidungen berücksichtigt werden kann. In den nächsten Kapiteln wird daher beschrieben, welchen Einfluss Nachhaltigkeitsratings auf die begrenzte Reflexion von Unternehmen haben. Es wird gezeigt, wie Nachhaltigkeitsratings mit der Erzeugung einer höheren Reflexion die Auflösung des bisherigen Entwicklungspfades unterstützen und gleichzeitig mithilfe der Generalisierung zu einer Stabilisierung eines neuen Pfades beitragen. Die Pfadbrechung und die Pfadkreation ermöglichen eine begrenzte Reflexion, wodurch die Gesellschaft bei wirtschaftlichen Entscheidungen wieder stärker berücksichtigt werden kann.

5.3 Reflexionsfunktion von Nachhaltigkeitsratings

Mit der Erzeugung einer höheren Reflexion der Gesellschaft unterstützen Nachhaltigkeitsratings die Auflösung des bisherigen Evolutionspfades des Wirtschaftssystems. Im folgenden Abschnitt wird daher die Reflexionsfunktion von Nachhaltigkeitsratings näher erläutert. Es wird gezeigt, wie Nachhaltigkeitsratings die Wirtschaft irritieren und dadurch die Gesellschaft stärker in der Wirtschaft berücksichtigt wird.

5.3.1 Gesellschaftliche Reflexion durch Nachhaltigkeitsratings

Eine wesentliche Funktion von Nachhaltigkeitsratings besteht in der Identifikation der für das Wirtschaftssystem gesellschaftlich relevanten Themen. Wie in Abschnitt 4.​1.​4 beschrieben, führt SRI zu einer höheren Reflexion des Finanzsystems. Voraussetzung dafür sind jedoch entsprechende nicht finanzielle Informationen, die etwas über die gesellschaftlichen Auswirkungen aussagen (Ho 2013, S. 364). Nachhaltigkeitsratings erhöhen die Transparenz gesellschaftlicher Themen und machen damit Investmententscheidungen unter Berücksichtigung von gesellschaftlichen Aspekten erst möglich (European Commission 2018, S. 7). Das Wachstum des SRI-Marktes ist daher stark mit der Entwicklung von Nachhaltigkeitsratings verknüpft (Carolina Rezende de Carvalho Ferrei et al. 2016, S. 116). Durch Nachhaltigkeitsratings wird die Vielfalt im Finanzsystem erhöht, wodurch auch die Resilienz verbessert wird. Die klassischen Finanzratings, die rein auf finanzielle Aspekte Wert legen und für die nur eine geringe Anzahl an Ratingagenturen existiert, sind sehr effizient. Die Nachhaltigkeitsratingagenturen kompensieren die Nachteile dieser Effizienz mit Heterogenität. Durch eine größere Vielfalt der Ansätze und Akteure sorgen Nachhaltigkeitsratings dafür, dass die Marktentwicklung mehr als nur in eine – möglicherweise falsche – Richtung gelenkt wird, sondern bieten mit den verschiedenen Optionen einen größeren Möglichkeitsraum, sodass sie einen Beitrag zur Steigerung der Resilienz des Kapitalmarktes leisten (Nagel et al. 2017). Es geht nicht mehr nur um die Aufrechterhaltung des Finanzsystems und dessen Ausdifferenzierung, das durch die Reduktion eine enorme Leistungsfähigkeit erzielt hat, sondern auch um die Erhaltung der eigenen Grundlagen durch eine stärkere Berücksichtigung der Gesellschaft.
Wie bereits im Abschnitt 4.​1.​2 dargestellt, haben Stakeholder einen großen Einfluss auf die Berücksichtigung der Gesellschaft in der Wirtschaft.
Es gibt diverse Strategien wie zum Beispiel Boykottaktionen, Brief- und Medienkampagnen und so weiter, wie Stakeholder, insbesondere NGOs, Unternehmensentscheidungen beeinflussen können. SRI kann als eine weitere Einflussstrategie von Stakeholdern betrachtet werden, die Unternehmen zu einer stärkeren Berücksichtigung von gesellschaftlichen Aspekten bewegen soll (Benijts 2014, S. 321 ff.). Die Bewertung und Veröffentlichung der gesellschaftlichen Auswirkungen von Unternehmen kann ein sehr mächtiges Instrument sein, um Unternehmensverhalten zu beeinflussen – und zwar unter der Voraussetzung, dass die Nachhaltigkeitsratings konsistent und sorgfältig die gesellschaftlichen Auswirkungen der Unternehmen reflektieren (Porter und Kramer 2006, S. 81). Auch bei dem untersuchten Unternehmen sind Nachhaltigkeitsratings ein wesentlicher Treiber für eine gesellschaftliche Ausrichtung des Unternehmens (Interview U11, Pos. 47–48). Als besonders bedeutend werden Nachhaltigkeitsratings für den Aktienkurs (Interview U3, Pos. 17–18) und die Refinanzierung des Unternehmens eingeschätzt.
Für mich persönlich ist es so. Sie waren für mich der Anlass, mich damit zu beschäftigen, weil ich es dienstlich musste, hab dann gemerkt, dass wir vieles unserer Tätigkeiten sich darunter gut labeln lassen oder subsumieren lassen, zurzeit stellen sie für mich ein notwendiges Übel dar, weil ich doch wirklich sehe, jeder, und das sage ich auch all meinen Mitarbeitern, jeder muss dazu beitragen, dass wir in unserem Rating besser werden müssen, weil es unser Geschäftsmodell ist, wir leben davon, dass wir billig Geld kriegen, unter anderem auch von Nachhaltigkeitsratings dann, die durch Nachhaltigkeitsratings beeinflusst werden. (Interview U10, Pos. 72–73)
Das untersuchte Unternehmen setzt sich daher besonders mit Nachhaltigkeitsratings auseinander, um die Erwartungen von Investoren zu erfüllen. Damit werden Investoren zu einem wesentlichen Treiber für eine stärkere Reflexion von gesellschaftlichen Themen im Unternehmen.
Wie in Abschnitt 3.​1 beschrieben, ist jede Entscheidung mit einem bestimmten Risiko verbunden. Insbesondere Entscheidungen, die sich auf die Gesellschaft beziehen, sind von einer hohen Unsicherheit geprägt. Es stellt sich daher die Frage, wie Nachhaltigkeitsratings in der Lage sind, Entscheidungen über die gesellschaftlichen Auswirkungen zu erzeugen, an denen sich wiederum die Unternehmen mit ihren Entscheidungen orientieren.
Die Bewertung der Nachhaltigkeitsratingagenturen erfolgt in drei Schritten. Im ersten Schritt wird festgelegt, welche Indikatoren zur Bewertung der Nachhaltigkeitsleistung die höchste Relevanz für eine Branche haben. Im zweiten Schritt werden die Daten gesammelt und auf Konsistenz geprüft und, falls notwendig, ergänzende Schätzungen vorgenommen. Im dritten Schritt werden die gesammelten Datenpunkte durch eine Bewertungsmethode quantifiziert und durch einen relativen Vergleich innerhalb einer Branche oder in Bezug auf einen absoluten Wert gewichtet und in einem Gesamtergebnis zusammengefasst (Europäische Kommission, Generaldirektion Finanzstabilität, Finanzdienstleistungen und Kapitalmarktunion 2021, S. 95).
Die Datenanbieter verwenden daher üblicherweise drei Arten von Daten. Quantitative und qualitative Daten, die freiwillig oder verpflichtend direkt von Unternehmen kommen; unstrukturierte Daten, die von alternativen Quellen wie Medien oder NGOs stammen, und Daten von Drittanbietern, die bereits durch einen anderen Anbieter erhoben wurden (Europäische Kommission, Generaldirektion Finanzstabilität, Finanzdienstleistungen und Kapitalmarktunion 2021, S. 82). Zwar beziehen Nachhaltigkeitsratingagenturen bei ihren Entscheidungen andere Stakeholder über Gremien ein. Es bleibt aber unklar, wie genau das erfolgt (SustainAbility 2011b, S. 29). Auch bei den Quellen der Nachhaltigkeitsratings geben sie zwar deren Arten bekannt (zum Beispiel Medienanalysen, NGOs), aber sie bleiben sehr intransparent, auf Basis welcher Quellen sie welche Entscheidung getroffen haben (SustainAbility 2011b, S. 17).
Nachhaltigkeitsratingagenturen aktualisieren die Unternehmensdaten meist jährlich. Es gibt jedoch auch Nachhaltigkeitsratingagenturen, die mithilfe von neuen Technologien die Prozesse effizienter gestalten, wodurch die Aktualisierungen schneller erfolgen können (Europäische Kommission, Generaldirektion Finanzstabilität, Finanzdienstleistungen und Kapitalmarktunion 2021, S. ii).
Diese Einschätzungen werden durch die Experteninterviews mit den Nachhaltigkeitsratingagenturen bestätigt. Während besonders bei der Auswahl der Themen externe Stakeholder wie Beratungsunternehmen (Interview N3, Pos. 18) oder Akteure der Wissenschaft (Interview N1, Pos. 15–16) berücksichtigt werden, findet die Entwicklung der Methode grundsätzlich unabhängig von externem Einfluss statt, sodass sich die Evolution eines Nachhaltigkeitsratings aus der Ratingorganisation selbst ergibt (Interview N6, Pos. 13–14). Diese Evolution wird auch durch eine Referenz auf andere Nachhaltigkeitsratingagenturen beeinflusst (Interview N1, Pos. 10) und kann daher aus Sicht aller Nachhaltigkeitsratingagenturen als selbstreferenziell betrachtet werden. Neue Themen werden identifiziert, indem die Erwartungen von Akteuren aus anderen sozialen Systemen erfasst werden. Stakeholder, insbesondere NGOs, dienen sowohl bei der Entscheidung über die Ausprägung der Kriterien (Interview N2, Pos. 7–12) als auch bei der Auswahl der Kriterien als Letztbezug, um die Paradoxie der Differenz zwischen Wirtschaft und Gesellschaft aufzulösen.
Also jetzt zum Beispiel, ob das jetzt irgendwie das Involvement irgendwo, Western Sahra, Sudan oder irgendwelche Skandale, Umweltthemen sind, also irgendwelche Themen, die breite sind, Kartellstrafen, wenn es um große Sachen geht, Kooperation in dem Bereich. Und das ist dann eher thematisch aufgehängt, und in dem Bereich suchen wir uns dann auch, also kooperieren wir auch mit NGOs, und das ist auch möglich, dass, wenn wir unsere Indikatoren aktualisieren, dass wir dann eben auch mit NGOs, die entsprechendes Wissen haben oder in dem Bereich arbeiten, uns kurzschließen, um zu schauen, was da der Trend ist, um auch eine Gegenposition zu finden oder eine Industriemeinung zu bekommen. (Interview N3, Pos. 20)
NGOs sind daher eine weitere wesentliche Voraussetzung, damit über die Nachhaltigkeitsratings die Gesellschaft in der Wirtschaft berücksichtigt werden kann. Für eine Reflexion im Unternehmen ist daher ein Netzwerk, insbesondere aus NGOs, notwendig. Dadurch können im Möglichkeitsraum der Entwicklung des Wirtschaftssystems die Möglichkeiten der anderen gesellschaftlichen Funktionssysteme berücksichtigt werden.
Es gibt immer wieder neue wesentliche Gesellschaftsthemen, die von verantwortlichen Investoren adressiert werden. Auch Nachhaltigkeitsratingagenturen berücksichtigen gesellschaftliche Themen, auf denen bisher kein Fokus lag oder die bisher unbekannt waren. Ho (2013, S. 361 ff.) zeigt, dass sich die Themen, die für die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung durch Unternehmen betrachtet werden sollten, über den Zeitverlauf ändern. Die wesentlichen gesellschaftlichen Kriterien zur Bewertung von Unternehmen sollten daher flexibel gehalten werden, da sie den gesellschaftlichen Wandel unseres Alltags reflektieren.
Die Methodik wird von der Mehrzahl der Nachhaltigkeitsratingagenturen jährlich angepasst. Außer von den Nachhaltigkeitsratingagenturen CDP und RobecoSAM, die mit Fragebögen arbeiten, werden jedoch wenig Informationen zu Änderungen der Methodik preisgegeben (Europäische Kommission, Generaldirektion Finanzstabilität, Finanzdienstleistungen und Kapitalmarktunion 2021, S. 107).
Ho (2013, S. 363) sieht in den gesellschaftlichen Themen, die als wesentlich erachtet werden, eine soziale Konstruktion, die das aktuelle Wissen über soziale und ökologische Weltprobleme reflektiert. Es handelt sich daher nur um eine (Schein-)Wirklichkeit der gesellschaftlichen Themen.
Um der Unsicherheit entgegenzuwirken, dass wesentliche gesellschaftliche Themen übersehen oder dass gesellschaftliche Themen zu Unrecht als wesentlich für eine unternehmerische Verantwortung erachtet wurden, wird die Bewertung der Nachhaltigkeitsratingagenturen flexibel ausgelegt. Durch diese Flexibilität kann einerseits die gesellschaftliche Auswirkung von Unternehmen eingeschätzt, andererseits können aber auch die gesellschaftlichen Themen, die als Kriterien für die Bewertung zugrunde gelegt werden, angepasst werden. Aus systemtheoretischer Sicht entspricht diese kontinuierliche Anpassung an gesellschaftliche Themen einem Reentry des unbekannten Dritten in das Wirtschaftssystem. Was zuvor mit einer klaren Differenz von der Wirtschaft ausgeschlossen wurde und der Gesellschaft, als Umwelt des Wirtschaftssystems, zugeordnet wurde, wird nun wieder in das Wirtschaftssystem mit aufgenommen.
Nachhaltigkeitsratings werden von Unternehmen als Frühwarnsystem verwendet, um neu aufkommende gesellschaftliche Themen zu identifizieren und die jeweiligen gesellschaftlichen Auswirkungen mit denen von Wettbewerbern zu vergleichen. Die Veränderung der Methode der Nachhaltigkeitsratings gibt unternehmerischen Entscheider einen Hinweis über einen Wandel der gesellschaftlichen Erwartungen (SustainAbility 2018, S. 9).
Nachhaltigkeitsratings decken immer wieder neue Risiken und Themen auf (Interview U18, Pos. 34) und führen zu einer stärkeren Auseinandersetzung des Unternehmens mit Nachhaltigkeit (Interview U17, Pos. 23–24). Damit ermöglichen die Nachhaltigkeitsratingagenturen eine stärkere Reflexion von gesellschaftlichen Themen, die kontinuierlich angepasst wird (Interview U17, Pos. 35–36). Durch das wiederkehrende Aufdecken von neuen gesellschaftlichen Themen wird die Scheinsicherheit, dass bereits alle wesentlichen gesellschaftlichen Aspekte berücksichtigt werden, aufgelöst, weshalb die Nachhaltigkeitsratings zu einer Reduktion von Latenz führen. Durch die Aufnahme von gesellschaftlichen Themen, die als wesentlich erachtet werden, wird die Resonanz in einem bestimmten Bereich der Gesellschaft erhöht. Durch die ständige Anpassung der Kriterien bilden die Nachhaltigkeitsratings immer wieder einen unterschiedlichen Ausschnitt der Gesellschaft ab. Durch diese punktuellen, vielfältigen und wechselnden Themen entsteht eine neue Scheinsicherheit, dass die Gesellschaft als Ganzes erfasst werden kann, obwohl weiterhin nur ein Bruchteil der gesellschaftlichen Komplexität dargestellt wird. Nachhaltigkeitsratings führen durch diesen Schein zu einer stärkeren Reflexion von gesellschaftlichen Themen bei Unternehmen und damit auch zur Berücksichtigung von Erwartungen aus anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen.

5.3.2 Reflexion in Entscheidungen

Ein indirekter Einfluss der Nachhaltigkeitsratings auf die Entscheidungen der Unternehmen entsteht besonders durch eine stärkere gesellschaftliche Reflexion aufgrund einer höheren Transparenz (Slager 2015, S. 398 f.).
Besonders bei Unternehmen mit einer aktiven Konformität, die sich aktiv an Nachhaltigkeitsratings beteiligen, um ein besseres Ergebnis zu erzielen, führen Nachhaltigkeitsratings zu einer besseren Berichterstattung (Clementino und Perkins 2021). Die Anfragen der Nachhaltigkeitsratingagenturen führen einerseits dazu, dass Unternehmen ihre gesellschaftlichen Auswirkungen transparenter machen (Interview U12, Pos. 18), indem zusätzliche gesellschaftliche Informationen im Nachhaltigkeitsbericht (Interview U6, Pos. 65–66) und Geschäftsbericht (Interview U15, Pos. 43–44) aufgenommen und gesellschaftliche Informationen direkt an die Nachhaltigkeitsratingagenturen übermittelt werden (Interview U17, Pos. 34). Ein Beispiel für ein neues Thema, mit dem sich das Unternehmen aufgrund von Nachhaltigkeitsratings auseinandersetzt, ist „Menschenrechte“.
Was natürlich so ein bisschen ein Treiber ist und was nochmals ein neuer Aspekt ist, den die Abfragen, ist zum Thema Menschenrechte, das kommt jetzt ja noch mal stark, zum Beispiel bei RobecoSAM habe ich es gerade mit einer Kollegin heute noch mal angeguckt, da kommen jetzt natürlich stark Fragen hoch zu DueDilligence-Prozesse hinsichtlich der Einhaltung von Menschenrechten usw. Das ist genau ja ein Thema, wo ich sage, das fordert uns jetzt und das sind jetzt neue Themen und ich weiß zwar, dass es diese Gedankengänge gibt und dass man sich damit beschäftigen muss. Ich kann nicht sagen, ob andere Wettbewerber das bereits haben, könnte mir das vorstellen, aber das ist zum Beispiel ein Thema, das wir uns stark widmen müssen, glaube ich, wie gehen wir mit diesem Thema um, wer hat die Verantwortung für das Thema? Wir haben Moment zum Beispiel wie gesagt kein Verantwortlichen für das Thema so richtig, sondern jeder macht etwas, und wir müssen das jetzt bündeln und müssen gucken, wie stellen wir uns jetzt auf. Das ist zum Beispiel genauso so was, so eine Nachfrage wird uns jetzt da auch nach vorne bringen, weil, wir sehen, das kommt, wir müssen uns das Thema stellen, natürlich auch durch die Politik, der Aktionsplan den Ruggie Framework, das müssen jetzt nach und nach umsetzen; und da ist natürlich sehr stark das politische Interesse dahinter, das internationale, aber das sehe ich halt wirklich, dass wir das nutzen und umsetzen werden. (Interview U12, Pos. 23–24)
Andererseits ermöglicht die höhere Transparenz auch eine stärkere Berücksichtigung der gesellschaftlichen Auswirkungen bei den Stakeholdern der Unternehmen, wodurch die Erwartungen erzeugt werden, dass das Unternehmen die Gesellschaft stärker in ihren Entscheidungen berücksichtigt (Interview N1, Pos. 37–38).
Nachhaltigkeitsratings führen also zu einer Veränderung der Berichterstattung und der Transparenz der Unternehmen. Durch ihre Fremdbeschreibung beeinflussen sie die Selbstbeschreibung des Unternehmens und erzeugen eine höhere Reflexion, die zur Entstehung einer Wirtschaft mit begrenzter Reflexion beiträgt.

5.3.3 Grenzen der Reflexionsfunktion von Nachhaltigkeitsratings

Bei der Reflexionsfunktion der Nachhaltigkeitsratings, die ein wesentlicher Treiber für die Evolution einer Wirtschaft mit begrenzter Reflexion bilden, existieren jedoch auch Barrieren, die die vollständige Reflexionsleistung behindern und damit das Aufbrechen des bisherigen Entwicklungspfades erschweren.
Die Auswahl für die Reflexion von gesellschaftlichen Themen wird in den Nachhaltigkeitsratings mit Bezugnahmen auf Experten und Akteure aus unterschiedlichen Funktionssystemen, insbesondere auch auf NGOs, die eine funktionsübergreifende Kommunikation erlauben, begründet. Ein wesentlicher Kritikpunkt besteht darin, dass die Nachhaltigkeitsratingagenturen nicht ausreichend Akteure bei der Entscheidung über die Auswahl und Einschätzung der Bedeutung gesellschaftlicher Themen, die für die Bewertung der Unternehmen herangezogen werden, berücksichtigen. Nachhaltigkeitsratingagenturen sollten während und nach der Bewertung mehr Zeit in die Beteiligung von Unternehmen investieren, um das Geschäftsmodell besser zu verstehen und Ergebnisse zu erläutern (SustainAbility 2011b, S. 20). Nachhaltigkeitsratings sollten Stakeholder durch externe Beratungsgremien beteiligen und die Art, das Feedback und die Ergebnisse der Beteiligung erläutern (SustainAbility 2011b, S. 14 f.). Die Kritik bezieht sich auch auf die Entwicklung der Bewertungskriterien und auf die Auswahl und Einschätzung der Bedeutung der gesellschaftlichen Themen (Chatterji und Levine 2006, S. 50).
Aus Sicht des Autors kann zu den Kritikpunkten der Literatur zur Reflexionsleistung der Nachhaltigkeitsratings ergänzt werden, dass der Auswahlprozess für die Akteure, die bei den Entscheidungen der Nachhaltigkeitsratingagenturen mitwirken, nicht transparent gemacht wird. Die Intransparenz erzeugt für die Entscheidungsprämissen einen unbegründeten Letztbezug. Da die Auswahl der Akteure aber einen hohen Einfluss auf die Reflexion der gesellschaftlichen Themen hat, sollten die Nachhaltigkeitsratings näher beschreiben, wie sie die Stakeholder, die sie bei den Entscheidungen und den Entscheidungsprämissen einbeziehen, auswählen.
Für eine Verbesserung der Reflexionsleistung sollten die Nachhaltigkeitsratingagenturen daher in einen intensiveren Dialog mit Unternehmen gehen, stärker die Erwartungen durch NGOs berücksichtigen und transparent machen, wie diese Kommunikation in der Auswahl und Priorisierung der gesellschaftlichen Themen berücksichtigt wird. Dadurch wird verständlicher, wie die Illusion der Gesellschaft aufgebaut wird und welche Aspekte der komplexen Gesellschaft nicht enthalten sind.
Ein weiterer wesentlicher Kritikpunkt gegenüber den Nachhaltigkeitsratings besteht bezüglich der Überlastung durch eine zu starke Reflexion, da eine Vielzahl an Entscheidungsprämissen von den Nachhaltigkeitsratingagenturen definiert wird. Nachhaltigkeitsratings und die Beobachtung von Nachhaltigkeit sind nur durch eine Differenz zwischen Wirtschaft und Gesellschaft möglich. Da es sehr viele unterschiedliche Möglichkeiten gibt, wie die Differenz zwischen Wirtschaft und Gesellschaft gesetzt wird, gibt es auch eine Vielzahl an Möglichkeiten, wie die gesellschaftlichen Auswirkungen der Unternehmen durch die Nachhaltigkeitsratingagenturen bewertet werden. Die Vielfalt der Nachhaltigkeitsratings hat in den vergangenen Jahren enorm zugenommen (siehe Abschnitt 4.​3.​2). Angesichts der Vielfalt an Nachhaltigkeitsratingagenturen und Differenzen zwischen Wirtschaft und Gesellschaft kann hinterfragt werden, ob die gewählte Perspektive einer Nachhaltigkeitsratingagentur tatsächlich die Richtige ist, um die gesellschaftlichen Auswirkungen eines Unternehmens zu bewerten. Zur Beschreibung der gesellschaftlichen Auswirkung von Unternehmen gibt es eine Vielzahl an unterschiedlichen Methoden, mit denen die Bewertung durchgeführt werden kann. Es gibt Bewertungsobjekte, die ausgewählt, Zeithorizonte, die betrachtet und gesellschaftliche Themen, die ausgewählt und priorisiert werden können. Methodisch betrachtet können gesellschaftliche Auswirkungen hinsichtlich Transparenz oder Performance (Interview N9, Pos. 10–11), absolut (Interview N2, Pos. 14) oder relativ (Interview N3, Pos. 7–8), branchenspezifisch oder branchenübergreifend (Interview N9, Pos. 17) bewertet werden. Auch bezüglich des Bewertungsobjekts stellt sich die Frage, welche Unternehmen in den Bewertungshorizont aufgenommen werden (Interview U5, Pos. 42–50). Neben der Frage, welche Unternehmen berücksichtigt werden, stellt sich auch die Frage, welche Bewertungsgrenzen innerhalb des Unternehmens zu ziehen (Interview U12, Pos. 44) und ob regionenspezifische Aspekte zu berücksichtigen sind (Interview U11, Pos. 35–36). In zeitlicher Hinsicht stellt sich die Frage, ob eher vergangenheitsbezogene oder zukunftsorientierte Bewertungskriterien zugrunde gelegt werden (Interview N8, Pos. 8). Für die Erstellung der Bewertungskriterien gibt es eine Vielzahl an Möglichkeiten, welche gesellschaftlichen Themen ausgewählt und wie diese gewichtet werden (Interview N9, Pos. 13). Durch die Vielzahl an Beobachtungsperspektiven kann auch eine Differenz zwischen der Selbstbeschreibung des Unternehmens und der Fremdbeschreibung seitens der Nachhaltigkeitsratingagentur auftreten. So kritisiert das Unternehmen die Einschätzung der Nachhaltigkeitsratings, da aus seiner Sicht nicht immer die richtigen Themen abgefragt (Interview U19, Pos. 54) oder wesentliche Themen wie die Dieselkrise nicht berücksichtigt werden (Interview U10, Pos. 70–71). Das Unternehmen löst diese Differenzen auf, indem es teilweise diese Themen trotzdem bearbeitet (Interview U20, Pos. 37–40), aber größtenteils werden die Themen, die nicht mit den eigenen Vorstellungen vereinbar sind, nicht angegangen und bewusst nicht beantwortet (Interview U13, Pos. 36). Für Unternehmen besteht jedoch auch die Möglichkeit, Nachhaltigkeitsratings nur durch kommunikative Maßnahmen zu verbessern, ohne, dass es eine grundsätzliche Veränderung der gesellschaftlichen Auswirkungen gibt (Interview U19, Pos. 63–64). Zwar können die Nachhaltigkeitsratingagenturen durch die systematische Abfrage mögliches Greenwashing aufdecken, da sie aber nicht in der Lage sind, Unternehmen im Detail zu bewerten, können durch kleine Veränderungen im Unternehmen große Veränderungen im Rating bewirkt werden (Interview U10, Pos. 63–64). Es besteht daher immer noch die Herausforderung für die Nachhaltigkeitsratingagenturen, eine hohe Datenqualität zu erzeugen (Europäische Kommission, Generaldirektion Finanzstabilität, Finanzdienstleistungen und Kapitalmarktunion 2021, S. 166 ff.). Dies ist jedoch nicht nur auf die Unternehmen zurückzuführen, sondern auch auf die Auswertungsprozesse der Nachhaltigkeitsratingagenturen (Interview U11, Pos. 20), weshalb eine höhere Datenqualität von den Nachhaltigkeitsratingagenturen gefordert wird (Interview U11, Pos. 21–22). Dafür haben sich bereits Qualitätsstandards entwickelt (Interview N7, Pos. 43), denen allerdings, ähnlich der Messung der gesellschaftlichen Auswirkung, eine große Vielzahl an möglichen Definitionen zugrunde liegt. Da die Nachhaltigkeitsratingagenturen trotz Qualitätsstandard nicht in der Lage sind, die gesamte Gesellschaft und damit alle gesellschaftlichen Auswirkungen zu beobachten, bleibt die Unsicherheit bestehen, dass sie nicht das Wesentliche beobachten und damit zu falschen Schlussfolgerungen kommen. Insgesamt gibt es daher sehr unterschiedliche Meinungen, wie die gesellschaftlichen Auswirkungen von Unternehmen am besten gemessen werden sollten. Die Beobachtungsdifferenz zur Betrachtung der gesellschaftlichen Auswirkungen von Unternehmen, kann sehr unterschiedlich gesetzt werden. Je nach Definition von Entscheidungsprämissen zur Beobachtung von gesellschaftlichen Auswirkungen werden einige Aspekte berücksichtigt und andere vernachlässigt. Damit gibt es viele Möglichkeiten, die Differenz zwischen Wirtschaft und Gesellschaft zu setzen und gesellschaftliche Themen in der Wirtschaft zu reflektieren. Es bestehen diverse Optionen, wie das unbekannte Dritte aus der Gesellschaft wieder in der Wirtschaft sichtbar gemacht werden kann. Dadurch entsteht Kontingenz in der räumlichen, zeitlichen und sozialen Dimension.
Durch die zunehmende Vielfalt, wie gesellschaftliche Auswirkungen von Unternehmen bewertet werden können, entsteht auch zunehmende Komplexität. Damit verbunden steigt auch die Kontingenz, die zu Unsicherheit führt.
Es gibt nicht nur Unterschiede in der Differenzsetzung von Wirtschaft und Gesellschaft zwischen Unternehmen und Nachhaltigkeitsratingagentur, sondern auch unter den Nachhaltigkeitsratingagenturen für sich. Durch die große Vielfalt an Nachhaltigkeitsratings können Zielkonflikte entstehen. So wurde im Rahmen eines Vergleichs der Bewertungen der gesellschaftlichen Auswirkungen von Unternehmen durch die Nachhaltigkeitsratingagenturen ASSSET4, Bloomberg und KLD ersichtlich, dass die Ergebnisse der Nachhaltigkeitsratingagenturen nicht konvergent sind (Dorfleitner et al. 2016, S. 13).
In einem Vergleich der Daten der Nachhaltigkeitsratingagenturen Sustainalytics, MSCI, RobecoSAM (S&P Global) und Bloomberg fanden State Street Global Advisors (2019) heraus, dass bei den Ergebnissen eine Korrelation von 0,48 besteht, was im Vergleich zur Korrelation zwischen den Kreditratingagenturen von Moody's und Standard and Poor’s in Höhe von 0,99 sehr niedrig erscheint. Denn dies bedeutet, dass nur bei etwa der Hälfte der bewerteten Unternehmen konsistente Ergebnisse vorliegen. In einem Vergleich von sechs verschiedenen Nachhaltigkeitsratingagenturen in einer Studie von Gibson et al. (2021) liegt die Korrelation bei durchschnittlich 0,46. Auch in einer weiteren Studie (Berg et al. 2019), die von 823 Unternehmen die jeweiligen Ratingergebnisse von den Nachhaltigkeitsratingagenturen KLD (jetzt MSCI KLD), Sustainalytics, VigeoEiris und RobecoSAM, Asset4 (jetzt Refinitiv und MSCI) analysierte, beträgt die Korrelation im Durschnitt bei 0,54.
Die Unterschiede in den Ergebnissen der Nachhaltigkeitsratingagenturen führen dazu, dass Investoren nicht in der Lage sind, einzuschätzen, welche Unternehmen eine bessere Nachhaltigkeitsleistung haben als andere, weshalb die gesellschaftlichen Auswirkungen der Unternehmen weniger wahrscheinlich bei Investitionsentscheidungen berücksichtigt werden. Zudem führen diese unterschiedlichen oder sogar widersprüchlichen Signale von den Nachhaltigkeitsratings dazu, dass Unternehmen nicht in der Lage sind, ihre Nachhaltigkeitsleistung zu verbessern, da sie nicht genau wissen, welche Maßnahmen sie ergreifen sollen (Berg et al. 2019).
Die Paradoxie der Vielfalt wird nicht nur aus einer statischen Perspektive ersichtlich, sondern auch bei einer dynamischen Betrachtung. Denn es entstand im Zeitverlauf nicht nur eine Vielzahl an unterschiedlichen Nachhaltigkeitsratings, sondern ebenso eine Vielfalt an neuen Nachhaltigkeitsratingagenturen. So gab es im Jahr 2000 lediglich 21 der 108 Nachhaltigkeitsratingagenturen, die 2010 von Rate the Raters untersucht wurden. Dieser Wandel hat zwar einerseits den Vorteil, dass zahlreiche neue Themen aufgenommen und so die Bewertungen der gesellschaftlichen Auswirkungen der Unternehmen an die Veränderungen der gesellschaftlichen Erwartungen angepasst werden konnte. Anderseits kann diese kontinuierliche Anpassung aber auch zu Irritationen bei Unternehmen und Anwendern führen, da der Maßstab für die Bewertung der Unternehmen immer wieder verändert wird. Dadurch können keine Zeitvergleiche gezogen werden, und es ist keine Aussage darüber möglich, ob sich Unternehmen im Zeitverlauf zu einer sinnvollen Organisation entwickeln oder nicht (SustainAbility 2010b, S. 11).
Die große Zahl an unterschiedlichen Methoden, um die gesellschaftlichen Auswirkungen zu bewerten, kann als sehr wertvoll für eine höhere Reflexion der gesellschaftlichen Auswirkungen der Wirtschaft gesehen werden. Durch unterschiedliche Perspektiven auf die Gesellschaft werden die gesellschaftlichen Themen zur Bewertung der Unternehmen vielfältiger ausgewählt, wodurch die gesellschaftliche Komplexität besser abgebildet wird. Allerdings kann eine zu starke Reflexion auch zu Überlastungen führen.
Die wachsende Vielfalt an gesellschaftlichen Methoden zur Bewertung der gesellschaftlichen Auswirkungen führt zu Unsicherheit (Interview U11, Pos. 20) und sogar bis hin zu Widersprüchen (Interview U15, Pos. 57–58). Unternehmen sind dann nicht mehr in der Lage, zu entscheiden, welche die richtigen Maßnahmen sind, um die Gesellschaft stärker in den eigenen Operationen zu berücksichtigen, wodurch auch die Evolution zu Unternehmen mit einer begrenzten Reflexion behindert wird.
[…] Gleichwohl glaube ich, muss man so selbstbewusst sein, zu sagen, es ist nicht das einzige Ziel, in Ratings, zumal in allen Ratings, gleichzeitig die Toppositionen zu erlangen. Dazu ist die Ratingwelt zu wenig sagen wir mal belastbar, wir stellen ja fest, dass, wenn man auf der einen Seite Punkte macht, auf der anderen Seite eines anderen Ratings eher Punkte verliert. Dass der widersprüchliche Anforderungen an uns gestellt werden, allein aus dem Tatbestand heraus kann man eigentlich nicht das Ziel haben, dass man in allen Ratings, die wir kennen, die sich auch verändern oder die neu dazu kommen, sozusagen immer zielgerichtet die Topplatzierung haben […] (Interview U8, Pos. 18)
Da Unternehmen nicht wissen, wie die Ergebnisse der Nachhaltigkeitsratingagenturen einzuordnen sind, versuchen sie, die Nachhaltigkeitsratings besser nachzuvollziehen, und fordern eine höhere Transparenz der Nachhaltigkeitsratings (Interview N2, Pos. 38). Denn auf Grundlage von Intransparenz können keine klaren Entscheidungen über die Berücksichtigung der Gesellschaft in den eigenen Operationen getroffen werden (Interview U10, Pos. 26). Die Intransparenz der Bewertungsmethode und des Bewertungsprozesses der Nachhaltigkeitsratings überträgt sich auf das untersuchte Unternehmen, da unklar ist, wie die Ergebnisse zu interpretieren sind und mit welchen Maßnahmen welche Effekte im Rating erzielt werden können. Die Intransparenz der Nachhaltigkeitsratingagenturen ist damit eine wesentliche Barriere, die bedingt, warum Unternehmen nicht wissen, wie sie Nachhaltigkeitsratings nutzen können, um die Organisation auf einen sinnvollen Entwicklungspfad auszurichten.
Aus systemtheoretischer Sicht kann Transparenz das Problem einer zu hohen Reflexion jedoch nicht lösen, sondern im Gegenteil wird die Kontingenz dadurch noch verschärft. Denn wenn ein tieferer Einblick in die Bewertung der gesellschaftlichen Auswirkungen gegeben wird, kann noch viel stärker hinterfragt werden, warum die Bewertung so und nicht anders durchgeführt wurde – bis hin zur grundsätzlichen Frage, inwiefern negative gesellschaftliche Auswirkungen mit positiven gesellschaftlichen Auswirkungen kompensiert werden können (Capelle-Blancard und Petit 2015, S. 3 f.). Für die Nachhaltigkeitsratings ist es eigentlich nicht möglich, die Gesellschaft abzubilden. Nachhaltigkeitskriterien sind sowohl bei der Auswahl der Themen als auch im Umfang der Inhalte, die bewertet werden, begrenzt (Interview U18, Pos. 34). Zudem sind sie auch nicht in der Lage, die Prozesse des Unternehmens in der Tiefe zu prüfen und sie mit denjenigen anderer Unternehmen zu vergleichen (Interview U13, Pos. 53–64). Außerdem gibt es gesellschaftliche Aspekte, die nicht messbar gemacht werden können (Interview U16, Pos. 35–38). Es wird also immer gesellschaftliche Aspekte geben, die von den Nachhaltigkeitsratingagenturen nicht berücksichtigt oder bewertet werden können. Hier wird die Paradoxie deutlich, mit der die Beobachtung der gesellschaftlichen Themen in der Wirtschaft erst möglich wird. Die Gesellschaft und damit auch die gesellschaftlichen Auswirkungen von Unternehmen können nie vollständig abgebildet werden. Nachhaltigkeitsratings müssen eine Differenz zwischen der Gesellschaft und Wirtschaft setzen. Dazu müssen sie eine Reihe von Tradeoffs machen: Transparenz und Performance, absolute und relative Kriterien, branchenbezogen und branchenübergreifend, große Unternehmen und kleine Unternehmen, regional und international, retrospektiv und prospektiv. Sie müssen entscheiden, welche gesellschaftlichen Themen ausgewählt und wie sie priorisiert und wie generell positive Auswirkungen mit negativen Auswirkungen verrechnet werden. Bei einer vollständigen Betrachtung der Gesellschaft müssten alle Aspekte berücksichtigt werden, was eine Überforderung aller Beteiligten bedeutete, weshalb die Nachhaltigkeitsratingagenturen eine Vielzahl an Entscheidungen treffen müssen, damit eine Bewertung der gesellschaftlichen Auswirkungen möglich wird. Diese Entscheidungen bestimmen darüber, wie die gesellschaftliche Komplexität reduziert wird und wie damit als vereinfachtem Abbild der Gesellschaft diese in der Wirtschaft verarbeitbar wird. Dafür müssen sie verschleiern, dass die definierte Differenz zwischen Wirtschaft und Gesellschaft wegen der Vielzahl an Entscheidungen auch ganz anders hätte gesetzt werden können. Wenn Nachhaltigkeitsratings vollständig transparent wären, würden sie nicht mehr akzeptiert werden (Interview U14, Pos. 65–66). Nachhaltigkeitsratings müssen die gesellschaftliche Paradoxie verschleiern, da sonst sichtbar wird, dass eine (vollständige) Beobachtung der Gesellschaft gar nicht möglich ist, sodass auch keine gesellschaftlichen Auswirkungen von Unternehmen bewertet werden können. Sie brauchen strukturelle Latenz, um ihre Funktion zu erfüllen und um diese Paradoxie zu verschleiern. Dies erreichen die Nachhaltigkeitsratingagenturen, indem sie einerseits möglichst viele gesellschaftliche Kriterien aufnehmen, um die gesellschaftlichen Auswirkungen möglichst umfangreich darzustellen und um die Scheinsicherheit aufzubauen, dass die Gesellschaft als Ganzes berücksichtigt wird, und indem sie andererseits die Auswahl der Kriterien so begrenzen, dass weder die Nachhaltigkeitsratingagenturen und die Unternehmen noch die Investoren überfordert werden. Sie müssen also ein Kompromiss zwischen zu hoher und zu niedriger Komplexität finden. Eine zu hohe Komplexität beziehungsweise zu hohe Reflexion kann zu Überlastungen führen, weshalb die Reflexionsleitung der Nachhaltigkeitsratingagenturen begrenzt werden muss, damit gesellschaftliche Themen in der Wirtschaft berücksichtigt werden können. Dies wird besonders durch Generalisierung und Standardisierung möglich.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Nachhaltigkeitsratings eine höhere Reflexion von gesellschaftlichen Themen im Wirtschaftssystem durch einen stärkeren Einbezug anderer gesellschaftlicher Funktionssysteme bei der Auswahl und der Gewichtung der gesellschaftlichen Themen ermöglichen, auf deren Grundlage die gesellschaftlichen Auswirkungen der Unternehmen bewertet werden. Durch Interpenetration geben die Nachhaltigkeitsratings dem Wirtschaftssystem die Möglichkeit, netzwerkartig über die Systemgrenzen hinweg mit anderen Funktionssystemen zu kommunizieren, die an der Auswahl und Gewichtung der Kriterien und bei der jeweiligen Bewertung beteiligt sind. Da die Gesellschaft viel komplexer ist als die Wirtschaft, können Nachhaltigkeitsratings nur einen begrenzten Ausschnitt der Gesellschaft abbilden. Indem die Nachhaltigkeitsratings sich jedoch kontinuierlich anpassen und das unbekannte Dritte aus der Gesellschaft jederzeit einbeziehen können, erzeugen sie die Scheinsicherheit, dass sie in der Lage sind, die Gesellschaft als Ganzes zu bewerten. Dadurch werden immer wieder neue Gesellschaftsthemen in die Wirtschaft aufgenommen, und das Wirtschaftssystem wird kontinuierlich durch gesellschaftliche Themen irritiert. Die Beobachtung der Gesellschaft durch die Nachhaltigkeitsratings erweitert die meist eher wirtschaftliche Beobachtungsperspektive der Unternehmen um eine gesellschaftliche Perspektive. Mit dieser neuen Perspektive aus anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen werden dem Unternehmen alternative Entwicklungsmöglichkeiten aufgezeigt. Mit der Erzeugung dieser höheren Reflexion der Gesellschaft im Wirtschaftssystem unterstützen Nachhaltigkeitsratings die Auflösung des bisherigen Evolutionspfades.
Nachhaltigkeitsratings beeinflussen indirekt die Entscheidungen in Unternehmen, indem sie die Berichterstattung verändern und die Transparenz der Unternehmen erhöhen. Durch ihre Fremdbeschreibung beeinflussen sie die Selbstbeschreibung des Unternehmens und erzeugen eine höhere Reflexion, die zur Entstehung einer Wirtschaft mit begrenzter Reflexion beiträgt.
Es wird allerdings kritisiert, dass die Nachhaltigkeitsratings nicht ausreichend Akteure für die Entscheidung über die Auswahl und Einschätzung der gesellschaftlichen Themen, die für die Bewertung der Unternehmen herangezogen werden, berücksichtigen. Zudem sollte der Auswahlprozess für die Akteure, die bei den Entscheidungen der Nachhaltigkeitsratingagenturen mitwirken, transparent gemacht werden. Durch eine begrenzte Anzahl von Akteuren, die in den Ratingprozess einbezogen werden, bleibt die Reflexion der Gesellschaft unvollständig. Diese Begrenzung erzeugt aber bewusst oder unbewusst eine Stoppregel für die unendlich vielen Möglichkeiten der Bewertung der gesellschaftlichen Auswirkungen der Wirtschaft. Der Verweis auf Experten dient daher als Begrenzung einer gesellschaftlichen Reflexion im Wirtschaftssystem. Die große Vielfalt an Nachhaltigkeitsratings führt jedoch zu einer zu hohen Reflexion, die die Unternehmen überlasten, da dadurch Widersprüche bei den gesellschaftlichen Erwartungen entstehen. Die oftmals geforderte bessere Transparenz führt zu einer höheren Unsicherheit, da mit zusätzlichen Erkenntnissen die gesellschaftliche Bewertung der Nachhaltigkeitsratings noch stärker hinterfragt werden kann. Nachhaltigkeitsratings sind nicht in der Lage, die Gesellschaft als Ganzes abzubilden, und müssen daher einen Kompromiss aus vielen Faktoren finden, der ab einem bestimmten Punkt beliebig erscheint, da die Auswahl subjektiv wird. Damit sie die gesellschaftlichen Auswirkungen bewerten können, müssen sie den Schein wahren, dass sie in der Lage sind, die Gesellschaft als Ganzes zu erfassen. Mit einer Balance aus ausreichend Kriterien, die den Schein erwecken, dass die Auswahl vollständig ist, und einer begrenzten Anzahl an Kriterien, die die beteiligen Organisationen nicht überlasten, wird es möglich, eine strukturelle Latenz aufzubauen. Nachhaltigkeitsratings erhöhen einerseits die Transparenz zu gesellschaftlichen Themen. Allerdings erzeugen sie mit diesen Methoden neue Intransparenz, da nicht nachvollzogen werden kann, wie die Ergebnisse der Nachhaltigkeitsratingagenturen entstehen. Mit dieser Transformation von Latenz tragen die Nachhaltigkeitsratings zu einer Wirtschaft mit begrenzter Reflexion bei.
Mit der Erzeugung einer höheren Reflexion unterstützen Nachhaltigkeitsratings die Auflösung des bisherigen Evolutionspfades.

5.4 Generalisierungsfunktion von Nachhaltigkeitsratings

Mithilfe von Generalisierung tragen Nachhaltigkeitsratings zu einer Stabilisierung eines neuen Evolutionspfades für eine Wirtschaft mit beschränkter Reflexion bei. Im folgenden Abschnitt wird die Generalisierungsfunktion der Nachhaltigkeitsratings erläutert. Zur Beschreibung der Generalisierungsfunktion von Nachhaltigkeitsratings und ihrer Auswirkung auf die Wirtschaftsorganisation „Unternehmen“ wird sowohl das rational-kalkulatorische Institutionenverständnis der Institutionenökonomie als auch das eher kulturalistische Verständnis durch den soziologischen Institutionalismus zur Beschreibung herangezogen.

5.4.1 Generalisierung durch Nachhaltigkeitsratings

Wie bereits in Abschnitt 4.​2.​1 beschrieben, sind Institutionen eine wesentliche Voraussetzung für die Erzeugung von Sinn und für die Aufrechterhaltung der Autopoiesis, denn für Systeme ist es nur durch eine Beschränkung möglich, die komplexe Umwelt zu verarbeiten. Für die Berücksichtigung der Gesellschaft spielt daher Nachhaltigkeit eine wesentliche Rolle. In Anlehnung an Mayntz und Scharpf (1995) unterscheiden Göhler und Kühn (1999) einen ökonomischen, soziologischen und politischen Neo-Institutionalismus. Während der ökonomische Institutionalismus (Coase 1937; Hardin 1968; Williamson 1975; Jensen und Meckling 1976; North 1990) eher ein rational-kalkulatorisches Verständnis von Institutionen hat und der soziologische Institutionalismus (Meyer und Rowan 1977; Scott 1995; DiMaggio und Powell 1983; Cohen et al. 1972) mit einem bedingt rational-kulturalistischen Verständnis von Institutionen arbeitet, beinhaltet der politische Institutionalismus sowohl rational-ökonomische (Pierson 2016; Pollack 1996) als auch soziologisch-kulturalistische Ansätze (Bulmer 1993).
Allerdings ist mittlerweile eine genaue Zuordnung des Institutionalismus zu den wissenschaftlichen Disziplinen schwierig, da sie sich aufeinander beziehen und sich gegenseitig beeinflussen, weshalb die Ansätze einen eher transdisziplinären Charakter aufweisen und eine genaue Beschreibung der disziplinbezogenen Eigenheiten des neuen Institutionalismus kaum möglich ist. Ein scheinbarer Vorteil des Institutionalismus besteht darin, dass er als Mesotheorie zwischen Mikro- und Makrotheorien liegt. Bei genauerer Analyse wird jedoch deutlich, dass die Theorien sich entweder auf die eine oder die andere Seite beziehen. Deutlich wird das bei einer Untersuchung der institutionalistischen Beschreibung von Wirtschaftsorganisationen. Tacke (1999) zeigt aus einer systemtheoretischen Perspektive, dass die Institutionenökonomie und der Neoinstitutionalismus komplementäre Konzepte sind, die Wirtschaftsorganisationen beschreiben. Während die Institutionenökonomie eher das Wirtschaftliche und kaum das Organisatorische der Wirtschaftsorganisation beschreibt, bezieht sich der Neoinstitutionalismus eher auf die Beschreibung der Organisation als auf das Ökonomische. In der Transaktionskostenökonomie werden institutionelle Strukturen durch die Fremdreferenz zu anderen Funktionssystemen, zum Beispiel dem Rechtssystem erzeugt, und mit dem Neo-Institutionalismus wird deutlich, dass sich die Organisationen auch selbst beschränken können, um weitere Entscheidungen in einer komplexen Umwelt treffen zu können (Tacke 1999, S. 81 ff.).
Zur Beschreibung der Generalisierungsfunktion von Nachhaltigkeitsratings und deren Auswirkung auf die Wirtschaftsorganisation „Unternehmen“ wird daher sowohl das rational-kalkulatorische Institutionenverständnis der Institutionenökonomie als auch das eher kulturalistische Verständnis durch den soziologischen Institutionalismus herangezogen.
Systemtheoretisch kann die Transaktionskostenökonomie als Reflexionstheorie betrachtet werden, die eine Reflexion aus Sicht der Wirtschaft darstellt. Bei der Transaktionskostenökonomie handelt es sich um eine Reflexionstheorie der Wirtschaft, da sie nicht den Austausch von Produkten gegen Zahlungen oder die Leistungen im Verhältnis zu deren Preisen, sondern die Kosten dieser Transaktionen analysiert. Transaktionen beschreiben die Einheit der Differenz aus der Selbstreferenz des Wirtschaftssystems, die sich auf die Funktion des Wirtschaftssystems in Form von Zahlungen bezieht, und Fremdreferenz in Form von Leistungen, die erbracht werden. Transaktionskosten beschreiben aus einer abstrakteren Sicht die Kosten, die für die Transaktionen notwendig sind. Da die Kosten der Kosten betrachtet werden, handelt es sich um eine Art Kosten zweiten Grades, wodurch deutlich wird, dass es sich bei der Transaktionskostentheorie um eine Reflexionstheorie des Wirtschaftssystems handelt. Sowohl die Zahlungen als auch die Leistungen können aber nicht aus dem Wirtschaftssystem selbst heraus erbracht werden, sondern basieren auf Entscheidungen, die in der Organisation getroffen werden (Tacke 1999, S. 96 ff.).
Auch Nachhaltigkeitsratings können aus einer institutionenökonomischen Sicht betrachtet werden.
Der Bezug zu Institutionen von Nachhaltigkeitsratings kann aus Sicht der Transaktionskostenökonomie analysiert werden. Die Theorie ergibt sich einerseits aus der Prinzipalagententheorie, bei der eine Informationsasymmetrie zwischen Unternehmen und Investor auftritt, welche durch die Nachhaltigkeitsratings reduziert werden kann. Gleichzeitig werden dadurch auch Transaktionskosten reduziert, da nicht jeder Akteur einzeln die Informationen beschaffen muss, weshalb auch aus der Perspektive einer Kosteneffizienz ein Vorteil erzielt werden kann (Windolph 2011, S. 40 f.).
Nachhaltigkeitsratings reduzieren Transaktionskosten in zweierlei Hinsicht. Einerseits werden die Transaktionskosten innerhalb der Unternehmen reduziert, indem die Nachhaltigkeitsratings sich an bereits bestehenden Normen, Standards und Konventionen orientieren, was den Aufwand für die Datenerhebung und -aufbereitung für die Unternehmen reduziert (Schäfer 2012, S. 24). Andererseits definieren sie mit einem eigenen Ansatz eine einheitliche Bewertung der Nachhaltigkeitsleistung von Unternehmen. Der einmal entwickelte Ansatz und die einmal erhobene Nachhaltigkeitsleistung von Unternehmen können damit einer Vielzahl an Investoren und anderen Stakeholdern zur Verfügung gestellt werden, wodurch nicht jeder einzeln den Aufwand für die Kommunikation mit Stakeholdern und die Entwicklung der Methode der Informationssammlung und -auswertung aufbringen muss (Windolph 2011, S. 41).
Die Übersetzung von Nachhaltigkeitsthemen und gesellschaftlichen Erwartungen in die wirtschaftliche Logik ist eine wesentliche Leistung von Nachhaltigkeitsratings, die dadurch Komplexität und Kontingenz reduzieren und somit auch Transaktionskosten verringern. Die Nachhaltigkeitsratingagenturen orientieren sich bei der Auswahl der Kriterien an den Standards, Normen und Konventionen zu Nachhaltigkeit (Interview N1, Pos. 12). Diese bereits bestehenden Anforderungen werden durch die Nachhaltigkeitsratings konkretisiert, indem sie eigene Bewertungskriterien entwickeln (Interview N9, Pos. 12–13). Diese ergeben sich einerseits aus den bisherigen Erfahrungen (Interview N9, Pos. 12–13) und neuen Trends (Interview N9, Pos. 12–13). Die eigentliche Entscheidung über die Auswahl der Themen erfolgt aber durch Gremien und Analysten der Nachhaltigkeitsratingagentur selbst (Interview N2, Pos. 17–18). Auch die Gewichtung und somit die Priorisierung werden üblicherweise von den Nachhaltigkeitsratingagenturen festgelegt:
Die Gewichtung kommt eigentlich bottom-up zustande, genau aus dieser Materialitätsbetrachtung, die ich vorher beschrieben habe, ich habe ja die zwei Ströme beschrieben, die Analystenmeinung und dann die rückwärts gerichtete quantitative Analyse, und was wir eigentlich machen ist, dass der Startpunkt ist die Analystenmeinung, die eben sagt „Ja ,das ist ein sehr wichtiges Kriterium, das kriegt ein stärkeres Gewicht oder auch nicht“, das ist der Startpunkt, und dann nehmen wir die quantitativen Erkenntnisse und für ein Kriterium, das dann auch in der quantitativen Untersuchung bereits als materiell erkannt wird und signifikant erkannt wird, dann erhöhen wir das Gewicht ein bisschen, und wenn aber die quantitative Analyse zeigt „Ja, das mag zwar vorausschauend wichtig sein aus Analystensicht, aber wir sehen das noch nicht in den Daten“, dann machen wir das Gewicht kleiner im Fragebogen, und dadurch kriegen wir eigentlich diese Dynamik hin, dass sich der Fragebogen auch über die Zeit ändert, das soll auch so sein. Lustigerweise kann ich Ihnen sagen, vor 15 Jahren haben wir gefragt, „Verwenden Sie das Internet?“ Das war damals nur bei führenden Unternehmen der Fall, das wäre heute eine peinliche Frage, die muss verschwinden, oder? Das heißt, sie müssen eine Dynamik in der Methodologie hinkriegen, und das haben wir so, ein sich bewegendes Zeitfenster, auch von der Gewichtung her. (Interview N6, Pos. 13–14)
Somit geben Normen, Standards und Konventionen zu Nachhaltigkeit den Nachhaltigkeitsratings zwar Orientierung. Damit sie von Investoren und Unternehmen in den Entscheidungen berücksichtigt werden können, müssen sie allerdings weiter konkretisiert werden. Dies erreichen die Nachhaltigkeitsratingagenturen, indem sie eigene Entscheidungen treffen, die die Vielzahl an Möglichkeiten zur Auswahl und Priorisierung von gesellschaftlichen Themen begrenzen. Die Nachhaltigkeitsratings übersetzen durch eigene Ansätze die gesellschaftlichen Themen in eine wirtschaftliche Logik. Damit orientieren sich Nachhaltigkeitsratingagenturen nicht nur passiv an externen Umweltbedingungen, sondern reagieren als komplexes System nach einer eigenen Logik. Mit einer Ideologie der Zahlen (Chelli und Gendron 2013) erhöhen die Nachhaltigkeitsratingagenturen die Konkretisierung von Nachhaltigkeit. Durch Nachhaltigkeitsratingagenturen wird alles Gesellschaftliche, was nicht messbar ist, ausdifferenziert, und das, was messbar ist, umfasst weiterhin eine solch große Komplexität, dass dort nur bestimmte Themen ausgewählt werden können. Durch diese weitere Selektion im Möglichkeitsraum gesellschaftlicher Themen werden die Normen, Standards und Konventionen noch weiter konkretisiert. Nachhaltigkeit kann dadurch als Institution in Situationen von Informationsasymmetrien Orientierung geben. Nachhaltigkeitsratingagenturen nutzen in Situationen von Informationsasymmetrien die Institution Nachhaltigkeit als Orientierung und konkretisieren entsprechende Erwartungen, indem sie an der Schnittstelle zwischen Wirtschaft und Gesellschaft konkrete Regeln vorgeben, wie die gesellschaftlichen Auswirkungen von Unternehmen bewertet werden sollen. Durch diesen allgemein akzeptierten Standard können die Nachhaltigkeitsratingagenturen die Vielzahl der gesellschaftlichen Erwartungen abstrahiert zusammentragen und zahlreichen Investoren und Unternehmen vermitteln, ohne dass alle Investoren und Unternehmen individuell diesen Aufwand tragen. Obwohl Nachhaltigkeitsratings nicht rechtlich bindend sind, werden sie sowohl von Unternehmen als auch von Investoren als Orientierung bei Informationsasymmetrien akzeptiert und tragen dadurch zur Reduktion von Transaktionskosten bei.
Da an Wirtschaftsorganisationen neben Erwartungen von wirtschaftlichen Institutionen auch noch andere Erwartungen, die in einem kulturalistischen Institutionenverständnis deutlicher werden, herangetragen werden, wird die Generalisierungsfunktion der Nachhaltigkeitsratings zusätzlich aus einer neoinstitutionalistischen Perspektive betrachtet, die die Wirtschaftsorganisation stärker aus der organisatorischen und weniger aus der wirtschaftlichen Sichtweise beobachtet.
Nach der institutionellen Organisationstheorie umfassen institutionelle Regeln zur Entscheidungsfindung weit mehr als nur reine ökonomische Effizienz. Das Ökonomische zur Beschreibung von Wirtschaftsorganisationen wird ausgeschlossen. Wirtschaftliche Berechnungen werden in Organisationen nur noch genutzt, um bereits getroffene Entscheidungen zu rechtfertigen. Sie übernehmen eine symbolische Funktion, um auf ökonomische Erwartungen zu antworten, die außerhalb der Organisation liegen (Tacke 1999, S. 87).
Zwar wird in der Theorie beschrieben, dass die Erwartungen aus normativen Verpflichtungen entstehen, aber es bleibt unklar, wie diese entstehen und welche Bedeutung der Gesellschaft zukommt. Aus systemtheoretischer Sicht läge der Bezug zur Gesellschaft in den Funktionssystemen. Aber im Neoinstitutionalismus wird die Unterscheidung zwischen Organisation und Funktionssystem bewusst verdeckt, obwohl bei den Operationen der Organisationen immer wieder mit dieser Trennung gearbeitet wird. Denn Organisationen orientieren sich bei den Operationen an ihrem jeweiligen Funktionssystem und werden von Organisationen auch immer mit in die Selbstbeschreibung aufgenommen. Die Funktionssysteme tragen daher wesentlich zur Selbstbeschränkung des Möglichkeitshorizonts der Organisation bei. Nach dem Neoinstitutionalismus verwenden Organisationen jedoch eine vereinfachte Selbstbeschreibung, wodurch die Differenz zwischen Organisation und Gesellschaft meist latent bleibt. Gleichzeitig lässt der Neoinstitutionalismus die Differenz zwischen Funktion und Leistung der Organisation intransparent. Auch wenn es in Organisationen immer Unterschiede zwischen den selbstreferenziellen Operationen und den fremdreferenziellen Erwartungen gibt, werden diese Unterschiede verschleiert, indem sie vereinfacht dargestellt werden. Mit diesen simplifizierenden Selbstbeschreibungen können mögliche Widersprüche aufgelöst werden. Darin liegt auch eine wesentliche Funktion von Institutionen, die versuchen, komplexe, mehrdeutige und widersprüchliche Situationen aufzulösen, indem sie Konsens und einheitliche Erwartungen erscheinen lassen. Durch begrenzte Informationen wird es möglich, Inkommensurabilitäten zu kombinieren. Organisationen müssen mit vereinfachten Selbstbeschreibungen arbeiten, um die Komplexität zu beschränken und die Mehrdeutigkeit und Unterschiede zu überwinden sowie Erwartungssicherheit zu erzeugen, damit Entscheidungen aufrechterhalten bleiben können. Die Simplifizierung durch Selbstbeschreibungen besitzt daher auch einen institutionellen Charakter. Da sie den Möglichkeitshorizont von Entscheidungen dadurch begrenzt, hat sie eine wesentliche Bedeutung für die Selbsterhaltung der Organisation (Tacke 1999, S. 103 ff.).
Die Bedeutung der Invisibilisierung der Differenz von Organisation und gesellschaftlichen Funktionssystemen wurde bereits im Abschnitt 4.​3.​2 zur Nachhaltigkeitsberichterstattung erörtert. Die Auflösung der Differenz zwischen Organisation und Gesellschaft ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass von Unternehmen eine Selbstbeschreibung über die gesellschaftlichen Auswirkungen dargestellt werden kann. Mit dem Fokus auf die Nachhaltigkeitsratings wird daher die Feststellung von Tacke (1999) näher betrachtet, dass die Differenz aus Funktion und Leistung, also die Differenz zwischen der Selbstbeschreibung über die Funktion und den Fremdbeschreibungen über die Erwartungen der Leistungen, grundsätzlich Widersprüche und Konflikte beinhaltet, die aufgelöst werden müssen, damit eindeutige Entscheidungsprämissen entstehen, die Entscheidungen ermöglichen.
Neben der Orientierung an einem eher bedingt rational-kulturalistischen Verständnis von Institutionen beeinflussen Nachhaltigkeitsratings diese Institutionen, indem sie institutionelle Arbeit durch Standardisierung verrichten. Standards haben heute einen großen Einfluss auf das Verhalten von Organisationen, weshalb Standardisierung zunehmend als eine Regulierungsform betrachtet wird (Brunsson und Jacobsson 2005). Standardisierung wird als institutionelle Arbeit betrachtet (Lawrence und Suddaby 2006), an der unterschiedliche Akteure beteiligt sind (Timmermans und Epstein 2010). Institutionelle Arbeit beschreibt, wie durch Individuen oder Organisationen Institutionen geschaffen, aufrechterhalten oder zerstört werden können (Lawrence et al. 2009). Mit dem Ansatz der institutionellen Arbeit kann untersucht werden, wie einzelne Aktivitäten von verschiedenen Akteuren zur Entstehung von neuen Standards beitragen (Lawrence et al. 2011).
Die Entstehung und Erhaltung von Standards ist ein dynamischer Prozess. Standards entstehen aus Regeln, Legitimation und Kontrollen. Diese drei Konzepte können als Prozesse verstanden werden, die sich gegenseitig beeinflussen, wodurch der Standard seine regulatorische Macht erhält. Indizes und Rankings haben eine ähnliche Steuerungsfähigkeit wie Standards, was am Beispiel von Hochschulen bereits empirisch nachgewiesen werden konnte (Sauder und Espeland 2009). Organisationen passen oft ihr Verhalten den Erwartungen dieser Rankings an, um eine bessere Platzierung zu erhalten (Slager et al. 2012, S. 764 ff.).
Unternehmen orientieren sich traditionell an Institutionen, die durch Gesetzgeber in Form von Regulierungen oder durch Investoren, wie den Shareholder-Value, an die Unternehmen herangetragen werden.
Neben den Normen aus Markt und Politik entwickelt sich CSR, die analog zu Abschnitt 4.​2.​3 im Folgenden als Nachhaltigkeit bezeichnet wird, da auch der Begriff Nachhaltigkeit eine stärkere generalisierende Funktion hat, zunehmend zu einer Institution, die Unternehmen beeinflusst. Die Gestalt der Institution „Nachhaltigkeit“ wird durch eine Vielzahl an Akteuren wie Gewerkschaften, Zivilgesellschaft oder NGOs geprägt. Während früher Investoren mit der Lenkung des Fokus auf den Shareholder-Value sehr stark die wirtschaftliche Perspektive gefördert haben, werden sie durch nachhaltiges Investment nun zu einem wesentlichen Treiber der Institution „Nachhaltigkeit“. Der institutionelle Wandel zu Nachhaltigkeit wird besonders durch die Entstehung der Nachhaltigkeitsratings ersichtlich, welche einen großen Einfluss auf die Institution „Nachhaltigkeit“ haben (Avetisyan und Hockerts 2017, S. 316 ff.).
Slager et al. (2012) untersuchten, wie Standards in Form von Nachhaltigkeitsindizes entstehen und aufrechterhalten werden. Es gibt drei Arten institutioneller Arbeit, die zu einer Etablierung und Aufrechterhaltung von Standards beitragen: Standardisierung entsteht durch die Bestimmung eines kalkulatorischen Rahmens, durch Anreize zur Partizipation und durch die Beeinflussung von Werten.
Durch den kalkulatorischen Rahmen der Nachhaltigkeitsratingagenturen findet eine Übersetzung der gesellschaftlichen Aspekte in die wirtschaftliche Logik statt. Die Nachhaltigkeitsratingagenturen orientieren sich dabei an abstrakten internationalen Standards. Durch Kommensurabilität werden nicht vergleichbare Dinge vergleichbar gemacht, sodass eine Einschätzung getroffen werden kann, dass etwas besser ist als etwas anderes (Slager et al. 2012, 774 ff.). Durch die Generalisierungsfunktion der Nachhaltigkeitsratings wird das sehr abstrakte Verständnis von Nachhaltigkeit konkretisiert, um daraus konkrete Erwartungen für Unternehmen zu formulieren. Obwohl nur ein sehr kleiner Ausschnitt der Gesellschaft von den Nachhaltigkeitsratings berücksichtigt werden kann, erzeugt eine standardisierte Übersetzung von gesellschaftlichen Aspekten in die wirtschaftliche Logik Vertrauen. Die Latenz, dass nicht alle gesellschaftlichen Aspekte berücksichtigt werden können, wird dadurch akzeptiert.
Die Nachhaltigkeitsratings erreichen die Legitimität ihres Übersetzungsstandards, indem sie einen Anreiz zur Partizipation schaffen. Kooperationen mit NGOs schaffen den Anreiz, gemeinsam an einer Lösung zu arbeiten. In einem iterativen Prozess werden die Bewertungskriterien erarbeitet und damit gegenseitige Erwartungen ausgetauscht (Slager et al. 2012, S. 778).
Aus systemtheoretischer Sicht schaffen Nachhaltigkeitsratings ein einheitliches Verständnis von Nachhaltigkeit, indem sie auf bestehende Standards und auf eine Vielzahl an Akteuren zugreifen und damit unterschiedliche gesellschaftliche Erwartungen harmonisieren. Der Vorteil der Nachhaltigkeitsratings besteht besonders darin, dass sie im Sinne einer Interpenetration Zugriff auf andere gesellschaftliche Systeme bekommen und das Wissen bzw. die dort stattfindende Kommunikation zentral sammeln, wodurch ein einheitliches Verständnis von Nachhaltigkeit geschaffen wird. Der Möglichkeitshorizont, welche gesellschaftliche Themen in Entscheidungen berücksichtigt werden, wird dadurch reduziert und erleichtert damit die Berücksichtigung von gesellschaftlichen Themen in Entscheidungen.
Der Anreiz zur Partizipation, die den Standard legitimiert, wird in Unternehmen erzeugt, indem sie beraten, wie sie die Erwartungen zu Nachhaltigkeit umsetzen können. Zur Etablierung und Aufrechterhaltung von Standards beeinflussen die Nachhaltigkeitsratings auch die Werte der Unternehmen, indem sie durch Logos oder Zertifikate einen symbolischen Wert erhalten. Dadurch wird die normative Ausrichtung des Unternehmens beeinflusst (Slager et al. 2012, S. 777 ff.). So können Strukturen und Machtverhältnisse in eine andere Richtung ausgerichtet werden. Nach den Experten des befragten Unternehmens beschäftigt sich das Unternehmen mit Nachhaltigkeitsratings, um eine höhere Reputation zu erhalten (Interview U17, Pos. 39–40) und um die eigene Nachhaltigkeitsstrategie zu verändern (Interview U1, Pos. 20). Nachhaltigkeitsratingagenturen prägen damit das Verständnis von Nachhaltigkeit und ermöglichen durch ihre Konkretisierung von Nachhaltigkeit, dass Nachhaltigkeit in die Entscheidungsprämissen aufgenommen werden kann. Die Ableitung der abstrakt formulierten Nachhaltigkeitsanforderungen der Nachhaltigkeitsratingagenturen kann von dem untersuchten Unternehmen aber nur konkretisiert werden, wenn Zuständigkeiten für die gesellschaftlichen Themen innerhalb des Unternehmens definiert werden (Interview U20, Pos. 17–18). Die Zuständigkeiten können einerseits aus der Hierarchie entstehen, aber andererseits auch durch Eigeninitiative bedingt sein (Interview U3, Pos. 64–65). Damit gesellschaftliche Themen im Unternehmen verarbeitet werden können, muss also auch eine Übersetzungsleistung innerhalb des Unternehmens erfolgen.
Grundsätzlich ermöglichen die Nachhaltigkeitsratingagenturen dem Unternehmen, seine Nachhaltigkeitsleistung extern (Interview U20, Pos. 22) und intern (Interview U5, Pos. 25–26) darzustellen, wodurch die Erwartungen der Nachhaltigkeitsratingagenturen in Strategien, Ziele und Prozesse integriert werden können (Interview U9, Pos. 92–97). Allerdings muss das Unternehmen die Erwartungen von Nachhaltigkeitsratings auch noch weiter konkretisieren, um Maßnahmen abzuleiten (Interview U19, Pos. 45–48). Also können erst durch eine weitere Konkretisierung unter Berücksichtigung von unternehmensspezifischen Eigenschaften Maßnahmen abgeleitet und die gesellschaftlichen Erwartungen in den Entscheidungen berücksichtigt werden.
Aus einer neoinstitutionalistischen Perspektive wird deutlich, dass die Nachhaltigkeitsratings die Institution „Nachhaltigkeit“ durch institutionelle Arbeit mitgestalten und gleichzeitig durch ihre Konkretisierung von Nachhaltigkeit Unternehmen beeinflussen. Nachhaltigkeitsratings übernehmen daher nicht nur passiv die gesellschaftlichen Erwartungen, sondern prägen sie selbst mit, indem sie in Form eines eigenen Standards die Gesellschaft und die gesellschaftlichen Auswirkungen nach einer eigenen Logik simplifiziert darstellen. Erst durch diese Einschränkungen der Nachhaltigkeitsratingagenturen wird die Institution „Nachhaltigkeit“ für Entscheidungen in Unternehmen operationalisierbar. Aus der systemtheoretischen Perspektive wird jedoch deutlich, dass Unternehmen als autopoietische Systeme die Erwartungen zu Nachhaltigkeit durch eigene Entscheidungen konkretisieren müssen, damit Unternehmen sie als Entscheidungsprämissen verwenden können. Die Generalisierungsfunktion der Nachhaltigkeitsratingagenturen beschränkt sich daher nicht nur auf die Institution „Nachhaltigkeit“, sondern bezieht sich auch auf die Erwartungen an die Unternehmen. Denn die Anforderungen für Unternehmen, müssen so gestellt werden, dass sie so allgemein sind, dass Unternehmen mit unterschiedlichen Eigenschaften verglichen werden können und gleichzeitig müssen sie aber so konkret sein, dass die Anforderungen in die Entscheidungen der Unternehmen einfließen können. Nachhaltigkeitsratingagenturen müssen die Institution „Nachhaltigkeit“ so übersetzen, dass sie von Unternehmen in den eigenen Entscheidungslogiken berücksichtigt werden können.

5.4.2 Generalisierung in Entscheidungen

Neben der Reflexionsfunktion der Nachhaltigkeitsratings besteht durch ihre Generalisierungsfunktion ein weiterer indirekter Einfluss der Nachhaltigkeitsratings auf die Entscheidungen der Unternehmen.
Mit der Transparenzforderung der Nachhaltigkeitsratings wird ein Anreiz bei Mitarbeitern erzeugt, sich mit gesellschaftlichen Themen auseinanderzusetzen (SustainAbility 2018, S. 8), und es wird eine Vielzahl an internen Stakeholdern in die Beantwortung involviert (Searcy und Elkhawas 2012, S. 86). In Unternehmen mit einer aktiven Konformität führen Nachhaltigkeitsratings zu einem höheren Bewusstsein, zu Lerneffekten und zur Einführung von Leitlinien (Clementino und Perkins 2021).
Slager (2015, S. 398) unterscheidet hinsichtlich der Reaktion der Unternehmen auf die Erwartungen der Nachhaltigkeitsratingagenturen zwischen einer performativen und einer ostensiven Reaktion. Mit der performativen Reaktion werden neue Leitlinien, Managementsysteme, Berichterstattungspraktiken erzeugt oder verändert. Die ostensive Reaktion bezieht sich auf die Entstehung oder Veränderung des gemeinsamen Verständnisses, welche gesellschaftliche Themen als wichtig zu erachten sind. Die Spannungen zwischen diesen beiden Ebenen werden durch Symbole reduziert. Ein Logo der Nachhaltigkeitsratings kann dazu verwendet werden, externen Adressaten die Qualität der Nachhaltigkeitsaktivitäten zu demonstrieren oder auch intern für eine Veränderung oder Verbesserung der Nachhaltigkeitsaktivitäten zu werben.
In einer Studie der Europäischen Kommission, Generaldirektion Finanzstabilität, Finanzdienstleistungen und Kapitalmarktunion (2021, S. 163) gaben die meisten Unternehmen an, dass sich die Reputation und Beziehung zu den aktuellen und potenziellen Investoren durch eine stärkere Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsratings verbessert hat. Nachhaltigkeitsratings helfen dabei, die Perspektive von Investoren und anderen Stakeholdern besser zu verstehen. Sie können als Fundament der Wesentlichkeitsanalyse herangezogen werden und helfen bei der Entscheidung über die wesentlichen Themen der Zukunft.
Nachhaltigkeitsratingagenturen ermöglichen die Überführung von gesellschaftlichen Themen zu Nachhaltigkeitsthemen, sodass die Themen unter Nachhaltigkeit im Unternehmen kommuniziert werden können (Interview U14, Pos. 23–24). Nachhaltigkeitsratingagenturen tragen mit ihrer Generalisierungsfunktion daher auch zu einem einheitlichen Verständnis innerhalb des Unternehmens bei. Die Unternehmen nutzen die Nachhaltigkeitsratings als Spiegel, indem sie die an sie herangetragenen Stakeholdererwartungen vergleichen (Interview U11, Pos. 28) und bei Unterschieden auch strategische Ziele anpassen (Interview U19, Pos. 40–44):
Wir hatten in SAM die Empfehlung, durchaus zum Beispiel im Bereich Markenprozesse, Markenwerte ein NetPromotorScore auch nicht einzuführen, zu bedienen, der einfach nur sagt, wie viele Menschen empfehlen meine Marke, […] um die, die unsere Marke ablehnen, habe ich mich nicht gekümmert, nachhaltig heißt aber nicht, dass ich mich nur um die guten kümmer, die uns ja sowieso mögen, sondern ich muss mich auch um die kümmern, die uns auch nicht mögen, weil das genau diejenigen sind, die das, was sie an uns nicht mögen, entsprechend auch weitertragen. So, das ist jetzt z. B. eine Kleinigkeit, kein großer Deal, aber wir haben das zum Beispiel an die Marktforschungsprozesse mit aufgenommen, […] das ist bei uns zum Beispiel im A-Koffer drinnen, dass wir genau wissen wollen, wie ist unser NetPromtorScore, wie viele tatsächlich empfehlen die Marke weiter, jetzt also nicht als Bruttomenge, sondern als Nettomenge, wenn ich die bösen von den guten abziehe, wie viele bleiben noch übrig, das war jetzt eine kleine Veränderung, die wir gemacht haben, die durchaus, glaube ich, besser ist als reine Zufriedenheit, weil ich da eine Veränderung habe von 0,05 % im Jahr, und von 0,05 % im Jahr kann ich keine Maßnahmen ableiten.
Das ist schon eine Maßnahme die durch RobecoSAM…
.. Aufgedeckt wurde. Ja also es wurde gefordert in Anführungszeichen. Ich immer gesagt, wir haben doch Zufriedenheit, das reicht doch vollkommen, und dann aus einer necessity sag ich einfach mal, haben wir gesagt, komm, wir probieren das jetzt einfach mal aus, warum nicht, können wir machen, wir dachten, wir können mit unseren Indikatoren ganz gut leben, aber es war jetzt eine, würde ich sagen so vom handwerklichen her, das kann ich übernehmen, das ist gar keine schlechte Idee, die zum Beispiel ein Sam als Grundvoraussetzung in der Markenbewertung sieht, das hat hatten wir vorher nicht, aber das haben wir jetzt. […] (Interview U19, Pos. 40–44)
Durch diesen Abgleich der Selbst- und Fremdbeschreibung beeinflussen die Nachhaltigkeitsratingagenturen das Unternehmen darin, welche gesellschaftliche Themen als wesentlich erachtet werden, um die gesellschaftlichen Auswirkungen des Unternehmens zu beschreiben.
Ein gegenseitiger Austausch zwischen Unternehmen und Nachhaltigkeitsratingagenturen ermöglicht es den Unternehmen, die gesellschaftlichen Erwartungen besser zu verstehen (Interview U8, Pos. 22). Der Austausch ermöglicht es den Unternehmen aber auch, ihre Erwartungen zu äußeren und Einfluss auf die abgefragten gesellschaftlichen Themen der Nachhaltigkeitsratingagenturen zu nehmen:
Bei RobecoSAM kommen ab und an neue Fragestellungen in den Fragebogen, wir haben auch da, vielleicht noch mal zu der Frage zurückzukommen, wir haben auch hier die Möglichkeit, die Ratingkriterien mitzubestimmen. Also die Gelegenheit nehmen wir auch wahr, dass wir die Ratingkriterien, wo wir angefragt werden, dort auch mit beeinflussen können, unsere Expertise mit einbringen können, das machen wir auch über Econsense, beispielsweise, wo wir auch eine Arbeitsgruppe zu Ratings/Rankings haben, wo ab und an auch die Ratingagenturen mal zugegen sind und wo wir auch Feedback geben. In diesem Fall bei RobecoSAM ist es so, dass wir den Fragebogen auf vorher zugeschickt bekommen mit möglichen Fragen und diese kommentieren können, und da gehören wir auch mit zu den Unternehmen, die es auch schon seit einigen Jahren machen, und die Gelegenheit nehmen wir auch immer wahr. (Interview U1, Pos. 30)
Dieser gegenseitige Erwartungsaustausch verstärkt ein einheitliches Nachhaltigkeitsverständnis. Die Anschlussfähigkeit wird dadurch im Unternehmen verbessert, wodurch Nachhaltigkeit leichter in das Unternehmen integriert werden kann.
Nachhaltigkeitsratingagenturen reduzieren die gesellschaftliche Komplexität, indem sie im Austausch mit NGOs (Interview N9, Pos. 20–21) die gesellschaftlichen Auswirkungen in einem Rating abbilden (Interview N7, Pos. 32). Der Aufwand für die Ermittlung von gesellschaftlichen Auswirkungen wird reduziert, indem Unternehmen und Investoren im Sinne der neuen Institutionenökonomik mit nur einem Stakeholder interagieren müssen (Interview N9, Pos. 21).
Nachhaltigkeitsratings führen also nicht nur zu einer höheren Reflexion, sondern sie tragen auch zu einem einheitlichen Verständnis von gesellschaftlichen Erwartungen sowohl innerhalb als auch außerhalb des Unternehmens bei. Sie fördern die Generalisierung von Nachhaltigkeit, da eine Einheit von Nachhaltigkeit erzeugt wird. Diese Einheit beschränkt die Auswahl der gesellschaftlichen Themen, wodurch gesellschaftliche Erwartungen klarer an Unternehmen adressiert werden können, sodass auch die Unternehmen diese gesellschaftlichen Erwartungen klarer und besser in ihren Entscheidungen und Entscheidungsprämissen zu berücksichtigen vermögen.

5.4.3 Grenzen der Generalisierungsfunktion

Es existieren Grenzen zum Einfluss der Nachhaltigkeitsratingagenturen auf die Unternehmen, die sowohl auf Grund der Unternehmen als auch der Nachhaltigkeitsratingagenturen bestehen. Im folgenden Abschnitt werden die Barrieren auf Seiten der Unternehmen beschrieben, die den Steuerungseinfluss behindern.
Neben Unternehmen mit einer passiven Konformität, bei der die Unternehmen ihre externe Berichterstattung verändern, und Unternehmen mit einer aktiven Konformität, die auch Prozesse und Verfahren innerhalb des Unternehmens verändern, gibt es auch passiv resistente Unternehmen, die Nachhaltigkeitsratings komplett ignorieren, und aktiv resistente, die versuchen, den Einfluss von Nachhaltigkeitsratings aktiv zu reduzieren. Da Unternehmen das Nachhaltigkeitsrating beeinflussen können, indem sie ihre Berichterstattung verändern, hat das zur Konsequenz, dass durch die Anfragen zwar die tatsächliche Nachhaltigkeitsleistung verändert werden könnte, dies aber nicht zwingend der Fall sein muss. Unternehmen können zwar das Ratingergebnis verbessern, indem sie ihre Nachhaltigkeitsleistung optimieren und darüber berichten, aber Unternehmen können das Ratingergebnis auch verbessern, indem sie die Berichterstattung im Sinne der Anforderungen der Nachhaltigkeitsratings ändern, ohne dass eine Veränderung der Nachhaltigkeitsleistung angestoßen wurde. Der Anreiz entsteht für Unternehmen besonders dadurch, dass die Veränderung der Berichterstattung günstiger und weniger aufwendig ist als eine wesentliche Änderung der Organisation in Richtung Nachhaltigkeit (Clementino und Perkins 2021).
Die befragten Unternehmen der Studie gaben an, dass die meisten Maßnahmen auf Grund der Anfragen der Nachhaltigkeitsratingagenturen in einer verbesserten Berichterstattung bestehen und weniger in einer direkten Verbesserung der Nachhaltigkeitsleistung. Denn Nachhaltigkeitsratings sind nur ein Einflussfaktor mit Bezug auf die Nachhaltigkeitsleitlinien, -praktiken und -performance, der aber meist nicht der bedeutendste ist (Clementino und Perkins 2021).
Die Europäische Kommission, Generaldirektion Finanzstabilität, Finanzdienstleistungen und Kapitalmarktunion (2021, S. 162) kommt mit der durchgeführten Umfrage jedoch zu dem Ergebnis, dass mehr als die Hälfte der Befragten glaubt, dass Nachhaltigkeitsratings sowohl einen deutlichen Einfluss darauf haben, wie Nachhaltigkeit gemanagt wird, als auch darauf, wie über Nachhaltigkeit berichtet wird.
Eine Grenze für den Einfluss der Nachhaltigkeitsratings hinsichtlich einer stärkeren Berücksichtigung von gesellschaftlichen Aspekten in den Entscheidungen der Unternehmen entsteht dadurch, dass Unternehmen unterschiedlich mit den Erwartungen der Nachhaltigkeitsratingagenturen umgehen. Während einige Unternehmen die Erwartungen nutzen, um im Unternehmen eine begrenzte Reflexion zu fördern, nehmen andere Unternehmen diese wohlwollend zur Kenntnis – bis hin zu einer vollständigen Ignoranz der Erwartungen (Interview N2, Pos. 29–30). Darüber hinaus gibt es Unternehmen, die sich auf die Beantwortung der Fragen der Nachhaltigkeitsratingagenturen beschränken, um möglichst eine positive Kommunikation zu erzielen, ohne einen grundlegenden Wandel einzugehen.
RWE ist so ein Beispiel, die haben jahrelang, auf jeden Fall, wir sind ja total transparent, wir erzählen alles, wir machen aber nichts, die waren immer superfreundlich, der CEO hat bei uns auf einem Event gesprochen, aber das Unternehmen ist trotzdem vor die Wand gefahren, wie auch immer. (Interview N2, Pos. 16)
Die Irritation der Nachhaltigkeitsratingagenturen führt daher bei jedem Unternehmen zu einer unterschiedlichen Resonanz.
Andererseits ist der Einfluss der Nachhaltigkeitsratingagenturen auf die Unternehmen durch die Nachhaltigkeitsratingagenturen selbst beschränkt. Durch die begrenzte Auswahl an gesellschaftliche Themen können Nachhaltigkeitsratings nur einen Teil der Realität sichtbar machen (Interview U12, Pos. 21–22). Da die Organisation und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen aufgrund der Komplexität nicht vollständig abgebildet werden können, ist es auch nicht klar, ob Nachhaltigkeitsratings zu einer nachhaltigen Entwicklung beitragen (Interview N1, Pos. 36). Die begrenzte Perspektive auf die Gesellschaft birgt das Risiko, dass Unternehmen in eine falsche Richtung der Evolution gelenkt werden, in der unerwartete Nebenfolgen auftreten können. Grundsätzlich bleibt es aufgrund der gesellschaftlichen Komplexität unmöglich, die gesellschaftlichen Auswirkungen von Unternehmen vollständig zu ermitteln.
Zudem haben die Nachhaltigkeitsratings nur einen begrenzten Einfluss auf die Berücksichtigung von gesellschaftlichen Aspekten in Entscheidungen, da auch andere Einflüsse auf die Evolution einer sinnvollen Organisation wirken. Das Nachhaltigkeitsverständnis wird zwar stark durch die Nachhaltigkeitsratingagenturen geprägt, aber es wird auch durch eine Vielzahl weiterer Akteure wie Politik und NGOs beeinflusst (Avetisyan und Hockerts 2017, S. 316 ff.). Deutlich wird das auch anhand der Vielzahl an unterschiedlichen Treibern, die die nachhaltige Ausrichtung des Unternehmens beeinflussen (siehe Abschnitt 5.2.2). So sind die gesellschaftlichen Themen, die von Nachhaltigkeitsratingagenturen abgefragt werden, dem Unternehmen bereits bekannt (Interview U11, Pos. 41–42), da die gesellschaftlichen Erwartungen schon durch andere Stakeholder adressiert wurden (Interview U6, Pos. 57–58). Dabei sehen die Nachhaltigkeitsratingagenturen selbst NGOs (Interview N4, Pos. 42) und die Politik (Interview N9, Pos. 21) als wichtige Stakeholder, die gesellschaftliche Erwartungen an Unternehmen stellen. Da Unternehmen selbst entscheiden, welche Anforderungen wie umgesetzt werden (Interview N5, Pos. 47), können die Nachhaltigkeitsratingagenturen keine Forderungen stellen, sondern nur Empfehlungen aussprechen.
Was wir nicht machen möchten, ist eigentlich ein konfrontierendes Gespräch sozusagen mit den Firmen, wir sehen uns eher als Partner, das den Unternehmen den Spiegel vorhält, wir überlassen es dann aber auch in einem gewissen Maße den Unternehmen, die Prioritäten zu setzen, es kann ja einen Grund haben, warum man in einem Kriterium nicht so gut ist wie die Konkurrenten, vielleicht ist das Businessmodell vielleicht etwas anders oder was weiß ich was, man hat eine Akquisition getätigt, und die ist noch nicht voll integriert und das wissen die Unternehmen dann besser, aber ich glaube, wir haben einen sehr großen Einfluss. (Interview N6, Pos. 17–18)
Eine Einschränkung des Einflusses der Nachhaltigkeitsratingagenturen auf Unternehmen beruht also darauf, dass Unternehmen selbststeuernde Systeme sind. Sie befinden sich selbst in einer komplexen Umwelt mit vielen anderen Systemen, weshalb die Nachhaltigkeitsratingagenturen sie nur irritieren, aber nicht direkt steuern können. Unternehmen entscheiden selbst darüber, mit welcher Resonanz sie auf die vielfältigen Irritationen reagieren. Die Generalisierungsfunktion der Nachhaltigkeitsratings wird also beschränkt, indem Unternehmen unterschiedlich mit den gesellschaftlichen Erwartungen, die die Nachhaltigkeitsratingagenturen an die Unternehmen herantragen, umgehen. Die Irritation der Nachhaltigkeitsratingagenturen führt bei Unternehmen zu einer unterschiedlichen Resonanz. Unternehmen übernehmen als selbstreferenzielle Systeme nicht alle Erwartungen. Zudem können die Nachhaltigkeitsratingagenturen die gesellschaftlichen Auswirkungen aufgrund der Komplexität nicht vollständig abbilden, was dazu führen kann, dass wesentliche negative gesellschaftliche Auswirkungen nicht bewertet und daher von den Unternehmen auch nicht verändert werden. Zudem ist die Steuerungsfähigkeit der Nachhaltigkeitsratingagenturen begrenzt, da Unternehmen eigenständige Systeme mit vielfältigen Einflüssen sind, die sich nicht direkt steuern lassen. Neben den Nachhaltigkeitsratingagenturen erzeugen auch andere Stakeholder des Unternehmens eine Irritation für eine begrenzte Reflexion, die bei den Unternehmen auf Resonanz stoßen kann. Welches Nachhaltigkeitsverständnis von welchen Stakeholdern übernommen wird, ist abhängig von der Beobachtungsperspektive der Unternehmen. Eine weitere Konkretisierung der Institution „Nachhaltigkeit“ erfolgt daher in den Unternehmen und kann durch die Nachhaltigkeitsratingagenturen nicht gesteuert werden.
Zusammenfassend lassen sich die Generalisierungsfunktion von Nachhaltigkeitsratings und deren Auswirkung auf die Wirtschaftsorganisation Unternehmen sowohl aus einem rational-kalkulatorischen Institutionenverständnis der Institutionenökonomie als auch aus einem eher kulturalistischen Institutionenverständnis durch den soziologischen Institutionalismus beschreiben.
Nachhaltigkeitsratings sorgen aus der Perspektive der neuen Institutionenökonomik für zwei Arten der Reduzierung von Transaktionskosten. Sie reduzieren den Datenerhebungsaufwand von Unternehmen, da sie zu einer Standardisierung von Nachhaltigkeitsberichterstattungsstandards beitragen und damit die Vielzahl der Darstellungsmöglichkeiten reduzieren. Zudem wird der Aufwand von Investoren und anderen Stakeholdern reduziert, da nur einmal eine Bewertung der gesellschaftlichen Auswirkung der Unternehmen erstellt wird, die aber an eine Vielzahl an Interessenten weitergereicht werden kann. Bestehende Standards werden von den Nachhaltigkeitsratings noch weiter reduziert, indem sie eigene Entscheidungen über die Auswahl und Priorisierung von gesellschaftlichen Themen treffen. Mit ihrer Generalisierungsfunktion konkretisieren sie die Institution „Nachhaltigkeit“ und sorgen damit für Erwartungssicherheit bei Unternehmen.
Nicht nur Wirtschaftlichkeit im Sinne der neuen Institutionenökonomie dient als Orientierung für Entscheidungen. Im Sinne des soziologischen Institutionalismus können Entscheidungsprämissen auch durch gesellschaftliche Aspekte der Institution „Nachhaltigkeit“ beeinflusst werden. Mit dem Bezug auf möglichst viele Stakeholder wird der Schein erzeugt, dass alle gesellschaftlichen Erwartungen von den Nachhaltigkeitsratingagenturen erfasst werden können. Durch diese strukturelle Latenz werden eine funktionsübergreifende Kommunikation und Interpenetration möglich. Denn neben den Erwartungen von NGOs an Unternehmen übertragen Nachhaltigkeitsratings auch die wirtschaftlichen Restriktionen der Unternehmen an NGOs. Auf diese Weise sorgen sie mit einem gegenseitigen Erwartungsaustausch für ein einheitliches Verständnis von Nachhaltigkeit. Damit Unternehmen gesellschaftliche Aspekte in ihren Entscheidungen berücksichtigen, reicht eine Orientierung und Beeinflussung der Institution „Nachhaltigkeit“ nicht aus, sondern Nachhaltigkeitsratings müssen diese Institutionen auch weiter konkretisieren, damit sie von Unternehmen verarbeitet werden können. Die Konkretisierung der Institution „Nachhaltigkeit“ durch die Nachhaltigkeitsratingagenturen muss aber auch noch von den Unternehmen weiter konkretisiert werden, damit sie in den unternehmensspezifischen Entscheidungen berücksichtigt werden können.
Nachhaltigkeitsratings beeinflussen durch ihre Generalisierungsfunktion indirekt die Entscheidungen von Unternehmen, indem die erzeugte Einheit von Nachhaltigkeit die Auswahl der gesellschaftlichen Themen beschränkt, wodurch gesellschaftliche Erwartungen klarer an Unternehmen adressiert werden können. Damit vermögen die Unternehmen auch, diese gesellschaftlichen Erwartungen besser in ihren Entscheidungsprämissen und Entscheidungen zu berücksichtigen.
Allerdings sind Nachhaltigkeitsratingagenturen nicht die einzigen Akteure, die das einheitliche Verständnis von Nachhaltigkeit prägen. Nachhaltigkeitsratings beeinflussen das Verständnis von Nachhaltigkeit in Unternehmen und stoßen dort Veränderungen an. Dabei handelt es sich jedoch nicht um einen direkten Steuerungseingriff, da die Unternehmen als autopoietisches System eine eigene Auslegung der Institution „Nachhaltigkeit“ vornehmen. Allerdings lassen sie sich aber zumindest von den Nachhaltigkeitsratingagenturen beeinflussen.
Durch diese Generalisierungsfunktion von Nachhaltigkeit können die Nachhaltigkeitsratings die Pfadkreation für die Evolution einer Wirtschaft mit begrenzter Reflexion stabilisieren.

5.5 Selbststeuerung der Wirtschaft mit begrenzter Reflexion durch Nachhaltigkeitsratings

Die begrenzte Reflexion durch Nachhaltigkeitsratings ermöglicht einen Reentry der Gesellschaft in die Wirtschaft und trägt zur Selbststeuerung der Wirtschaft bei.
In diesem Kapitel wird beschrieben, wie Nachhaltigkeitsratings die Differenz zwischen Wirtschaft und Gesellschaft durch einen Fokus auf wirtschaftliche Gesellschaftsthemen auflösen, ferner wird aufgezeigt, wie Entscheidungsprämissen mit begrenzter Reflexion durch Nachhaltigkeitsratings in Unternehmen entstehen. Diese Selbststeuerung mithilfe der Nachhaltigkeitsratings hat jedoch Grenzen, weshalb auch Möglichkeiten zur Fremdsteuerung aufgezeigt werden.

5.5.1 Reentry der Gesellschaft in das Wirtschaftssystem durch wirtschaftlich relevante Gesellschaftsthemen

Nachhaltigkeitsratings ermöglichen durch den Fokus auf wirtschaftliche Gesellschaftsthemen einen Reentry der Gesellschaft in das Wirtschaftssystem, indem der Fokus auf wirtschaftliche Gesellschaftsthemen gelegt wird.
Organisationen orientieren sich bei ihren Entscheidungen nicht nur an Erwartungen, sondern auch an dem Funktionssystem, dem sie zugehören. Auch Unternehmen richten ihre Entscheidungen am Wirtschaftssystem aus, da die Aufrechterhaltung ihrer Autopoiesis an die Zahlungsfähigkeit geknüpft ist (siehe Abschnitt 2.2.2 und 4.3.1). Für die Berücksichtigung der Gesellschaft über die Orientierung an dem Wirtschaftscode von Zahlen und Nichtzahlen in Unternehmen spielt das Finanzsystem eine entscheidende Rolle.
Banken und Investoren spielen durch ihre Finanzierungsfunktion eine wesentliche Rolle in der Kapitalallokation. Da die Kapitalmarktakteure eine zentrale Rolle im Wirtschaftssystem übernehmen, kommt diese Bedeutung auch der nachhaltigen Entwicklung zu. Banken und Investoren können daher sowohl als Haupttreiber als auch als wesentliche Barriere betrachtet werden (Busch et al. 2016, S. 320).
Durch die eingesetzten Instrumente könnten negative Externalitäten entstehen, sie können aber auch zu einer stärkeren Berücksichtigung der Gesellschaft führen (Myklebust 2013, S. 45 f.). Durch die Veränderung der Investitionen und die Refinanzierungskosten kann die Finanzwirtschaft Einfluss auf die Ressourcenallokation ausüben und Ressourcen in Wirtschaftsaktivitäten mit besseren gesellschaftlichen Auswirkungen lenken (United Nations Environment Programme (UNEP) und World Bank Group 2017, 27 f.).
Die Veränderungen in der Realwirtschaft kann die Finanzwirtschaft durch die aus Veränderung der Investitionen und Finanzierungskosten angepassten Unternehmensentscheidungen erzielen.
Der Finanzsektor kann die gesellschaftlichen Auswirkungen der Realwirtschaft beeinflussen, da Unternehmen, die als nachhaltig gelten, eher in der Lage sind, Kapital zu beziehen. Unternehmen versuchen also, ihre gesellschaftlichen Auswirkungen zu verbessern, um bessere Refinanzierungsmöglichkeiten zu erhalten (Delmas und Blass 2010, S. 246).
Die Kapitalallokation durch Investoren kann sowohl einen Anreiz für eine Veränderung der Unternehmen schaffen als auch zu einem Wachstum der Unternehmen beitragen. Der Anreiz der Veränderung entsteht entweder aus der Investition in besonders nachhaltigen Unternehmen oder dem Ausschluss von besonders nichtnachhaltigen Unternehmen. Beides kann Einfluss auf die Vermögenswerte haben (Heinkel et al. 2001; Fama und French 2007; Luo und Balvers 2017).
Die Entscheidungen in den Unternehmen werden durch die Kapitalallokation der Finanzwirtschaft beeinflusst, da die wirtschaftlichen Organisationen durch die Aufrechterhaltung der Zahlungsfähigkeit besonders vom Wirtschaftssystem abhängen. Die Bedeutung der Nachhaltigkeitsratings für die Kapitalallokation der Finanzwirtschaft hängt stark von der Marktentwicklung von nachhaltigem Investment ab.
Der globale Markt für nachhaltige Investments umfasste unter Berücksichtigung aller Anlagestrategien im Jahr 2020 ca. 35,3 Billionen US-Dollar. Im Vergleich zu 2018 verzeichnete der Markt ein Wachstum in Höhe von 15 %. Insgesamt umfasst dieser Markt mittlerweile 35,9 % aller professionell verwalteten Vermögen (Global Sustainable Investment Alliance (GSIA) 2021, S. 9). Zwar handelt es sich um ein starkes Wachstum, aber es ist zu erwähnen, dass es sich hierbei um ein breites Verständnis von nachhaltigen Investments handelt, wodurch auch Anlagen mit geringen Nachhaltigkeitsanforderungen enthalten sind. Zudem bedeutet dies, dass in der Mehrheit der global verwalteten Vermögen weiterhin noch keine Nachhaltigkeitskriterien berücksichtigt werden.
Zu den aktuellen Treibern in Europa gehören der EU-Aktionsplan für nachhaltiges Wachstum, Industrieinitiativen, die eine höhere Nachhaltigkeitsleistung anstreben, und eine höhere Nachfrage von Privatanlegern (Global Sustainable Investment Alliance (GSIA) 2021, S. 15). Es gibt sehr unterschiedliche Motive, warum Investoren nachhaltig investieren. Das reicht von einer besseren Einschätzung finanzieller Risiken bis hin zu einer Förderung der nachhaltigen Entwicklung (Busch et al. 2016, S. 305). Wissenschaftliche Studien und die Erkenntnis, dass die Berücksichtigung von gesellschaftlichen Aspekten auch mit einer wirtschaftlichen Logik kompatibel ist, haben Investoren dazu motiviert, sich stärker mit gesellschaftlichen Themen auseinanderzusetzen (Interview N9, Pos. 19). Als ein entscheidender Triggermoment für die Evolution eines nachhaltigen Finanzsystems kann die Finanzkrise gesehen werden (Puaschunder 2016, S. 40 ff.). Im Sinne einer externen Irritation wurde aufgezeigt, dass ein Umdenken auf eine langfristige Perspektive unter Berücksichtigung von gesellschaftlichen Themen notwendig ist (Interview N1, Pos. 4). Eine wesentliche Voraussetzung sind entsprechende Informationen, die durch die zunehmende Digitalisierung und Vernetzung im Rahmen der Nachhaltigkeitsratings aufbereitet werden können.
Um die Finanzwelt ein bisschen zu verteidigen, es war bisher auch schwer für Finanzanalysten, Rahmen und Tools zur Verfügung zu haben, um mit dem Thema überhaupt umgehen zu können, Menschenrechtsexperten oder Klimaexperten, die haben natürlich ihre speziellen Tools und die schwören auch drauf, aber für Finanzanalysten, die eh wenig Zeit haben, die wollen am liebsten of the shelf ready to apply framework haben. Eine Linse, die ihnen alles gibt, und sowas gab es bisher noch nicht, das hat auch damit zu tun, dass die Dateninfrastruktur bisher so imperfect war, dass es unheimlich schwierig war, das umzusetzen in finanzrelevante risikoadjusted perspectives, und das ändert sich ja, das ist meines Erachtens der große Wandel, das ist die Data Revolution, dass die Verfügbarkeit von Information sich immer mehr verbessert, die ist nach wie vor imperfect, aber sie wird immer besser und sie wird mit Sicherheit auch besser werden, weil Transparenz und Informationsverfügbarkeit wie technologischer Wandel irreversibel sind, von daher gehe ich davon aus, dass diese Faktoren eine immer größere Rolle spielen werden, in der Finanzwelt, in den Entscheidungen, wie Kapital allokiert wird, wie Risiken eingeschätzt werden, keine Frage. Das ist die Zukunft. (Interview N1, Pos. 28)
Die steigende Bedeutung von Nachhaltigkeitsratings durch einen wachsenden Markt für nachhaltige Investments (Interview N3, Pos. 60) kann jedoch durch wirtschaftliche, technische und regulatorische Effekte gedämpft oder aufgehoben werden. Der zunehmende Wettbewerb und die Konsolidierungswelle (siehe Abschnitt 4.​3.​2) stellen insbesondere für kleinere Nachhaltigkeitsratingagenturen eine Bedrohung dar (Interview N5, Pos. 61). Erhöht wird dieser Druck durch neue Technologien wie den Einsatz von cognitive computing (Interview N8, Pos. 2), die zumindest einen Teil der Nachhaltigkeitsratings überflüssig machen könnten (Interview N8, Pos. 27–29).
Die zunehmende Bedeutung des Finanzmarktes für Nachhaltigkeit wird auch anhand der Ausrichtung der Nachhaltigkeitsratings ersichtlich. Nachhaltigkeitsratings sind einerseits NGOs, also eine soziale Bewegung, die sehr netzwerkartig organisiert ist (Interview N10, Pos. 5–8). Aber andererseits sind Nachhaltigkeitsratings wirtschaftliche Organisationen (Interview N4, Pos. 1–2), die auch nach dem Systemcode der Wirtschaft operieren. Systemtheoretisch betrachtet sind Nachhaltigkeitsratingagenturen damit ein Hybridsystem aus sozialer Bewegung und Wirtschaftsorganisation. Die Zielgruppe sind überwiegend Investoren, was im Grunde für einen Shareholder-Value-Ansatz und einen starken Finanzfokus spricht. Gleichzeitig richten sie sich auch an unterschiedliche Stakeholder und berücksichtigen deren Erwartungen (Interview N4, Pos. 3–4). Im Sinne eines Stakeholder Values stehen hier gesellschaftliche Themen im Vordergrund, das heißt, die Nachhaltigkeitsratings integrieren Akteure aus anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen in das Wirtschaftssystem. Diese hybride Eigenschaft spiegelt sich auch in der Ausrichtung der Nachhaltigkeitsratings wider. Als Ziel verfolgen die Nachhaltigkeitsratings zum einen eine nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft: „Unsere Ratingagentur hat in seinem Mission Statement festgelegt, dass wir die nachhaltige Entwicklung im Rahmen unseres Einflussbereiches global fördern wollen.“ (Interview N7, Pos. 1–2) Zum anderen sind sie aber auch bestrebt, wirtschaftliche Effekte durch Nachhaltigkeit zu identifizieren (Interview N6, Pos. 2).
Früher waren unsere Kunden vor allem ethisch motiviert und die hatten einfach klare Filter, wo sie gesagt haben, das materielle ist jetzt nicht so wichtig, sondern es ist die Haltung dahinter, und inzwischen sind mehr und mehr unsere Kunden kommen aus dem Mainstream und sagen, Nachhaltigkeit ist wichtig, aber eher vielleicht aus der Ecke, also einmal Reputationsmanagement, dieses Risiko und ja jetzt mehr und mehr eben auch materielle Risiken in Form von Strafen, und denen ist das jetzt, ja genau, also das sind so die zwei Kundentypen, die wir haben, und der Trend geht eben schon zum Mainstream. (Interview N3, Pos. 11–12)
Allerdings spielt die finanzielle Materialität bei den Nachhaltigkeitsratingagenturen eine immer größere Rolle (Interview N3, Pos. 10) und wird zunehmend zur Entscheidungsprämisse für das Ratingergebnis, da sie sowohl bei der Auswahl der gesellschaftlichen Themen (Interview N6, Pos. 10) als auch bei der Gewichtung der Themen zunehmend ausschlaggebend wird (Interview N1, Pos. 24). Durch den stärkeren Fokus auf Wirtschaftlichkeit lösen Nachhaltigkeitsratings die Paradoxie der Differenz aus Wirtschaft und Gesellschaft auf, indem sie sich für die eine (wirtschaftliche) Seite entscheiden. Während einige Nachhaltigkeitsratings explizit die Entwicklung einer nachhaltigen Gesellschaft anstreben und sich damit auf die Seite der Gesellschaft beziehen, richten die meisten Nachhaltigkeitsratingagenturen den Fokus auf Investoren und die wirtschaftlichen Effekte durch Nachhaltigkeit, weshalb sich diese Nachhaltigkeitsratingagenturen stärker an der wirtschaftlichen Seite der Differenz orientieren. Mit dem Fokus auf die wirtschaftliche Logik können Nachhaltigkeitsratings eine höhere Legitimität für die Berücksichtigung der Gesellschaft im Wirtschaftssystem erzeugen. Der scheinbare Widerspruch zwischen Wirtschaft und Gesellschaft wird aufgelöst, indem die Gesellschaft als wirtschaftlich dargestellt wird.

5.5.2 Begrenzte Reflexion in Entscheidungen

Der Fokus auf wirtschaftliche Gesellschaftsthemen durch die Nachhaltigkeitsratings ermöglicht, dass Unternehmen ihre Entscheidungsprämissen in Richtung einer begrenzten Reflexion verändern, da die Unternehmen zahlungsfähig bleiben müssen. Durch den wirtschaftlichen Fokus erhalten die Nachhaltigkeitsratingagenturen einen direkten Einfluss auf die Entscheidungen der Unternehmen.
Nachhaltigkeitsratings üben Einfluss auf die Nachhaltigkeit von Unternehmen aus, da sie durch den Best-in-Class-Ansatz, also durch eine branchenbezogene Bewertung und die Wettbewerbsorientierung im Sinne des Top-Runners-Ansatzes, der den Bewertungsmaßstab abhängig vom besten Unternehmen festlegt, zunehmend Druck ausüben, wodurch Unternehmen die besten Praktiken zur Verbesserung der gesellschaftlichen Auswirkungen adaptieren (Scalet und Kelly 2010, S. 73 f.).
In Unternehmen mit einer aktiven Konformität führen Nachhaltigkeitsratings zu einer Veränderung der Organisationstruktur und der Anreizsysteme. Außerdem bewirken Nachhaltigkeitsratings in solchen Unternehmen die Erstellung von Wettbewerbsvergleiche, die zu einem nachhaltigeren Verhalten des Unternehmens führen. Nachhaltigkeitsratings können in bestimmten Fällen zur Berücksichtigung von neuen Nachhaltigkeitsthemen in den Praktiken und Strategien führen, zudem kann eine interne Organisationsveränderung eine effektivere Operationalisierung von Nachhaltigkeit bewirken und zur Einschätzung der strategischen Bedeutung von Nachhaltigkeit herangezogen werden (Clementino und Perkins 2021).
Nach der Unternehmensbefragung der Europäischen Kommission, Generaldirektion Finanzstabilität, Finanzdienstleistungen und Kapitalmarktunion (2021, S. 163) beeinflusst die stärkere Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsratings seitens der Investoren auch das obere Management und schafft einen Anreiz besser zu werden. Sie helfen zudem dabei, Verbesserungen in der Performance oder im Risikomanagement zu identifizieren, und ermöglichen einen Wettbewerbsvergleich mit Konkurrenten.
Die höhere Reflexion von gesellschaftlichen Auswirkungen von Unternehmen und die Einigung auf wesentliche Themen durch die Generalisierung von Nachhaltigkeit ermöglichen einen Vergleich der gesellschaftlichen Auswirkungen unterschiedlicher Unternehmen, der durch die Wettbewerbsorientierung zu einem kontinuierlichen Verbesserungsprozess der Unternehmen führt (Interview N2, Pos. 4).
Unternehmen prüfen zuerst, ob eine Verbesserung des Ratings durch eine kommunikative Maßnahme möglich ist. Falls dies nicht möglich ist, bemühen sie sich um eine Veränderung des Unternehmens (Interview N2, Pos. 4). Dafür vergleichen sie auch ihre gesellschaftlichen Auswirkungen mit den Wettbewerbern (Interview U18, Pos. 24). Dies stellt eine Übertragung des Marktprinzips von einer rein wirtschaftlichen Dimension auf vielfältige gesellschaftliche Aspekte dar. Das Marktprinzip wird nun nicht mehr nur für die Entfaltung der Wirtschaft genutzt, sondern es dient auch einer kontinuierlichen Verbesserung von gesellschaftlichen Aspekten, wodurch ein Beitrag zu einer Wirtschaft mit begrenzter Reflexion geleistet wird.
Durch die veränderte Wettbewerbsorientierung und den kontinuierlichen Verbesserungsprozess wird es für das Unternehmen möglich, Entscheidungsprämissen zu ändern. Der Einfluss von Nachhaltigkeitsratings auf Entscheidungsprämissen wird besonders anhand der Veränderung von Strategien ersichtlich.
Sie wollen darauf hinaus das die Ratings einen Einfluss haben auf das, was wir im Unternehmen getan haben. Ich glaube, das ist schon so, weil bei Think.blue Factory, dem Umweltprogramm für die Produktion, wir natürlich geschaut haben, auf was schauen die Ratings, und die fünf Kennzahlen, die da entstanden sind, nachdem wir das Messen das sind schon für Ratings relevante Kennzahlen gewesen. Also da haben wir uns ganz klar leiten lassen. Das kann man eindeutig sagen, dass die Umweltkennzahlen der Produktion aus den Ratingkriterien abgeleitet sind. (Interview U9, Pos. 31–32)
Dies geht so weit, dass Nachhaltigkeitsratingagenturen mit den Unternehmen gemeinsam über die strategischen Ziele der Unternehmen diskutieren, wodurch Entscheidungen im Unternehmen verändert werden.
Die Zielfrage hat, seitdem wir sie jetzt geändert haben, ich glaube 80 % der deutschen [XX] Teilnehmer sind jetzt dabei, sich neue Ziele zu setzen, mit unterschiedlichen Zeithorizont, bis es fertig wird, aber da habe ich im letzten Jahr viele Gespräche auch geführt, wie die dann auch aussehen müssen usw. und auch Scope drei, wie gesagt, die Banken sind ein schönes Beispiel, die sich da immer gewehrt haben, wo man aber erst über Score drei eben wirklich auch erst wieder mit Zahlen klar machen kann, wait a minute, ihr investiert einfach eure Zeit völlig falsch, die Energie, die ihr verbringt, die Bankfiliale grün zu machen, was schön ist, aber diese Energie reingesteckt in die Frage, wie viel Kohlekraftwerke finanziere ich dann, ist der Hebel einfach mal tausendmal so groß, das geht wirklich bis zu Metty-pretty-Geschichten, also ich habe Unternehmen, die mich dann im Dezember anrufen und sagen, hör mal ganz kurz ändert sich etwas im Scoring nächstes Jahr oder nicht, weil wenn nicht, dann würden wir gerne schnell hier noch mal 40.000 t Renewable-Energy-Zertifikate kaufen, damit wir nächstes Jahr den Score schaffen. Gibt es auch, im Dezember, Zack. Und dann hat man plötzlich da für eine kurze Spitze in der Ökostromnachfrage gesorgt. (Interview N2, Pos. 32)
Nachhaltigkeitsratingagenturen haben aber auch Einfluss auf die Vergütungsstrukturen von Unternehmen:
Wir stellen auch fest, dass eine zunehmende Anzahl von Unternehmen die Entlohnung der Charter-Mitarbeiter anbindet an das Abschneiden in unserem Fragebogen, und das ist natürlich eine große Motivation dann auch für die entsprechenden Leute, diese Themen voranzutreiben in den Firmen, es gibt zum Beispiel eine größere Versicherung in Europa, und die seit letztem Jahr, die den Bonus für 7000 Mitarbeiter teilweise an unseren Fragebogen angeknüpft hat, das zeigt schon ein bisschen die Wirkung, die wir haben können, und hat aber auch natürlich zur Folge, dass wir sehr genau arbeiten müssen, das ist auch ein Grund, warum wir den ganzen Fragebogen oder das ganze Prozedere auditieren lassen von unabhängiger Stelle, um einfach sicherzustellen, dass die Qualität im Fragebogen stimmt. (Interview N6, Pos. 18)
Die Veränderung von Entscheidungsprämissen führt zu einer stärkeren Berücksichtigung von gesellschaftlichen Themen in den Entscheidungen bzw. Operationen der Wirtschaftsorganisation, indem der Möglichkeitshorizont der Entscheidungen eingeschränkt wird. Damit werden die Entscheidungen ausgeschlossen, die zwar individuell für die Organisation einen kurzfristigen Vorteil erzeugen, aber langfristig die Möglichkeiten der gesellschaftlichen Systeme einschränken und zu einer Selbstgefährdung der Gesellschaft führen und auch Grundlagen für die Fortsetzung der organisatorischen Autopoiesis zerstören würden, da die Organisation weiterhin durch Interpenetration auf die anderen Systeme angewiesen bleibt.
Wie bereits unter Abschnitt 4.​3.​1 beschrieben, wird auch bei der empirischen Untersuchung deutlich, dass gesellschaftliche Aspekte nur unter Berücksichtigung des wirtschaftlichen Codes in Form von Zahlungen und Nichtzahlungen im Wirtschaftssystem eingebracht werden können. Das untersuchte Unternehmen bearbeitet Nachhaltigkeitsratings und versucht dort eine bessere Bewertung über die gesellschaftlichen Auswirkungen zu erhalten, da es sich dadurch eine Reduktion von Risiken und eine Reputationssteigerung (Interview U17, Pos. 14) sowie Wettbewerbs- und Innovationsvorteile erhofft (Interview U18, Pos. 24). So können beispielsweise die Nachhaltigkeitsbemühungen des Unternehmens besonders gut durch einen Bezug auf den Wettbewerber in Verbindung mit einem unabhängigen Nachhaltigkeitsrating demonstriert werden.
Die Gründe sind relativ einfach, die Gründe sind einfach die, wenn ich ein Ziel habe wie beispielsweise „Wir wollen im Vergleich zum Wettbewerb besser sein im Bereich Umwelt oder Nachhaltigkeit“, dann muss ich mich mit solchen Ratings auseinandersetzen, das ist der intrinsische Treiber, und es gibt auch kein besseren Beleg dafür im Wettbewerbsumfeld, zum Beispiel zu sagen „Ich bin jetzt ökologisch oder nachhaltigkeitsmäßig Nummer eins, Nummer zwei, Nummer drei im Vergleich zum Wettbewerb“, als mir das durch ein renommiertes anerkanntes und unabhängiges Rating bestätigen zu lassen, das ist einer der zentralen Treiber. (Interview U11, Pos. 23–24)
Indem das Unternehmen nicht alle Anforderungen der Nachhaltigkeitsratingagentur umsetzt, erfolgt eine Auswahl der gesellschaftlichen Erwartungen auf Basis von Wirtschaftlichkeit. Die Vielzahl an Möglichkeiten, wie die Gesellschaft in der Wirtschaft berücksichtigt wird, wird durch die wirtschaftliche Logik innerhalb des Unternehmens begrenzt. Der Marktmechanismus im Sinne einer effizienten Ressourcenallokation wird somit auf gesellschaftliche Aspekte angewendet und sorgt dafür, dass gesellschaftliche Ziele ökonomisch effizient erreicht werden. Nachhaltigkeitsratings eröffnen die Möglichkeit, dass gesellschaftliche Themen stärker im Wirtschaftssystem berücksichtigt werden, da die Nachhaltigkeitsratings mit einem Bezug auf die Investoren einen hohen Druck auf die Unternehmen ausüben können (Interview U7, Pos. 47–48). Denn über Investoren wird die Ressourcenallokation bestimmt und damit auch die Zahlungsfähigkeit der Unternehmen beeinflusst (Interview U5, Pos. 62).
Damit eröffnet insbesondere der wirtschaftsorientierte Fokus auf gesellschaftliche Aspekte einen guten Ansatzpunkt, gesellschaftliche Aspekte im Wirtschaftssystem zu adressieren. Gleichzeitig bedeutet das allerdings auch, dass Unternehmen nur die wirtschaftlichen Gesellschaftsaspekte berücksichtigen können, was den Einfluss der Nachhaltigkeitsratingagenturen beschränkt.
Und da ist der Punkt, wo ich sage, an den Stellen bewegen sich Dinge und an den Stellen, wo der Verbrauch oder die Verschmutzung nichts kostet, bewegen sich Dinge eben nicht, und deshalb glaube ich nicht, dass Nachhaltigkeit im Unternehmensumfeld so ein Selbstläufer ist, dass Menschen sagen oder Entscheider sagen „Wir wollen nachhaltig sein, deswegen machen wir die Dinge so oder anders“, sondern der Fokus liegt auf der kaufmännischen Perspektive, denn ein Unternehmen hat in erster Linie die Aufgabe, sich selbst zu erhalten und Geld zu verdienen für diejenigen, die ihr Geld reingeben, an den Stellen, wo es mir etwas bringt, mache ich das an anderen Stellen, wo es mir nichts bringt und keine zu großen Schmerzen bereitet, mache ich nichts. (Interview U15, Pos. 9–10)
Gleichzeitig wird die Bedeutung der Nachhaltigkeitsratingagenturen durch die Bedeutung von Nachhaltigkeit bei Investoren beschränkt, da die Relevanz sich auf die Bedeutung der Refinanzierungskosten auswirkt. Zum Zeitpunkt der Befragung wurde der Anteil an nachhaltigen Investoren zu gering eingeschätzt (Interview U13, Pos. 73–74), da bei mehr als der Hälfte der Aktien gesellschaftliche Aspekte berücksichtigt werden müssen, damit die Nachhaltigkeitsratingagenturen Einfluss auf die Refinanzierung haben (Interview U3, Pos. 0–33). Prinzipiell können Unternehmen besonders einen Wandel in Krisen beschreiten, da sie in Krisen aus existenziellen Gründen dazu gezwungen sind, sich zu verändern (Interview N1, Pos. 36). In Krisen wird hinterfragt, ob Irritationen aus der organisatorischen Umwelt richtig wahrgenommen wurden und die richtige Resonanz innerhalb der Organisation entstanden ist. Unternehmen können gesellschaftliche Aspekte daher besser berücksichtigen, wenn die Selbsterhaltung bzw. Zahlungsfähigkeit des Unternehmens gefährdet ist. Nachhaltigkeit entsteht bei Unternehmen besonders durch eine negative Integration. Den Unternehmen wird nämlich aufgezeigt, was nicht mehr geht.
Mit einer stärkeren Berücksichtigung von gesellschaftlichen Aspekten im Programm des Wirtschaftssystems, das über die Ausprägung des Codes (Zahlung/Nichtzahlung) bestimmt, sorgt das Wirtschaftssystem nicht mehr für eine Selbstgefährdung der Gesellschaft, sondern ermöglicht eine nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft und trägt als sinnvolle Ökonomie zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Autopoiesis bei. Nachhaltigkeitsratings beeinflussen Entscheidungsprämissen, wodurch die Entwicklungsmöglichkeiten der Unternehmen so eingeschränkt werden, dass die Entwicklungsmöglichkeiten von anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen nicht (mehr) behindert werden und die Autopoiesis der Systeme langfristig fortgesetzt werden kann. Durch den Fokus der Unternehmen auf wirtschaftliche Gesellschaftsthemen der Nachhaltigkeitsratings wird es möglich, die gesellschaftlichen Erwartungen in der wirtschaftlichen Logik des Unternehmens zu berücksichtigen. Denn eine Voraussetzung für eine Berücksichtigung der Anforderungen der Nachhaltigkeitsratings besteht in der Aufrechterhaltung der Zahlungsfähigkeit. Dies ist zugleich ein Anreiz, um die gesellschaftlichen Erwartungen der Nachhaltigkeitsratings in den Entscheidungen zu berücksichtigen, da innerhalb des Unternehmens die Erwartung besteht, dass die gesellschaftlichen Anforderungen aus dem Finanzmarkt die Wirtschaftlichkeit des Unternehmens steigern. Durch eine stärkere Berücksichtigung der Gesellschaft in wirtschaftlichen Entscheidungen des Unternehmens tragen Nachhaltigkeitsratings zu einem Wirtschaftssystem mit einer beschränkten Reflexion bei.

5.5.3 Grenzen der begrenzten Reflexion bei Entscheidungen

Zwar ermöglicht der wirtschaftliche Fokus der Nachhaltigkeitsratings eine Berücksichtigung der Gesellschaft in der Wirtschaft, allerdings entstehen durch den wirtschaftlichen Fokus auf gesellschaftliche Themen der Nachhaltigkeitsratings jedoch auch Einschränkungen hinsichtlich der Reflexion der Gesellschaft in unternehmerischen Entscheidungen.
Eine Umfrage im Auftrag der EU-Kommission macht deutlich, dass einige Unternehmen Hunderte von Fragebögen von Nachhaltigkeitsratingagenturen erhalten. Zudem beschäftigen sich Unternehmen im Durchschnitt 155 Tage im Jahr mit der Beantwortung von Anfragen von Nachhaltigkeitsratingagenturen. Der enorme Aufwand war einer der größten Kritikpunkte der Unternehmen gegenüber den Nachhaltigkeitsratingagenturen in dieser Studie (Europäische Kommission, Generaldirektion Finanzstabilität, Finanzdienstleistungen und Kapitalmarktunion 2021, S. 176).
Mit der Bearbeitung und Umsetzung von Maßnahmen zur Erfüllung der Anforderungen der Nachhaltigkeitsrating sind hohe Aufwände verbunden: „Wir kommen beim Dow Jones im Schnitt auf einen Personenmonat in der Beantwortung nur für unseren Fachbereich. Einen kompletten Personenmonat. Und ich weiß nicht, ob das Ergebnis das rechtfertigt.“ (Interview U6, Pos. 67–68) Deshalb ist das Unternehmen nicht in der Lage alle Erwartungen umzusetzen (Interview U4, Pos. 42–43). Da die Gesellschaft immer komplexer sein wird als die Wirtschaft, können gesellschaftliche Aspekte nur begrenzt im Wirtschaftssystem betrachtet werden. Aufgrund der beschränkten Ressourcen des Unternehmens können die Nachhaltigkeitsratings auch nicht die gesamten gesellschaftlichen Auswirkungen abfragen (Interview U8, Pos. 17). Dies würde zu einer Überlastung des Unternehmens führen und die wirtschaftliche Autopoiesis, also die Zahlungsfähigkeit des Unternehmens, gefährden. Nachhaltigkeitsratings müssen sich daher auf die wesentlichen Themen beschränken. Die befragten Experten aus dem untersuchten Unternehmen fordern, dass für jede Maßnahme genau hinterfragt wird, ob sie sich aus wirtschaftlicher Sicht rentiert (Interview U6, Pos. 85–86). Denn diese detaillierte wirtschaftliche Übersetzungsleistung von gesellschaftlichen Erwartungen findet in dem untersuchten Unternehmen noch nicht statt (Interview U6, Pos. 78). Dies liegt einerseits an der Intransparenz der Nachhaltigkeitsratings, da sie kaum erläutern, welche wirtschaftliche Relevanz die ausgewählten gesellschaftlichen Themen haben (Interview U15, Pos. 2), andererseits wird auch im untersuchten Unternehmen nicht versucht, den Business Case zu berechnen (Interview U6, Pos. 87–88). Da die Ressourcen von Unternehmen begrenzt sind, können gesellschaftliche Themen nur berücksichtigt werden, wenn sie für das Unternehmen einen nicht zu hohen Aufwand mit sich bringen und wirtschaftlich sind. Dabei muss jedoch die Wirtschaftlichkeit nicht genau ermittelt werden, sondern es genügt, die Scheinsicherheit zu erzeugen, dass die Berücksichtigung der Gesellschaft wirtschaftlich ist. Durch den Fokus auf wirtschaftlich relevante Themen kann es jedoch sein, dass die wirtschaftliche Perspektive noch stärker verfestigt und legitimiert wird, was zu einer Vernachlässigung von nichtwirtschaftlichen Gesellschaftsthemen führen kann (Döpfner und Schneider 2012, S. 86). Dadurch kann im Wirtschaftssystem eine noch stärkere Selbstreferenz entstehen, die aufgrund der negativen gesellschaftlichen Auswirkungen gegebenenfalls zu einer noch höheren Selbstgefährdung führt.
Nachhaltigkeitsratingagenturen sind zudem selbst auf einen wirtschaftlichen Fokus angewiesen, da sie ihre eigene Zahlungsfähigkeit erhalten müssen, weshalb sie wettbewerbsorientiert operieren müssen (Interview U20, Pos. 49–50). Der Zwang, sich vom Wettbewerb abzugrenzen, verhindert die Etablierung eines einheitlichen Standards zur Bewertung der gesellschaftlichen Auswirkungen (Interview U1, Pos. 55). Einerseits führt das zu Vielfalt, die aber die Unternehmen verwirrt (Interview U11, Pos. 20) und in der Folge die Berücksichtigung von gesellschaftlichen Aspekten verhindert (Interview U1, Pos. 55). Andererseits fehlt es den Bewertungen an gesellschaftlicher Legitimität (Interview U16, Pos. 57–58).
Eine gesellschaftliche Einigung über die Auswahl und Priorisierung der gesellschaftlichen Themen wäre aber für einen einheitlichen Standard notwendig.
Zwischen Gesellschaft und Rating, weil das, was wir machen, machen wir für die Gesellschaft. Wir sind eingebunden in die Gesellschaft als Unternehmen und wir haben den gesellschaftliche Auftrag, Arbeitsplätze zu schaffen und die Gesellschaft zu erhalten und die Ratingagenturen sind nur die Instrumente, die den Auftrag haben, das zu überprüfen, die haben aber nicht den Auftrag, den Maßstab festzusetzen, den Maßstab hat die Gesellschaft festzusetzen. Also müsste es eine gesellschaftliche Diskussion sein, und das ist Auftrag der Politik, dieser gesellschaftliche Diskussion voranzutreiben, damit die Ratingagenturen einen klaren Auftrag bekommen, was sie zu überprüfen haben. Die Ratingagenturen haben ansonst ein Eigenleben, dass wir unkontrolliert befolgen müssen, und das ist dann so was wie Herrscher Gottes Gnaden, das wollen wir ja alle nicht, und es gibt ja nicht so viele Ratingagenturen, die wir dann an der Stelle haben, wenn die festlegen, was sie meinen, was wichtig ist, dann tanzt die ganze Welt nach diesen Ratingagenturen, das kann eigentlich nicht so das Positive sein. (Interview U14, Pos. 59–60)
Damit wird deutlich, dass die Berücksichtigung der Gesellschaft durch die Auflösung der Paradoxie aus Wirtschaft und Gesellschaft, indem der Fokus auf wirtschaftliche Gesellschaftsthemen gelegt wird, dazu führt, dass Nachhaltigkeitsratingagenturen gesellschaftliche Themen aufgrund des Wettbewerbsdrucks und der Erwartungen ihrer Kunden vernachlässigen müssen, wenn diese wirtschaftlichen Anforderungen nicht genügen. Zusätzlich nehmen Unternehmen sich auch nur der Erwartungen der Nachhaltigkeitsratings an, die sich aus ihrer Sicht wirtschaftlich rentieren, wodurch gesellschaftliche Themen, bei denen ein Zielkonflikt zwischen Wirtschaft und Gesellschaft besteht, vernachlässigt werden.

5.5.4 Möglichkeiten der Fremdsteuerung der Selbststeuerung durch Nachhaltigkeitsratings

Nachhaltigkeitsratings ermöglichen durch ihre Reflexions- und Generalisierungsfunktion einen Reentry der Gesellschaft in die Wirtschaft. Unter der Voraussetzung von wirtschaftlichen Gesellschaftsthemen tragen sie zu einer Selbststeuerung der Wirtschaft mit einer begrenzten Reflexion bei. Diese Selbststeuerung kann durch Fremdsteuerung unterstützt werden.
Aus einer makroökonomischen Perspektive spielen Finanzintermediäre eine entscheidende Rolle bei der Allokation des Finanzkapitals, da sie die Höhe der Ersparnisse und Investments prägen. Sie beeinflussen die Grenzproduktivität des Kapitals, was bestimmt, welche Projekte finanziert werden. Sie beeinflussen die Wirtschaftsaktivitäten des gesamten Systems durch die Bereitstellung und Aufrechterhaltung des Zahlungssystems. Zudem beeinflussen sie die Vermittlungskosten (Scholtens 2006, S. 21).
Aus einer systemtheoretischen Governance-Perspektive kann die Funktion der Finanzintermediäre als Private Governance beschrieben werden. Private Governance beschreibt den Zusammenschluss von unterschiedlichen Funktionssystemen, die ein gemeinsames Interesse verfolgen, und die Selbststeuerung von Organisationen durch eine Kooperation mithilfe von Netzwerken (Melde 2012, S. 156).
Private Governance bezeichnet die Orientierung einer Organisation an anderen Organisationen, wodurch emergente Strukturen entstehen. So führen beispielsweise Netzwerke zu einer Standardisierung und Normalisierung der Nachhaltigkeitssemantik, auf die sich alle Organisationen beziehen können. Für die Entstehung einer begrenzten Reflexion in der Wirtschaft sind besonders marktförmige Kooperationen durch Professional Service Firms relevant. Sie stehen als Intermediäre zwischen Organisationen und sorgen damit für einen Multiplikationseffekt. Zu den Professional Service Firms, zählen neben Nachhaltigkeitsratings auch wirtschaftsorientierte Forschungseinrichtungen, Strategie- und Unternehmensberatungen, Kommunikationsagenturen und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften. Sie alle sorgen für eine stärkere Generalisierung von Nachhaltigkeit und eine höhere Reflexion der Gesellschaft durch ihre Vernetzung. Da die Nachhaltigkeitsratings die Auswirkungen von Unternehmen auf die Gesellschaft bewerten und damit Investitions- und Finanzierungsentscheidungen beeinflussen, gelten sie als die Professional Service Firm mit dem größten Einfluss (Melde 2012, S. 211 ff.).
Mit verlässlichen und hochwertigen Nachhaltigkeitsbewertungen durch Nachhaltigkeitsratingagenturen wird die Basis für die Verwendung von nachhaltigkeitsbezogenen Produkten und Dienstleistungen geschaffen, mit denen die Kapitalströme in nachhaltige Investitionen umgelenkt werden können (Europäische Kommission, Generaldirektion Finanzstabilität, Finanzdienstleistungen und Kapitalmarktunion 2021, S. 1).
Sie sorgen dafür, dass die Gesellschaft eine Zahlungsrelevanz erhält, und zudem für einen Multiplikationseffekt, mit dem der Kapitalstroms stärker auf gesellschaftliche Ziele ausgerichtet wird, da sie zu einer stärkeren Reflexion sowohl in der Finanzwirtschaft als auch in der Realwirtschaft anregen (Melde 2012, S. 215 ff.).
Diese Selbststeuerung im Wirtschaftssystem durch Private Governance ermöglicht eine Koevolution zu einer Gesellschaft mit begrenzter Reflexion.
Nachhaltigkeitsratingagenturen sind bisher ohne direkte Steuerungseingriffe des Rechts- und Politiksystems aus dem Wirtschaftssystem heraus entstanden (SustainAbility 2012, S. 18). Ein politischer Eingriff in die Nachhaltigkeitsratings selbst wurde bisher als nicht notwendig erachtet. Politische Vorschläge für eine Verbesserung der Bewertung der gesellschaftlichen Auswirkungen von Unternehmen bezogen sich meist auf Empfehlungen an die beteiligten Akteure, ohne eine Beschreibung, welche Rolle das politische System dabei spielen sollte.
Beispielsweise schlägt eine Studie im Auftrag des Umweltbundesamt (UBA) (2017, S. 16) vor, dass Investoren die für sie relevanten Gesellschaftsaspekte und die Qualitätserwartungen an Nachhaltigkeitsratingagenturen und Unternehmen adressieren sollten. Da die Ergebnisse stark von der Ratingphilosophie der Ratingagentur abhängen, sollten Investoren die Ergebnisse reflektieren und mit anderen Datenquellen vergleichen. Da die Datenqualität der Nachhaltigkeitsratingagenturen stark mit der geringen Zahlungsbereitschaft der Investoren zusammenhängt, sollten die Nachhaltigkeitsratingagenturen neue Geschäftsmodelle erarbeiten. Zudem sollten Nachhaltigkeitsratingagenturen die Anzahl der verwendeten Bewertungskriterien bzw. -indikatoren reduzieren und deren Bedeutung für das Bewertungsergebnis besser erläutern. Außerdem sollten sie den Unternehmen besser erklären, wie die Informationen von Investoren verwendet werden. Durch eine höhere Transparenz des Ratingprozesses und bessere Datenqualität kann die Akzeptanz gesteigert werden.
Auf der anderen Seite sollten Unternehmen die Anforderungen der Nachhaltigkeitsratingagenturen stärker in der Berichterstattung berücksichtigen. Es wird empfohlen, die Relevanz der gewählten Indikatoren und die Auswirkungen besser darzustellen und weitere Indikatoren zu berücksichtigen, die von Unternehmen gefordert werden. Unternehmen sollten auch stärker den Kontakt zu Nachhaltigkeitsratingagenturen suchen (Umweltbundesamt (UBA) 2017, S. 16).
Eine strengere Regulierung durch die Politik wird als nicht notwendig erachtet, und es sollte auch kein Standard festgelegt werden, da es für Nachhaltigkeitsratings weiterhin möglich sein sollte, dass sie unterschiedliche Investmentphilosophien anwenden (Umweltbundesamt (UBA) 2017, S. 8). Mittlerweile gibt es jedoch auch die Erkenntnis, dass eine Erhöhung der Datenqualität von Nachhaltigkeitsratings auch dabei hilft, dass Europa seine gesellschaftlichen Ziele erreicht, da Investoren dann gesellschaftliche Themen systematischer in ihre Entscheidungen integrieren können (EU High-Level Expert Group on Sustainable Finance 2018, S. 77).
Die Europäische Union sollte daher die Arbeit der Nachhaltigkeitsratingagenturen unterstützen und stärken, da sie bereits eine wesentliche Rolle für gesellschaftliche Informationen in der Finanzwirtschaft spielen. Durch eine Förderung der Qualität der Nachhaltigkeitsratings und durch die Beobachtung, wie die Informationen der Nachhaltigkeitsratingagenturen in den langfristigen Investitionsentscheidungen berücksichtigt werden, kann die Funktion der Nachhaltigkeitsratingagenturen gestärkt werden. Es wird empfohlen, die Transparenz von Nachhaltigkeitsratings mit einem besonderen Fokus auf die Unabhängigkeit durch die Entwicklung von Leitlinien und Mindestanforderungen zu verbessern (EU High-Level Expert Group on Sustainable Finance 2018, S. 78).
Ferner wird empfohlen, dass Indexanbieter Details über die Klima- und Nachhaltigkeitsaspekte in Indizes darstellen. Eine einheitliche Transparenz hinsichtlich Indizes sollte helfen, um zu bewerten, welchen Beitrag Indizes zur Erreichung von Klima- und Nachhaltigkeitsziele leisten (EU High-Level Expert Group on Sustainable Finance 2018, S. 55).
Die Europäische Union hat im Rahmen des Aktionsplans „Finanzierung nachhaltiges Wachstum“ eine umfangreiche Studie zu Nachhaltigkeitsratings in Auftrag gegeben (European Commission 2018, S. 8).
Auch diese Studie empfiehlt, die Transparenz der Bewertungsmethoden zu erhöhen, einen Industriestandard mit Zertifizierungssystem und Aufsichtsbehörde zu entwickeln, die Kommunikation der Nachhaltigkeitsratingagenturen mit Unternehmen zu verbessern, eine öffentliche Erklärung über Ziele und Grenzen der Ratings abzugeben, Interessenskonflikte bei Nachhaltigkeitsratingagenturen zu veröffentlichen, eine Erklärung von Vermögensverwaltern einzufordern, wie Nachhaltigkeitsratings im Investmentprozess integriert werden, die Unternehmensberichterstattung zu verbessern, Begrifflichkeiten zu klären und die Bildung für alle Marktteilnehmer und Stakeholder zu verbessern. (Europäische Kommission, Generaldirektion Finanzstabilität, Finanzdienstleistungen und Kapitalmarktunion 2021, S. 177 ff.).
Auch die befragten Nachhaltigkeitsratingagenturen der Studie sehen die Notwendigkeit, dass Unternehmen transparenter hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Auswirkungen werden, um ihre Datenqualität zu erhöhen. Allerdings sehen sie keinen direkten Steuerungsbedarf hinsichtlich ihrer Methoden, Bewertungsansätzen, wie Informationen verwendet werden, oder für eine Harmonisierung der Nachhaltigkeitsratings (Europäische Kommission, Generaldirektion Finanzstabilität, Finanzdienstleistungen und Kapitalmarktunion 2021, S. 125).
Daher werden in den oben beschriebenen Empfehlungen der Studie bis auf eine Verbesserung der Transparenz keine weiteren Maßnahmen zur Regulierung der Nachhaltigkeitsratingagenturen genannt.
Neben der Förderung der Reflexion besteht jedoch ein besonderes Potenzial in der politischen Unterstützung der Generalisierung, um einen einheitlichen Standard zu fördern, der nicht nur rein wirtschaftlich relevante Gesellschaftsaspekte betrachtet. Denn aufgrund des starken wirtschaftlichen Fokus der Nachhaltigkeitsratingagenturen sollte insbesondere die gesellschaftliche Ausrichtung der Nachhaltigkeitsratingagenturen gefördert werden. Es sollten daher Anreize geschaffen werden, durch die die Nachhaltigkeitsratingagenturen eine nachhaltige Entwicklung unterstützen (Döpfner und Schneider 2012, S. 87). Dafür sollte ein Konsens hergestellt werden, was eigentlich gemessen werden sollte. Zwar bieten die unterschiedlichen Kriterien eine breite Vielfalt für Anwender, aber die Unterschiede in den Kennzahlen sind sehr willkürlich entstanden und nicht aus einer gut durchdachten Abwägung von grundsätzlichen Werten hervorgegangen (Chatterji und Levine 2006, S. 46 ff.). Mit einem einheitlichen Standard könnte die Unsicherheit reduziert werden, die den Wandel zu einer Wirtschaft mit begrenzter Reflexion verhindern (Windolph 2011, S. 51). Ähnliche Aussagen haben auch die Befragten dieser Studie geäußert. Bisher gab es kaum Steuerungseingriffe der Politik, sondern die Nachhaltigkeitsratings sind aus einem Selbststeuerungsprozess der Wirtschaft heraus entstanden. Nur eine jüngere Nachhaltigkeitsratingagentur gab an, dass sie von der Politik gefördert wurde (Interview N10, Pos. 3–4). Es gibt daher keine Forderungen an die Politik. Das Finanzsystem könne am ehesten durch Selbststeuerung und eine Koordination durch Marktakteure zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele beitragen.
Aber sie kann eben nicht sicherstellen, dass die Dinge dann auch wirklich in der richtigen Qualität, effektiv, zielorientiert mit maximaler Wirkung auch umgesetzt werden, da brauch man dann wirklich die Player, also den Kapitalmarkt selber, die Investoren und Asset Manager, die ambitionierte Zielsetzungen entwickeln, und eben auch Investmentstrategien, um diese Ziele zu erreichen, und dazu brauch man die Ratingagenturen, die entsprechende hochwertige Informationen/Daten zur Verfügung stellen, und dazu brauchen natürlich die Unternehmen, die technische Lösungen entwickeln und ihre Geschäftsmodelle so ausrichten, dass sie eben Nachhaltigkeit fördern und nicht behindern. (Interview N7, Pos. 40)
Die Politik sollte daher der Finanzwirtschaft auch keine Definitionen und Standards für Nachhaltigkeit vorgeben (Interview N4, Pos. 56).
Während also für Nachhaltigkeitsratingagenturen kein Steuerungsbedarf durch die Politik gesehen wird, sollten die Rahmenbedingungen jedoch so gestaltet sein, dass sie die Entwicklung eines nachhaltigen Finanzsystems unterstützen. Die Maßnahmen, die dafür empfohlen werden, beziehen sich auch besonders auf mehr Transparenz hinsichtlich der gesellschaftlichen Auswirkungen der Unternehmen (Interview N10, Pos. 20–21). Es gibt jedoch auch die Meinung, dass die Politik für die Definition von nachhaltigen Investments zumindest gewisse Mindeststandards einführen (Interview N2, Pos. 40) und gewisse Transparenzstandards für Finanzinstitutionen setzen sollte (Interview N4, Pos. 36). Zum Zweck der Verbesserung der Rahmenbedingungen kann die Politik somit besonders die gesellschaftliche Reflexion in der Wirtschaft durch neue Transparenzstandards unterstützen.
Es stellt sich daher auch die Frage, ob die Politik auch eine stärkere Generalisierung von Nachhaltigkeit unterstützen sollte. Aus Sicht der Nachhaltigkeitsratingagenturen helfen die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen zwar zur Strukturierung von Nachhaltigkeit und zur Bewusstseinssteigerung für Nachhaltigkeit, allerdings sind sie auch nur ein weiteres Schema, wie gesellschaftliche Themen geordnet werden können (Interview N1, Pos. 21–22). Nachhaltigkeitsratingagenturen verwenden aber auch selber die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen, um zu prüfen, wie Unternehmen zu einer nachhaltigen Entwicklung der Gesellschaft beitragen (Interview N7, Pos. 21–22). Sie fühlen sich auch dafür verantwortlich, einen Beitrag zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen zu leisten, indem sie konkrete Bewertungen und Fortschrittsmessungen bei Unternehmen durchführen (Interview N9, Pos. 28–29). Als Voraussetzung für den Erfolg von nachhaltigen Investments gelten jedoch auch die Rahmenbedingungen, die die Kapitalallokation beeinflussen.
Aktuell bestehen noch viele falsche politische Anreize, die der Evolution einer sinnvollen Gesellschaft eher entgegenstehen. Die Politik handelt noch zu kurzfristig, und dezentrale Strukturen sollten an Bedeutung gewinnen, damit die Politik dem sich bereits vollziehenden gesellschaftlichen Wandel nicht hinterherhinkt (Interview N1, Pos. 43–44).
Zwar ändert sich die Wirtschaft in Richtung zu mehr Nachhaltigkeit, wenn sich aufgrund von gesellschaftlichen Änderungen auch die Konsumentenpräferenzen ändern, allerdings bleibt die Politik bei vielen gesellschaftlichen Themen unerlässlich. Denn neben einem vollkommenen, offenen und zur Wahl stehenden Möglichkeitsraum muss es für bestimmte Themen auch Standards geben, die als Orientierung zu Ordnung führen. Denn wirtschaftliche Entscheidungen berücksichtigen nicht immer alle Aspekte und sind auch nicht immer im Interesse der Gesellschaft (Interview N1, Pos. 46).
Die Politik sollte daher externe Effekte konsequenter internalisieren und härter gegen Verstöße vorgehen.
Und das Zweite ist, dann komme ich zurück zu diesen drei Arten oder drei Auswahlkriterien für Nachhaltigkeit, die ich anfangs erwähnt habe, also die, die man direkt messen kann, die, die indirekt relevant sind, und die, die eben noch nicht relevant sind, weil externe Kosten nicht internalisiert werden, ich glaube, das ist eigentlich der stärkste Auftrag an die Politik, die Rahmenbedingungen so zu schaffen für die Unternehmen, dass die Unternehmen, die zum Beispiel externe Kosten internalisieren, dass die dann auch einen Vorteil davon haben, weil, sonst können sich Unternehmen im Interesse der Shareholder gar nicht leisten, die Kosten zu erhöhen, nur weil es schön ist, das geht einfach nicht. Nach meiner Meinung müssten die Politik dir Randbedingungen so erarbeiten oder so verändern, dass es sich lohnt für Unternehmen, nachhaltiger zu sein, das lohnt sich nämlich letztendlich auch für die Volkswirtschaft im Allgemeinen, weil diese externen Kosten, die fallen ja irgendwo an, wird ja auch gemacht, zum Beispiel, wenn sie an Umweltverschmutzung denken, da gibt es ganz klare Vorschriften, was man einhalten muss, wenn man Abwässer einleitet in ein Gewässer, weil, sonst würden ja die Firmen das aus eigenem Antrieb nicht machen, das sind ja nur Kosten, aber die Kosten würden dann bei der Öffentlichkeit anfallen, darum ist es sehr gut, dass es Einleitungsrichtlinien gibt und die Firmen, die diese Einheiten, die haben dann einen Vorteil, dass sie kein Bußgeld bezahlen müssen, weil sie diese Richtlinie verletzen, und diese Logik müsste halt an anderen Orten nämlich zu tragen kommen, insbesondere im Klimabereich, wo das noch sehr zögernd der Fall ist, wie wir alle wissen. (Interview N6, Pos. 28)
Allerdings kann auch die Politik nur Impulse setzen und nicht direkt steuern (Interview N7, Pos. 37–40).
Die begrenzte Reflexion der Gesellschaft mithilfe von Nachhaltigkeitsratings ist bisher ohne politische Steuerung entstanden und ausgekommen. Durch einen Selbststeuerungsprozess der Wirtschaft ist eine Evolution zu einer Wirtschaft mit begrenzter Reflexion angestoßen worden. Ein direkter Eingriff wird als nicht notwendig erachtet, aber die Politik kann durch geeignete Rahmenbedingungen die Voraussetzungen der Selbststeuerung unterstützen. Diese Kontextsteuerung betrifft einerseits eine höhere Reflexion durch Transparenzpflichten, aber auch die Generalisierung von Nachhaltigkeit durch die Vereinbarung verbindlicher Nachhaltigkeitsziele, an denen eine Orientierung möglich ist. Bisher werden Nachhaltigkeitsratings in ihrer Funktion zur Beurteilung einer höheren Reflexion beurteilt, da Nachhaltigkeitsratings neue gesellschaftliche Risiken aufdecken. Es wurde aber bisher vernachlässigt, dass Nachhaltigkeitsratings auch eine Generalisierungsfunktion ausüben, da sie eine Auswahl von gesellschaftlichen Themen vornehmen und selbst Standards setzen.
Aus Sicht des Autors sollte für eine stärkere Ausrichtung auf gesellschaftliche Ziele die Politik durch die Beteiligung eines umfassenden Netzwerks stärker Vorgaben, beispielsweise in Form eines Standards, machen, wie die Generalisierung von Nachhaltigkeit in der Wirtschaft ausgelegt werden kann und welche gesellschaftlichen Themen in welchem Maße berücksichtigt werden müssen. Durch die Koordination eines gesellschaftlichen Diskurses können die Erwartungen von anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen berücksichtigt und kann ein einheitliches Verständnis für die Auslegung von Nachhaltigkeit für das Wirtschaftssystem geschaffen werden. Mit einer höheren gesellschaftlichen Legitimität und einer stärkeren Berücksichtigung der gesellschaftlichen Erwartungen ist ein einheitlicher Standard möglich, der die beschränkte Reflexion der Gesellschaft durch die Vielzahl an Nachhaltigkeitsratings noch stärker beschränkt. Dadurch entsteht eine höhere Entscheidungssicherheiten, was die Integration der Gesellschaft in den Investmentprozess bei Investoren erleichtert und bei Unternehmen die Ableitung von Maßnahmen vereinfacht, sodass schneller ein Beitrag zur Erreichung der gesellschaftlichen Ziele geleistet werden kann. Dies würde aber bedeuten, dass Nachhaltigkeitsratingagenturen ihre Alleinstellungsmerkmale, die auf der Vielzahl an Methoden basieren, verlieren und ihre Geschäftsmodelle dadurch in Gefahr geraten, weshalb es nachvollziehbar ist, dass die Nachhaltigkeitsratingagenturen solche Eingriffe eher ablehnen. Zur Erreichung der gesellschaftlichen Ziele, die eher politischer Natur sind, wäre beispielsweise eine Nachhaltigkeitsratingagentur der Europäischen Union eine zu prüfende Option. Da Nachhaltigkeitsratingagenturen besonders die wirtschaftlich relevanten Gesellschaftsaspekte betrachten, kann die Politik auch durch eine eher direkte Steuerung in Form der Internalisierung von externen Effekten dabei unterstützen, dass gesellschaftliche Themen, die zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen beitragen, aber nicht wirtschaftlich sind, nun wirtschaftlich werden.
Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass die Finanzwirtschaft die Auswirkungen auf die Gesellschaft über die Realwirtschaft positiv beeinflussen kann. Durch eine Veränderung von Investitionen und Refinanzierungskosten kann der Finanzmarkt die Ressourcenallokation in wirtschaftliche Aktivitäten lenken. Zur Berücksichtigung der Gesellschaft in der Finanzwirtschaft spielen die Entwicklung des Marktes für nachhaltige Investments und deren Treiber eine entscheidende Rolle. Die zunehmende Bedeutung des Finanzmarktes für Nachhaltigkeit ist auch anhand der Ausrichtung der Nachhaltigkeitsratings ersichtlich. Indem sich die Nachhaltigkeitsratings auf wirtschaftliche Gesellschaftsthemen fokussieren, wird es für sie möglich, die Paradoxie der Differenz aus Wirtschaft und Gesellschaft aufzulösen. Die Nachhaltigkeitsratings bauen eine Scheinsicherheit auf, nach der die Berücksichtigung von gesellschaftlichen Themen wirtschaftlich ist.
Die empirische Untersuchung zeigt, dass Nachhaltigkeitsratings Einfluss auf die Entscheidungserwartungen, beispielsweise auf Strategien und Ziele, ausüben, die dafür sorgen, dass die Gesellschaft stärker in den wirtschaftlichen Entscheidungen des Unternehmens berücksichtigt wird. Unternehmen erhoffen sich durch die Beteiligung an den Nachhaltigkeitsratings in der Logik ihres wirtschaftlichen Codes einen Beitrag zur Aufrechterhaltung ihrer Zahlungsfähigkeit. Sie fokussieren sich daher auf die gesellschaftlichen Erwartungen, die mit dem wirtschaftlichen Code vereinbar sind. Mit der Scheinsicherheit, dass die Berücksichtigung von gesellschaftlichen Themen wirtschaftlich ist und dass dies die Interessen der Investoren sind, wird es auch den Unternehmen möglich, die Erwartungen der Nachhaltigkeitsratingagenturen zu übernehmen. Mit dem Fokus auf die wirtschaftlich relevanten Gesellschaftsthemen wird der Möglichkeitsraum der Gesellschaftsthemen, der durch einen Bezug auf Experten bei der Reflexion und durch den Bezug auf die Institution Nachhaltigkeit bei der Generalisierung bereits begrenzt wurde, weiter reduziert. Damit wird auch die Vielfalt der Bewertungen der gesellschaftlichen Auswirkungen von Unternehmen weiter eingeschränkt.
Gleichzeitig bedeutet der stärkere Fokus auf wirtschaftliche Gesellschaftsthemen, dass weniger nichtwirtschaftliche Themen in den Fokus gestellt werden oder sogar vernachlässigt werden. Der starke Fokus auf wirtschaftliche Gesellschaftsthemen invisibilisiert zwar die Paradoxie zwischen Gesellschaft und Wirtschaft, aber es kann sein, dass der Status quo dadurch eher zementiert wird, da die möglicherweise wirklich kritischen Gesellschaftsthemen nicht thematisiert werden, wodurch die gesellschaftliche Selbstgefährdung sich erhöht. Mit der Auswahl und Priorisierung von gesellschaftlichen Themen haben die Nachhaltigkeitsratingagenturen große Macht über die Kapitalallokation und damit über die nachhaltige Ausrichtung von Unternehmen. Zwar werden zur Begründung der Entscheidungen vereinzelt externe Stakeholder hinzugezogen, aber es gibt keinen gesellschaftlichen Diskurs über die Auswahl und Gewichtung der Themen, weshalb insbesondere mit dem starken Fokus auf wirtschaftliche Gesellschaftsthemen deren Legitimität infrage gestellt werden kann.
Politische Maßnahmen könnten den Selbststeuerungsprozess der Wirtschaft unterstützen, indem Nachhaltigkeitsratings stärker auf gesellschaftliche Ziele ausgerichtet werden.
Mit der begrenzten Reflexion durch Nachhaltigkeitsratings wird ein Reentry der Gesellschaft in die Wirtschaft ermöglicht, sodass sich die Wirtschaft selbst steuern kann.

5.6 Zwischenfazit

Die empirische Untersuchung zu Nachhaltigkeitsratings gibt ein Beispiel, wie durch eine Selbststeuerung mit begrenzter Reflexion neuer Sinn entstehen und die gesellschaftliche Selbstgefährdung verhindert werden kann.
Treiber fördern die Wahrscheinlichkeit einer begrenzten Reflexion in Unternehmen. Eine höhere Reflexion durch Stakeholder, die Ausrichtung der Entscheidungsstrukturen an Nachhaltigkeit und ein Fokus auf wirtschaftliche Gesellschaftsthemen führen zu einer begrenzten Reflexion in Unternehmen. Gleichzeitig existieren auch Pfadabhängigkeiten die eine begrenzte Reflexion in Unternehmen behindern. Fehlende Lerneffekte verhindern eine höhere gesellschaftliche Reflexion. Durch die Ausrichtung der Strukturen auf kurzfristige Wirtschaftlichkeit wird eine Orientierung an Nachhaltigkeit erschwert, und bestehende Investitionseffekte verhindern, dass nachhaltig investiert wird. Der Einfluss von Investoren und die damit verbundene Kapitalallokation sind sowohl wesentliche Treiber als auch Barrieren bei der Entstehung eines Unternehmens mit begrenzter Reflexion. Nachhaltigkeitsratings stellen Informationen zur Verfügung, mit denen eine gesellschaftliche Reflexion in Entscheidungen ermöglicht wird.
Mit der Erzeugung einer höheren Reflexion der Gesellschaft unterstützen Nachhaltigkeitsratings die Auflösung des bisherigen Evolutionspfades des Wirtschaftssystems. In ihrer Reflexionsfunktion irritieren sie die Wirtschaft, sodass die Gesellschaft stärker in der Wirtschaft berücksichtigt wird. Mit dem Einbezug von anderen Funktionssystemen in die Entwicklung der Methode wie auch in die Bewertung findet eine netzwerkartige Interpenetration statt. Dadurch entsteht ein gegenseitiger Erwartungsaustausch zwischen den Unternehmen und den beteiligten Gesellschaftssystemen, der die gesellschaftliche Kontingenz reduziert. Nachhaltigkeitsratings beeinflussen indirekt die Entscheidungen im Unternehmen, indem sie die Berichterstattung verändern und die Transparenz der Unternehmen erhöhen. Durch ihre Fremdbeschreibung beeinflussen sie die Selbstbeschreibung des Unternehmens. Nachhaltigkeitsratingagenturen versuchen mit einem Bezug auf Experten zu demonstrieren, dass sie alle relevanten Gesellschaftsaspekte berücksichtigen. Mit diesem Bezug auf Experten wird verschleiert, dass sie nicht die gesamten Gesellschaftsauswirkungen von Unternehmen bewerten können, wodurch eine erste Begrenzung der gesellschaftlichen Reflexion erzeugt wird. Durch die Komplexität der Gesellschaft entstehen viele Möglichkeiten, wie eine Reflexion der gesellschaftlichen Auswirkungen der Unternehmen erfolgen kann. Daher gibt es auch bei den Nachhaltigkeitsratingagenturen eine große Vielfalt, wie die gesellschaftlichen Auswirkungen der Unternehmen bewertet werden. Die unterschiedlichen Bewertungsansätze führen zu unterschiedlichen Ergebnissen, die teilweise widersprüchlich sind und neue Unsicherheiten bei den Unternehmen erzeugen. Diese zu starke Reflexion hindert Unternehmen daran, gesellschaftliche Aspekte in ihren Entscheidungen zu berücksichtigen.
Mithilfe der Generalisierung tragen Nachhaltigkeitsratings zu einer Stabilisierung eines neuen Evolutionspfades einer Wirtschaft mit beschränkter Reflexion bei. Durch ihre Generalisierungsfunktion konkretisieren sie die Institution „Nachhaltigkeit“. Damit erleichtern sie die Verbreitung und Anwendung der Institution „Nachhaltigkeit“, was zur Standardisierung und Stabilisierung der Institution „Nachhaltigkeit“ beiträgt. Diese Stabilität reduziert die Unsicherheit der zu hohen gesellschaftlichen Reflexion. Nachhaltigkeitsratings beeinflussen durch ihre Generalisierungsfunktion indirekt die Entscheidungen von Unternehmen, indem die erzeugte Einheit von Nachhaltigkeit die Auswahl der gesellschaftlichen Themen beschränkt, wodurch gesellschaftliche Erwartungen klarer an Unternehmen adressiert werden und damit die Unternehmen diese gesellschaftlichen Erwartungen auch besser in ihren Entscheidungsprämissen und Entscheidungen berücksichtigen können. Die Generalisierungsfunktion von Nachhaltigkeit durch Nachhaltigkeitsratings ist jedoch beschränkt, da das einheitliche Verständnis von Nachhaltigkeit auch durch andere Systeme beeinflusst wird und Unternehmen zudem bei einer Anpassung der Erwartungsstrukturen weitere Irritationen wahrnehmen, über deren Relevanz sie als autopoietische Systeme selbst entscheiden.
Die begrenzte Reflexion durch Nachhaltigkeitsratings ermöglicht einen Reentry der Gesellschaft in die Wirtschaft und trägt zur Selbststeuerung der Wirtschaft bei. Mit dem Fokus auf die finanziell relevanten Gesellschaftsthemen invisibilisieren Nachhaltigkeitsratings die Differenz zwischen Wirtschaft und Gesellschaft. Mit dieser Scheinsicherheit wird es auch für die Unternehmen möglich, die Gesellschaft zu berücksichtigen. Mit dem Fokus auf lediglich wirtschaftlich wesentliche Gesellschaftsthemen wird der Möglichkeitsraum der Gesellschaft noch weiter eingeschränkt, wodurch Gesellschaftsthemen besser in Entscheidungen verarbeitbar werden. Zudem wird eine Anschlussfähigkeit an den Code des Wirtschaftssystems in Form von Zahlungen sichergestellt. Unternehmen erhoffen sich durch die Beteiligung an den Nachhaltigkeitsratings in der Logik ihres wirtschaftlichen Codes einen Beitrag zur Aufrechterhaltung ihrer Zahlungsfähigkeit.
Zwar ermöglicht der wirtschaftliche Fokus auf gesellschaftliche Themen den Reentry der Gesellschaft in die Wirtschaft, allerdings werden dadurch möglicherweise kritische Gesellschaftsthemen, die nicht wirtschaftlich relevant sind, vernachlässigt oder es wird ihnen eine geringere Bedeutung beigemessen. Die Auswahl und die Gewichtung der Gesellschaftsthemen auf Basis von wirtschaftlichen Kriterien führen auch dazu, dass nicht die Themen priorisiert werden, die gesellschaftlich wichtig und dringlich wären. Mit einem reinen Wirtschaftsfokus könnte eine eigentlich neoklassische Logik wieder Akzeptanz finden. Diese könnte durch die unberücksichtigten gesellschaftlichen Auswirkungen allerdings nicht nur zur Gefahr für die Gesellschaft, sondern auch zu deren Zerstörung führen.
Eine stärkere Beteiligung der Politik an der Auswahl und Gewichtung der gesellschaftlichen Themen könnte dafür sorgen, dass nicht nur wirtschaftlich relevante Themen, sondern auch besonders die gesellschaftlichen Themen, die zu den Nachhaltigkeitszielen beitragen, berücksichtigt werden, wodurch die begrenzten Ressourcen im Sinne der Nachhaltigkeitsziele allokiert werden.
Nachhaltigkeitsratings erzeugen eine begrenzte Reflexion in Unternehmen und tragen damit zur Selbststeuerung der Wirtschaft bei. Durch ihre Reflexions- und Generalisierungsfunktion ermöglichen sie den Reentry der Gesellschaft in unternehmerische Entscheidungen. Diese Selbststeuerung im Wirtschaftssystem ist jedoch auf eine Unterstützung seitens der Politik angewiesen.
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Fußnoten
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Trotz ihrer Zugehörigkeit zur Organisation werden sie aus systemtheoretischer Sicht als extern betrachtet, da das psychische System der Mitarbeiter sich in der Umwelt der Organisation befindet.
 
Metadaten
Titel
Evolution einer sinnvollen Wirtschaft durch beschränkte Reflexion am Beispiel von Nachhaltigkeitsratings
verfasst von
Christian Strangalies
Copyright-Jahr
2024
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-44078-7_5