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2011 | Buch

Gewaltspiralen

Zur Theorie der Eskalation

verfasst von: Gertrud Brücher

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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Über dieses Buch

Die tödliche Eskalation von Konflikten ist als Grund für und gegen Interventionen ein Problem ersten Ranges. Aber worum handelt es sich hier eigentlich? Aktuelle Debatten suchen erfolglos nach einer Erklärung für Eigendynamiken, die weder Adressaten noch schuldige Akteure kennen. Die Hilflosigkeit wird überspielt, indem Schuldige „konstruiert“ werden. In einer global vernetzten Welt ist diese Logik der Problemlösung durch Problemverschärfung hochexplosiv. Hier fehlen alternative Denkmodelle. Die frühe Sozialphilosophie war weiter: Kriegerisches (Clausewitz), Soziales (Simmel) und Rechtsförmliches (Benjamin) werden als Prozesse der Wechselwirkung gedeutet. Heute lehrt erst die Luhmannsche Systemtheorie mit dem Begriff der „Autopoiesis“ das Mysterium der Eskalationsdynamiken wieder verstehen: Eskalation als Drift zu Tod und Zerstörung im Negativen, im Positiven als Prozess Frieden stiftender Versöhnung. Dieses Buch ist für Interessierte der Philosophie und der Sozialwissenschaften genauso wie für Akteure der Friedens- und Sicherheitspolitik obligat.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
Einleitung: Das Verdrängen der Eskalationsproblematik und seine Wiederentdeckung
Zusammenfassung
„Praxisrelevanz“ fußt als Schlüsselbegriff des Gegenwartsbewusstseins auf der Annahme, die wichtigsten Probleme des Zusammenlebens seien in der Theorie gelöst und heute stünde nur noch die Umsetzung der prominenten Lösungsvorschläge in die Praxis an. Der Name von Thomas Hobbes steht für die Einhegung und Überwindung der manifesten physischen Gewalt durch die Institution des staatlichen Gewaltmonopols. Mit Hugo Grotius (Völkerrecht), Charles de Secondat Montesquieu (Gewaltenteilung), Jean Jacques Rousseau (Demokratie), Immanuel Kant (Rechtsstaat), Adam Smith (Markt), Sigmund Freud (Sozialisation) und Karl Marx (gerechte Verteilung) werden weitgehende Lösungsvorschläge verbunden, die auf Bereiche zielen, in denen Gewalt unter der Oberfläche des friedlichen Zusammenlebens verborgen bleibt. Diese latente Gewalt kann, solange unbewältigt und ungelöst, jederzeit manifest werden und mehr noch, sie tendiert gewissermaßen zur Manifestation auf der steten Suche nach einem Ventil, das in Handgreiflichkeiten, Kämpfen und Massakern jeweils der ins Aggressive gewendeten Furcht (Hobbes), der ungeregelten zwischenstaatlichen Interaktion (Grotius), dem ungezügelten Machtstreben (Montesquieu), der depravierten Natur (Rousseau), der Unmündigkeit und Unvernunft (Kant), der Unfreiheit (Smith), dem Profitstreben (Marx), dem Triebhaften (Freud) Luft machen kann. Die friedensrelevanten Praxisprobleme verlangen von der Theorie, wie immer diese methodologisch orientiert sein mag, lediglich noch, unter Einbeziehung und Auswertung der empirischen Daten über aktuelle Gefahren, Tendenzen, Machtkonstellationen und Kräfteverhältnisse ein konzeptionelles Design aller notwendigen Schritte zu entwickeln und in graphisch anschaulicher Form den Praktikern als Modell und Leitfaden an die Hand zu geben.
Gertrud Brücher
I. Eskalation als Thema
Zusammenfassung
Um das Thema „Eskalation“ war es nach dem Ende des atomaren Patts merklich still geworden. Das hat sich inzwischen grundlegend gewandelt, nachdem nicht nur regionale Konflikte hinreichend Anschauungsmaterial liefern, sondern – weit bedeutsamer noch – alle Zeichen der Zeit auf einen Prozess der politischen Globalisierung hindeuten, der auf dem Wege der Konflikteskalation voranschreitet. Dieser Prozess wird wahrgenommen; aber dessen Einbettung in den dominanten Deutungsrahmen etablierter Konfliktlösungsmodelle wirkt immer zugleich als Entwarnung. Konflikte lassen im Lichte verursachender Faktoren betrachtet, den praxeologischen Zugriff sichtbar werden.Die am Konfliktmaterial zu testenden Hypothesen über auslösende Ereignisse und konfliktverschärfende Strukturen geben nicht nur Hinweise auf erfolgversprechende Konfliktbewältigungsstrategien. Sie sind vielmehr als Deutungshilfen selbst schon Konfliktlösungsmodi. Das kulminiert in einer mit dem Gegenstand befassten wissenschaftlichen Haltung, die schließlich den Konflikt selbst zu einer Konstruktion von Konfliktmodellen erklärt hat. Ob Eskalation als eigenständiges Thema überhaupt Beachtung findet, hängt mit theoretischen Vorentscheidungen zusammen, die einerseits von intellektuellen Moden gesteuert und insofern einem Paradigma gleichen, das alle Daten und Anamnesen unter das Diktat seiner ganz besonderen Perspektive zwingt. Andererseits können Vorentscheidungen auch als Generalisierungen oder Kondensierungen ganz bestimmter Beobachtungen gelten, die eine gewisse Zeit angemessen sein mochten, im Falle ihrer anachronistischen Geltung aber als problematisch empfunden werden: Die Interpretationen bestimmter Handlungen und Handlungsverkettungen als bloße Bausteine eines Ursachengeflechts, das eine auf die Praxis der Konfliktbewältigung bezogene Analyse zu Tage gefördert hat, tendiert zur Selbstbestätigung. Sie bezieht ihre Logik und Plausibilität aus dem prästabilierten höheren Ganzen einer zivilisatorischen Entwicklungsgesetzlichkeit, in der die Macht jener weltgesellschaftlichen Akteure ruht, denen zugetraut wird, die in der Konfliktanalyse aufscheinende Konfliktbewältigung aus- und durchzuführen.
Gertrud Brücher
II. Das Paradoxe der Gewalt
Zusammenfassung
Auf der Suche nach einer Theoriestelle für Eskalationsprozesse waren wir auf die Figur der Wechselwirkung gestoßen, wie sie in der frühen noch unmittelbar mit philosophischen Fragen der Vergesellschaftung des Menschen befassten Soziologie im Anschluss an Georg Simmel auftaucht. Diese Figur sperrt sich gegen jene in die Anfänge eingebaute soziologische Theorieintention, das Soziale als moralischen Vorzugswert plausibel zu machen, da friedliche, konfliktive und selbst kriegerische Formen der Vergesellschaftung als Modi des Sozialen vom Aspekt der sozialen Konstitution des Menschen aus gesehen äquivalent sind. Der hier anvisierte nichtgegenständliche, aber um der empirischen Anamnese willen zu vergegenständlichende Bereich der Wechselwirkung war schon sehr viel früher in den kriegsphilosophischen Überlegungen Carl von Clausewitz' als immanente Eskalationstendenz der Gewalt, der Furcht und der Macht präzisiert worden. Der für dieses Kapitel wichtige Fokus liegt auf der Differenz von Ereignis und Struktur. Die Ausnahmesituation des Krieges zwingt den Handelnden zur Entscheidung im Angesicht stets präsenter Todesgefahr. Dabei rührt das Empfinden, keine rechte Zeit zum abwägenden Urteilen und Entscheiden nach reiflicher Überlegung zur Verfügung zu haben, aus der Unbeobachtbarkeit einer Gegenwart, die als reversibel, als noch nicht abgeschlossen erfahren wird. Wo die Ereignisabfolge dicht gedrängt und unüberschaubar distanzloses Agieren aufnötigt, dort gibt es gewissermaßen nichts, an das angeschlossen werden könnte, weil anschlussfähig immer nur das gewesene, das abgeschlossene, schon zur Geschichte geronnene Ereignis ist, das sich in einen verstehbaren Zusammenhang eingeordnet hat. Wenn ein Ereignis zur Operation eines Systems geworden ist, so hat es aufgehört, ein bloßes Ereignis zu sein und hat sich amalgamiert mit jener Systemstruktur, die dem Ereignis einen Sinn zuweist oder abgewinnen lässt.
Gertrud Brücher
III. Konflikt- und Friedensdynamiken
Zusammenfassung
Da Widersprüche zum sozialen Alltag gehören, stellt sich die Frage, was Konfliktsysteme gegenüber gleichsam normalen Sozialsystemen auszeichnet. Diesbezüglichen Ausführungen Luhmanns scheinen nicht eindeutig. Folglich läuft dieser Ansatz immer wieder Gefahr, in den subjektphilosophisch-humanistischen Deutungskontext hineinkopiert zu werden. Als differentia specifica gilt zunächst, dass Konfliktsysteme die komplexe soziale Wirklichkeit in einem sehr viel höheren Maße reduzieren, als dies bei gewöhnlichen mit einem Überschuss an Verweisungen ausgestatteten Sozialsystemen der Fall ist. Soziale Systeme sind durch soziale Kontingenz gekennzeichnet, durch das Einkalkulieren von Möglichkeiten, die über das hinausgehen, was realisiert werden kann. Dem ist nur gewachsen, wer sich auf permanente Enttäuschungen einstellen kann. Doppelt ist diese Kontingenz, weil jeder weiß, dass der begegnende Andere um dieselbe Schwierigkeit weiß. Gegenüber dieser systemtheoretischen Beschreibung interpretiert die subjektphilosophisch-humanistische Sprache das Faktum einer mit dem Sinnbezug gegebenen Üffnung für andere Möglichkeiten als ein Vermögen, als Lernfähigkeit, als Flexibilität, Pluralismus, Wertrelativismus und Toleranz. Wird das normale reibungslose Funktionieren gewöhnlich damit in Verbindung gebracht, dass Enttäuschungen verkraftet werden können und infolgedessen der soziale Friede erhalten bleibt, so sind gewaltsame Konflikte nur in den Termini von Defizit, Pathologie, Destruktivität, Entartung, Entzivilisierung zu begreifen. Der moralischen Aufwertung des Sozialen korrespondiert die Marginalisierung ethischer Fragestellungen, ein Tatbestand der nicht unwesentlich durch die Emanzipation einer empirisch arbeitenden wissenschaftlichen Soziologie von der Philosophie beeinflusst sein mag. Die Funktionsweise des Sozialen scheint mit dem moralisch Vorzuziehenden schon identisch, was bei Georg Simmel, der noch an der Nahtstelle von Philosophie und Soziologie arbeitet, zur Aufaddierung aller friedlichen und konfliktreichen Interaktionen zum vereinigenden Ganzen der „Vergesellschaftung“ führt. Diese Synonymität gilt es nach den Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts, die nicht auf religiöse, sondern auf biologisch und ideologische und mithin auf soziologisch informierte Programme, zurückgehen, wieder aufzulösen.
Gertrud Brücher
Backmatter
Metadaten
Titel
Gewaltspiralen
verfasst von
Gertrud Brücher
Copyright-Jahr
2011
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-531-93380-1
Print ISBN
978-3-531-18251-3
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-531-93380-1