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2023 | Buch

Handbuch Polizeipsychologie

Wissenschaftliche Perspektiven und praktische Anwendungen

herausgegeben von: Mario S. Staller, Benjamin Zaiser, Swen Koerner

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Über dieses Buch

Dieses Buch bietet einen umfassenden Überblick über die Themen der Polizeipsychologie. Die wissenschaftliche und die praktische Perspektive bilden dabei den Kern des Werkes. Damit beansprucht das Handbuch das Standardwerk über und für die Polizeipsychologie zu sein. Es richtet sich an praktizierende Psycholog*innen, Polizist*innen und Wissenschaftler*innen und schafft einen praxisnahen und fundierten Zugang zur Polizeipsychologie. Das Buch gibt Psycholog*innen und Polizeipraktiker*innen Anhaltspunkte zur Ausgestaltung der polizeipsychologischen Arbeit sowie zur evidenz-basierten Nutzung polizeipsychologischer Wissensbestände im Berufsalltag.
Das Handbuch ist in sechs Teile gegliedert1. Polizeipsychologie im Überblick – historisch und in der Sache2. Menschen im Kontext der polizeilichen Organisation aus dem Blick der Polizeipsychologie3. Psychologie im polizeilichen Gefährdungsmanagement4. Polizeipsychologie im Zusammenhang mit Einsatz, Leistung und mentaler Gesundheit5. Polizeipsychologie im Gegenstandsbereich polizeilicher Vernehmungen und Aussagen6. Wichtige polizeipsychologische Einzelperspektiven im aktuellen gesellschaftlichen Kontext
Jedes Kapitel startet mit einem Abstract und endet mit Ableitungen, Hinweisen und Handlungsempfehlungen am Ende und eignet sich damit auch für die schnelle Lektüre.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter

Über Polizeipsychologie

Frontmatter
Polizei und Psychologie: Die Geschichte einer komplizierten Beziehung

Die wissenschaftliche Psychologie hat in vielfältiger Weise die Arbeit der modernen Polizeien beeinflusst. Trotzdem ist das Verhältnis zwischen der Psychologie als Wissenschaft und der polizeilichen Praxis keineswegs einfach, wie der nachfolgende Beitrag aufzeigen wird. Ausgehend von einer Begriffsbestimmung der Polizeipsychologie wird ein Überblick über wichtige Meilensteine und Entwicklungsschritte bei der Anwendung wissenschaftlicher psychologischer Erkenntnisse in der Polizei gegeben. Die Darstellung zur Geschichte der Polizeipsychologie erfolgt entlang von vier zeitlichen Phasen mit dem Fokus auf Deutschland und den USA. Darauf aufbauend lassen sich verschiedene Voraussetzungen identifizieren, die für den Theorie-Praxis-Transfer bisher bestanden haben. Diese gilt es zu reflektieren und Implikationen sowie entsprechende Handlungsempfehlungen abzuleiten.

Johann Pixner, Silvia Oßwald-Messner, Karoline Ellrich
Reflexive psychologische Polizeiforschung

Die Polizeipsychologie* produziert Wisssen. Als forschungsorientiertes Handlungsfeld folgt die Polizeipsychologie weitgehend originären Ansprüchen der Wissenschaft: Die polizeipsychologische Wissensproduktion orientiert sich dabei am Ideal methodischer Kontrolle. Der vorliegende Artikel knüpft am Wissenschaftsvertsändnis internationaler und nationaler psychologischer Polizeiforschung an. In ihm plädieren wir dafür, der vor allem international domianten Ausrichtung am Paradigma evidenzbasierter Forschung das Konzept wissenschaftlicher Reflexivität an die Seite zu stellen. Während evidenzbasierte Forschung methodisch kontrolliert Aussagen über den Gegenstand ihrer Forschung erzeugt, nimmt eine reflexive Polizeipsychologie die Vorannahmen und Folgen der eigenen Handlungspraxis in den Blick und gewinnt damit weitere Möglichkeiten zur Selbststeuerung. Reflexivität wird zunächt als eine von drei Formen der Selbstbezugs psychologischer Polizeiforschung vorgestellt. Als Mechanismus reflexiver Polizeipsychologie wird sodann Beobachtung der Beobachtung vorgestellt und in seiner Form und Funktion skizziert. In Anknüpfung an bestehende Debatten innerhalb der psychologischen Polizeiforschung zeigen wir schließlich exemplarisch Möglichkeiten und Konsequenzen reflexiver Beobachtung auf.

Swen Koerner, Mario S. Staller, Benjamin Zaiser

Der Mensch in der Organisation

Frontmatter
Persönlichkeitseigenschaften in der Bewerber*innenauswahl bei der Polizei

In der Eignungsauswahl für die Polizei werden zunehmend Persönlichkeitstests angewandt. Insbesondere das Fünf-Faktoren-Persönlichkeitsmodell eignet sich, um Studiums- wie auch Ausbildungserfolg und in Teilen beruflichen Erfolg zu prognostizieren, es hat jedoch auch seine Grenzen in Bezug zur Feststellung der charakterlichen Eignung von Polizist*innen. Anhand einer Bewerber*innenstichprobe im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung werden fünf Persönlichkeitseigenschaften und ihre Facetten beschrieben sowie ihre Bedeutung für die polizeiliche Eignungsauswahl reflektiert. Abschließend werden zukünftige Anwendungsmöglichkeiten und Entwicklungspotentiale für Persönlichkeitstests im Rahmen der polizeilichen Eignungsauswahl sowie der polizeilichen Personalentwicklung abgeleitet.

Alexandra Kibbe, Nicole Bartsch
Das Erscheinungsbild und nonverbale Verhalten von Polizist*innen im Polizeieinsatz

Nonverbales Kommunikationsverhalten ist facettenreich: Es umfasst neben dem statischen und dynamischen Gebrauch des Körpers (Kinesik, einschließlich Mimik, Gestik, Körperhaltung und -bewegung) das räumliche Verhalten und die Wahrnehmung des Raums (Proxemik, einschließlich Nähe- und Distanzregulation, Berührung oder Territorialität) sowie die stimmliche Nuancierung der Sprache (Parasprache, einschließlich der vokalen Qualitäten der Stimme, wie Tonhöhe, Sprechrate, Rhythmus, Lautstärke und Betonung). Gerade für Polizist*innen als Uniformträger*innen spielt in der nonverbalen Kommunikation auch die äußere Erscheinung eine besondere Rolle. Neben der Uniform und den sogenannten Führungs- und Einsatzmitteln (Schlagstock, Pfefferspray, Taser, Pistole sowie Body Cam) wird auch die Wirkung von Tätowierungen, Körperschmuck sowie Bart- und Haartracht auf das Gegenüber untersucht. Der nonverbale Ausdruck sowohl von Polizist*innen als auch von Bürger*innen formt jeweils einen (ersten) Eindruck beim Gegenüber. Dieser sowie die kognitive Verarbeitung (zum Beispiel durch Schemata) können wiederum das Verhalten und damit die Interaktion von beiden Seiten aus beeinflussen. Dabei stellt sich insbesondere die Frage, ob und inwiefern die äußere Erscheinung von Polizist*innen das Einsatzgeschehen und den Einsatzerfolg polizeilicher Maßnahmen negativ beeinträchtigt oder positiv unterstützt. Im vorliegenden Beitrag besprechen wir die Bedeutung der sozialen Wahrnehmung und Kognition für Polizist*innen im Einsatz und fokussieren dabei auf nonverbales Verhalten und die Wirkung der äußeren Erscheinung von Polizist*innen. Hierbei werden Implikationen für die Entstehung von Aggression und Gewalt auf der einen Seite und Kooperation, Akzeptanz und Vertrauen auf der anderen Seite diskutiert.

Markus M. Thielgen, Stefan Schade
Interaktionsperspektiven: Die Social Dominance Theory und die Social Distance Theory of Power

Mit der Social Dominance Theory (SDT) und der Social Distance Theory of Power (SDTP) stellen wir in diesem Beitrag zwei theoretisch fundierte und empirisch validierte Forschungsansätze vor, die eine hohe Erklärungskraft sowohl für die grundsätzliche Arbeit der Polizei als auch für besondere Problemdiagnosen der Gegenwart bereithalten. In einem ersten Schritt stellen wir beide Theorien in Grundzügen vor. Im Kern sagen SDTP und SDT aus, dass ein übersteuertes Machtgefälle zu sozialer Distanz und Dominanz gegenüber Personen und Gruppen führt, die letztlich in Interaktionen gewaltfördernd wirken können. Im Anschluss beziehen wir SDTP und SDT auf polizeiliche Belange: Beide Ansätze, so unsere These, helfen dabei, den grundsätzlichen Machtbezug der Polizei besser zu verstehen und dessen (Über-)Steuerung in Form und (Dys-)Funktion zu erkennen. Mit dem Hinweis auf die gegenseitige Hervorbringung von individuellem polizeilichem Verhalten und polizeilichem Kontext liefern SDT und SDTP zudem konkrete Ansatzpunkte für weitere psychologische Forschungen, die komplexitätsangemessen u. a. so drängende Aspekte wie Polizeigewalt oder Extremismus in der Polizei betreffen.

Swen Koerner, Mario S. Staller, Benjamin Zaiser
Fortbildung nach Maß? Ein empirisch abgeleitetes und modular aufgebautes Schulungskonzept für den polizeilichen Umgang mit psychisch erkrankten Menschen

Eine Befragung an 2228 Polizistys lieferte Daten, wie Polizeieinsätze mit psychisch erkrankten Menschen im Berufsalltag aus Sicht der Beamtys erlebt werden. Mehr als die Hälfte der befragten Polizistys sehen eine potenzielle Chance für die Verbesserung im polizeilichen Umgang mit psychisch erkrankten Menschen u. a. darin, die berufsbezogene Fortbildungslandschaft auszubauen. Die erhobenen Daten wurden herangezogen, um ein Schulungskonzept zu entwickeln, welches u. a. berücksichtigt, welche Kontakthäufigkeiten zu verschiedenen psychischen Krankheitsbildern sowie welche beruflichen Herausforderungen den Polizeialltag prägen. Im modularen Aufbau des Fortbildungskonzepts wurden die statistisch signifikanten Fachgruppenunterschiede zwischen der Schutz- und Kriminalpolizei berücksichtigt, sodass spezialisierte Module fachgruppenspezifisch vorgestellt werden. Die Durchführung von Rollenspielen, die Einbindung trialogischer Formate sowie die Vorstellung von (lokalen) Netzwerkpartnerys sind als generelle Bestandteile vorgesehen. Optimales polizeiliches Wissen und Training kann neben den Belastungen und Gefahren auf Seiten der Polizistys auch die Auswirkungen z. B. potenzieller Stigmatisierungseffekte gegenüber psychisch Erkrankten reduzieren.

Katharina Lorey
Polizeiliche Gefahren- und Kampfnarrative: (Dys-)Funktionen in der Perspektive der Terror-Management-Theorie

Innerhalb der Polizei existieren reflexionswürdige organisationskulturelle Wissensbestände, die über zwei miteinander verbundene Narrative transportiert werden. Das polizeiliche Gefahrennarrativ beschreibt eine immerwährende und ansteigende Gefahr für Polizistys, wohingegen das Kampfnarrativ polizeiliche Arbeit primär als Kampf gegen das Böse konzeptualisiert. Unter der Perspektive der Terror- Management-Theorie sind beide Narrative geeignet, die Gedanken an die eigene individuelle Sterblichkeit zu aktualisieren und verschiedene Abwehrmechanismen zu fördern. Die Abwehrmechanismen produzieren wiederum gesellschaftlich dysfunktionale Verhaltensweisen von Polizistys, die individuell als funktional betrachtet werden können.

Mario S. Staller, Swen Koerner, Benjamin Zaiser
Reflexion in der Polizei – organisatorische und methodische Rahmenbedingungen

Reflexion als die Fähigkeit des Menschen, Bedingungen und Wirkungen eigenen Denkens und Handelns bewusst zu hinterfragen und zu verstehen, soll Polizist*innen dabei unterstützen, besonders herausfordernde, komplexe, eventuell belastende, überraschende oder als unüblich empfundene Einsätze zu verarbeiten und die Professionalität für das zukünftige Handeln zu sichern. Zu diesem Zweck ist an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen (HSPV NRW) das Modul „Berufsrollenreflexion“ entwickelt und im Jahr 2012 im Studiengang Polizei eingeführt worden. Die Vermittlung von Reflexionskompetenz wird in diesem Beitrag am Beispiel des Studiengangs der Polizei in Nordrhein-Westfalen dargestellt. Für Hochschulen sind solche begleitenden Reflexionsformate oftmals eine Herausforderung, da Reflexionsprozesse spezifische Rahmen- und Lernbedingungen erfordern, die nicht immer leicht in die Studienabläufe zu integrieren sind. Organisatorische sowie methodische Möglichkeiten der Umsetzung werden vorgestellt und bewertet. Diese regelmäßige Reflexion endet bislang mit dem Studium. Supervisionsangebote für Polizist*innen sind berufsbegleitend bislang nur als Pull-Angebote verfügbar und nicht regelmäßig und systematisch vorgesehen. Die Bedeutung und praktische Möglichkeiten der Verlängerung einer regelmäßigen Berufsreflexion über das Studium hinaus und der Einrichtung berufsbegleitender Supervision wird perspektivisch diskutiert.

Malte Schophaus
Veränderbarkeit von Kommunikationsmustern bei Polizeistudierenden durch Theorie, systemische Kurzintervention und Praxis

Eine situativ angemessene und wertschätzende Kommunikation bildet das entscheidende polizeiliche Einsatzmittel, um die Durchsetzung polizeilicher Aufgaben zu gewährleisten und zugleich Konflikte und Gewalteskalation im polizeilichen Alltag zu verhindern. Anhand aktueller empirisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse untersucht der vorliegende Beitrag Möglichkeiten und Gestaltung polizeilicher Kurzinterventionstrainings im Zusammenhang mit der Reflexion und Veränderung von Kommunikationsmustern im Zusammenhang mit der Ausprägung persönlichkeitsrelevanter Eigenschaften wie Selbstwirksamkeit, beruflichem Selbstbild und Vertrauen bei Studierenden der Polizei. Daraus werden konkrete Handlungsempfehlungen für Polizei und Wissenschaft abgeleitet.

Nicole Bartsch, Alexandra Kibbe
Führung als Schutzschild: Wie Führungskräfte spezialisierter Polizeieinheiten innere Belastbarkeit und mentale Stabilität fördern

Kritische Einsatzsituationen stellen hohe Ansprüche an die mentale Belastbarkeit von Polizist*innen. Da die dortige Belastungsintensität (Verhinderung mobiler Lagen mit ggf. letalem Waffeneinsatz, hohe Gefährdung, schreiende Menschen, «Übersteigen» von Toten, Triage, Notfallmedizin etc.) über das gewöhnliche Maß des Einzeldienstes hinausgeht, können insbesondere lebensbedrohliche Einsatzlagen (LebEL) die moralische, mentale und soziale Stabilität von Einsatzkräften gefährden sowie deren Handlungssicherheit beeinträchtigen (Zihn, 2022). Der erste Teil dieses Beitrages verdeutlicht daher, welche Risiken vor allem durch mentale Beanspruchung drohen und welche Folgen diese nach sich ziehen. Im zweiten Teil zeigt eine salutogenetische (gesundheitsorientierte) Sichtweise Ressourcen sowie Copingstrategien auf, die innerer Gefährdung präventiv vorbeugen, und es werden Faktoren diskutiert, die Einsatzkräften auch unter anspruchsvollen und widrigen Bedingungen gesundes Arbeiten ermöglichen. Betrachtet werden vornehmlich Teams polizeilicher Spezialkräfte und Spezialeinheiten, da diese mit erhöhten Belastungen sowie Risiken konfrontiert sind und dadurch Schutzstrategien dort besonders greifbar werden. Besonderer Fokus liegt auf Verhaltensweisen von Führungskräften, die dabei helfen, mentale Belastbarkeit von Mitarbeiter*innen durch eine Stärkung der gesundheitsförderlichen Schutzkonzepte Resilienz, Kohärenz und Hardiness zu fördern. Zum Gesamtbild tragen Inhalte des Internaltrainings der Bundespolizei sowie Erkenntnisse aus Hochleistungsteams anderer Branchen bei, bevor der Beitrag mit Optimierungsempfehlungen endet.

Tamara Jäger, Niko Kohls

Gefährdungsmanagement

Frontmatter
Vor die Lage kommen – Anforderungen an die Fortentwicklung der Gefährdungsbewertung im Kontext des polizeilichen Bedrohungsmanagements

Anschläge und Amoktaten stehen als schwere zielgerichtete Gewalt besonders im Fokus der Öffentlichkeit. Sie verdeutlichen die Aktualität und Wichtigkeit evidenzbasierter und – aufgrund ihrer vielfältigen Hintergründe – phänomenübergreifender polizeilicher Gefährdungsbewertungen. Der vorliegende Beitrag beantwortet die Frage, welche Anforderungen aus polizeipsychologischer Sicht an die Fortentwicklung einer polizeilichen Gefährdungsbewertung bestehen, die in ein polizeiliches Bedrohungsmanagement eingebettet ist. Es werden Elemente dargestellt, die zum Gelingen einer solchen Gefährdungsbewertung bzw. -einschätzung im Rahmen des polizeilichen Bedrohungsmanagements beitragen.

Lena Deller-Wessels
Polizeiliche Rückfallprävention bei Sexualstraftätern – Entwicklung und Implementierung von Methoden zur Gefährlichkeitseinschätzung und Ableitung geeigneter Interventionsmaßnahmen für die Zentralstelle S.P.R.E.E. des LKA Berlin

Die Verhinderung von Sexualdelikten ist aufgrund deren schädlicher Auswirkungen von großer gesellschaftlicher Bedeutung. Der vorliegende Artikel widmet sich wissenschaftlich begründeten Ansätzen zur Einschätzung der Rückfallgefahr und geeigneter polizeilicher Präventionsmaßnahmen bei haftentlassenen Sexualstraftätern im Kontext speziell hierfür geschaffener polizeilicher Konzepte/Dienststellen, welche mittlerweile bundesweit in den Länderpolizeien existieren. In Berlin heißt die entsprechende Dienststelle „Zentralstelle SPREE“ (Sexualstraftäter Prävention (bei) Rückfallgefahr (durch) Eingriffsmaßnahmen und Ermittlungen). Bisherige Forschungserkenntnisse zeigen deutlich auf, dass effiziente und angemessene Präventionsmaßnahmen bei Straftätern entsprechend dem Ausgangsrisiko für einen Rückfall zu dosieren sind und entgegen einem „One-Size-Fits-All-Ansatz“ zielgerichtet auf die individuellen Risikobereiche und persönlichen Charakteristika des betroffenen Straftäters zugeschnitten sein sollten. Auf dieser Grundlage wird ein Risikoklassifikationssystem vorgestellt, welches aus einem Kooperationsprojekt zwischen dem Landeskriminalamt Berlin und dem Institut für Forensische Psychiatrie der Charité Berlin hervorging. Dieses System dient der Einschätzung des statistischen Ausgangsrisikos erneuter Sexualdelikte und soll das Verständnis der inneren Handlungslogik bei der Tatbegehung früherer Sexualdelikte befördern. Gleichzeitig ergibt sich für die zuständigen polizeilichen Fallbearbeiter*innen* dadurch lediglich der Ausgangspunkt für eine weiterführende gesamtheitliche und individuelle Beurteilung der Gefährlichkeit eines Sexualstraftäters und der Ableitung von sinnvollen Präventionsstrategien. Es wird beleuchtet, inwiefern fallbezogene Supervisionen unter Beteiligung der Dienststellenmitarbeiter*innen und eines Psychologen einen wichtigen Baustein der Qualitätssicherung darstellen. Abschließend wird ein aktuelles Forschungsvorhaben zur Evaluation des Klassifikationssystems vorgestellt und mögliche zukünftige Entwicklungen diskutiert.

Jürgen Biedermann, Sabine Misch
Psychiatrische Einstufung und Behandlung von Personen im Rahmen von Strafverfolgungsmaßnahmen

Internationale Statistiken zeigen, dass die Mehrheit der Straftäter unter einer oder mehreren psychischen Störungen leidet. Psychische Störungen werden somit ungewollt zu einem Teil der Polizeiarbeit. In diesem Kapitel wird der Zusammenhang zwischen den mit Aggression verbundenen psychischen Störungen und der Gewaltdelinquenz untersucht. Gewalttäter lassen sich grob in drei Typen von Tätern einteilen, die sich erheblich voneinander unterscheiden: proaktive, reaktive und psychotische Täter. In diesem Kapitel geben wir einen Überblick über die psychiatrischen Störungen, die mit diesen Typologien in Verbindung gebracht werden, über die grundlegenden Merkmale der Straftat, die psychologischen Aspekte, den biologischen Hintergrund und die Langzeitprognose. Ferner bewerten wir auf dieser Grundlage die Merkmale der kriminellen Karrieren von Straftätern, die zu den einzelnen Straftypen gehören. Am Ende des Kapitels werden die Bedingungen, Möglichkeiten und Formen der praktischen Anwendung der psychiatrischen – und insbesondere der kriminalpsychiatrischen – Theorie diskutiert. Zusammenfassend besteht das Ziel dieses Kapitels darin, Polizeibeamten nach einer notwendigen und ausreichenden Darstellung des theoretischen Hintergrunds praktisches Wissen zu vermitteln, das das Risiko verringert, dass sie selbst oder Verdächtige unangemessenen Schaden erleiden, und die Erfolgswahrscheinlichkeit des Vorgehens dadurch erhöhen kann.

József Haller, István Farkas

Einsatz, Leistung und mentale Gesundheit

Frontmatter
Bausteine und Architektur von polizeilichen Handlungen für Einsatz und Training: Die Verknüpfung von Emotion, Kognition und Motorik unter psychologischem Druck und Stress

Polizeieinsätze erfordern stets ganzheitliches Handeln von den (schutzpolizeilichen) Einsatzkräften. Unter verschieden ausgeprägten Stressbedingungen von harmloser Routine bis Lebensgefahr gilt es, emotionale, kognitive und motorische Prozesse innerpsychisch so zu integrieren, dass polizeiliche Einsatzziele möglichst ohne physische und psychische Nachteile aller Beteiligten erreicht werden können. Aufbauend auf ein Modell zur Architektur von Handlungen (Schack, 2004a, b) schlagen Tenenbaum et al. (2009) in ihrem „emotional–cognitive–motor–linkage“-Modell einen integrativen Ansatz zur Untersuchung von mentalen und motorischen Prozessen unter emotional herausfordernden Bedingungen vor. In diesem Beitrag stellen wir zunächst das Modell sowie kursorisch die empirischen Befunde zu seinen Komponenten vor und diskutieren anschließend dessen Anwendbarkeit auf die Bewältigung von Polizeieinsätzen sowie Implikationen für das Polizeitraining.

Stefan Schade, Thomas Schack
Stress im Polizeiberuf und seine Auswirkungen auf Verhalten und Gesundheit

Polizeikräfte sind in ihrem Berufsalltag mit einer Vielzahl an potenziellen Stressauslösern, wie zum Beispiel kritischen Einsätzen im Dienst, dem Schichtdienstsystem oder zeitaufwendigen bürokratischen Vorgaben, konfrontiert. Dadurch steigt das Risiko für eine Abnahme der Lebenszufriedenheit und stressbedingte Erkrankungen. Grundsätzlich herrschen in der Belastbarkeit und Stressvulnerabilität große inter- und intraindividuelle Unterschiede vor. Das Kapitel gibt Antworten darauf, durch welche Faktoren die individuelle Stressvulnerabilität im Polizeidienst beeinflusst wird. Ausgehend von der Klärung zentraler Fachbegriffe der Stressforschung werden die Transaktionale Stresstheorie und das Modell der allostatischen Last vorgestellt. Hierbei werden gängige Bewertungsprozesse von Polizeikräften sowie deren Möglichkeiten zur Stressbewältigung umrissen. Im Anschluss werden Stressreaktionen genauer thematisiert. Dabei wird ein besonderes Augenmerk auf den Bereich des Verhaltens unter Stress im Dienst sowie möglicher Mechanismen zur Aufrechterhaltung der polizeilichen Leistung unter Stress gelegt. Abschließend liefert der Beitrag einen Ausblick auf gegenwärtige und zukünftige Themen der Stressforschung im polizeilichen Einsatzkontext. Ausgehend von der Annahme, dass Stress einen dynamischen Prozess darstellt, ermöglicht ein tiefergehendes Verständnis von Stress und seinen Auswirkungen eine bessere Erklärung und Vorhersage von polizeilichem Verhalten im Dienst sowie von langfristigen gesundheitlichen Entwicklungen und Risiken des Polizeiberufs. Daraus lassen sich Interventionsmaßnahmen für Polizist*innen zum besseren Umgang mit Stress (vgl. auch Kapitel von Gutschmidt & Monecke in diesem Buch) ableiten, wie sie bereits in anderen gesellschaftlichen Bereichen, z. B. im Leistungssport, gesundheitserhaltend und leistungssteigernd eingesetzt werden.

Marie Ottilie Frenkel, Friederike Uhlenbrock
Stress und Stresserkrankungen im Polizeiberuf

Der Polizeiberuf gilt als eine sehr erfüllende, aber auch besonders belastende Tätigkeit. Er weist einige Besonderheiten wie potenziell traumatische Erlebnisse, Schichtdienst, bürokratische Hürden, den Zugang zu Schusswaffen und eine spezifische Organisationskultur auf. Das Kapitel soll a) einen Überblick darüber geben, welche Rolle Stress im Speziellen für die Polizei spielt, b) beleuchten, unter welchen Bedingungen es vermehrt zu Stresserkrankungen kommt, und c) Ansatzpunkte aufzeigen, wie den Herausforderungen begegnet und die Gesundheit gefördert werden kann. Zu diesem Zweck wird zunächst die relevante Forschung anhand eines Rahmenmodells zu Stress und Gesundheit im Polizeiberuf vorgestellt. Es stützt sich sowohl auf psychologische Theorien (z. B. biopsychosozialer Ansatz) als auch auf zahlreiche (inter-)nationale Studien aus dem Polizeibereich. Auf dieser Basis werden schließlich einige praktische Handlungsempfehlungen abgeleitet. Sie richten sich an Wissenschaftler*innen (wir entgendern im vorliegenden Beitrag mit dem Gendersternchen), Polizist*innen (z. B. individuelle Stressbewältigung, Umgang mit Kolleg*innen), Entscheidungsträger*innen (z. B. regelmäßige Durchführung von Einsatznachbereitungen, Perspektiv- und Fürsorgegespräche mit Mitarbeiter*innen) und an diejenigen, die für die Implementierung und Umsetzung polizeipsychologischer Maßnahmen (z. B. teamorientierte, niedrigschwellige Angebote wie Resilienz-Trainings oder Supervision) verantwortlich sind.

Daniela Gutschmidt, Lisa Monecke
High Performance Under Pressure

Hochleistungsteams agieren in unterschiedlichsten Settings und sind mit komplexen Ansprüchen und Belastungssituationen konfrontiert. Als große Gemeinsamkeit verbindet sie die Notwendigkeit und Fähigkeit, unter maximaler Stressbelastung – resultierend aus akuter oder permanenter, direkter oder indirekter Gefährdung des Lebens der eigenen Person und/oder anderer Beteiligter – mentale Stabilität zu bewahren und Höchstleistung zur Erreichung des Auftragsziels zu erbringen. Ausschlaggebend dabei ist, dass Teamleader unter derartigen Druckbedingungen in der Lage sind, ihre eigene Leistungsfähigkeit aufrecht zu halten, um Mitarbeiter*innen mentale Sicherheit vermitteln und sie bestmöglich führen zu können (siehe Kap. 10 in diesem Band). Der vorliegende Beitrag diskutiert konkret die wissenschaftliche Basis sowie Wirkung und Funktionsweise einiger klassischer Stressbewältigungskonstrukte. Darüber hinaus bündelt er taugliche Handlungsweisen, die Führungskräfte aus Hochleistungsteams der Polizei, Notfallmedizin/Luftrettung sowie Luftfahrt anwenden und als praktisch sowie hilfreich empfinden, um ihre individuelle « performance under pressure » bestmöglich zu gewährleisten und so zur resilienten Teamführung beizutragen. Durch den branchenübergreifenden Einblick in erprobte Selbstführungs- und Selbstregulations- und Mentalstrategien von « Kolleg*innenen » anderer Branchen können polizeiliche Führungskräfte inspiriert, ermutigt und befähigt werden, ihr eigenes Verhalten gezielt zu hinterfragen, neue Techniken eigenständig auszuprobieren oder für deren Training Beratung zu ersuchen.

Tamara Jäger, Niko Kohls
Psychologie der Eigensicherung – revisited

Eigensicherung bezieht sich im Kern auf den Selbstschutz von Polizistys. Das zentrale Bezugsproblem von Eigensicherung ist Gewalt. Hierzulande wird polizeiliche Eigensicherung seit über 20 Jahren vor allem als Psychologie der Eigensicherung konzipiert und trainiert. Eigensicherung tritt darin auf als Antwort auf eine von außen auftretende Gefährdung durch Gewalt. Inzwischen häufen sich allerdings gerade psychologische und sozialwissenschaftliche Indizien dafür, dass Eigensicherung in dieser Form paradoxerweise zur Eigengefährdung von Polizistys beitragen könnte. Ausgehend von der bisherigen Konzeption argumentiert der Beitrag für ein sehr grundsätzliches Verständnis: Eigensicherung begründet sich sehr grundsätzlich aus der Auftrags- und Interaktionsstruktur der Tätigkeit von Polizistys – und eben nicht grundsätzlich als Reaktion auf externe Gewalt gegen Polizistys. Aus diesem Grund umfasst polizeiliche Eigensicherung grundsätzlich ein sehr breites Verhaltensspektrum – und eben nicht nur eine in Wachsamkeit und Reaktionsbereitschaft aufgehende Survivability im Angesicht externer Gefahren. Für das Training von Eigensicherung resultiert daraus eine sehr grundsätzliche Neuorientierung.

Swen Koerner, Mario S. Staller, Benjamin Zaiser
Psychologische Grundlagen des Urteilens und Entscheidens im Bürgerkontakt

In diesem Kapitel besprechen wir die zentralen Punkte des Urteilens und Entscheidens im polizeilichen Kontext. In einem ersten Schritt führen wir in die psychologischen Grundsätze naturalistischer Entscheidungsprozesse ein. Dann besprechen wir kognitive Verzerrungen und logische Fehlschlüsse, für die naturalistische Entscheidungsprozesse besonders anfällig sind und die Polizeivollzugsbeamt*innen* und Bürger erhöhten Risiken aussetzen. Wir beschränken unsere Auswahl auf solche kognitiven Verzerrungen, die sich durch ihre übergeordnete Wirkungsweise als besonders effektive Ansatzpunkte eignen, durch trainierbareund einfach anwendbare Interventionsstrategien nachgelagerten Denkfehlern vorzubeugen. Schließlich stellen wir einfach t Interventionsstrategien vor, um diesen kognitiven Verzerrungen und logischen Fehlschlüssen vorzubeugen.

Benjamin Zaiser, Mario S. Staller, Swen Koerner
Kognitive Verzerrungen: Ein Problemaufriss zum polizeilichen Interaktionsverhalten

Kognitive Verzerrungen (KV) sind im polizeilichen Interaktionsverhalten ein Problem und stellen die Polizei vor große Herausforderungen. Diese Herausforderungen ergeben sich aus der Art der KV, ihren Quellen und Fehlannahmen, die Polizistys in ihrem Denken über sie fehlleiten. Auf der Grundlage eines Rahmenmodells, das KV und Fehlannahmen über ihre Zuschreibungsroutinen zueinander in Beziehung setzt, argumentieren wir, dass diese Fehlannahmen Bemühungen zur Abschwächung von KV im Kontext polizeilichen Interaktionsverhaltens untergraben. Basierend auf einem systemischen Verständnis von KV und ihren schädlichen Auswirkungen kommen wir zu dem Schluss, dass die Implementierung reflexiver Strukturen innerhalb der Polizei eine notwendige Voraussetzung dafür ist, externe Einflüsse effektiv zu reflektieren und die Entfaltung von KV und entsprechenden Fehlannahmen in einer selbstreferentiellen Schleife zu verhindern.

Mario S. Staller, Benjamin Zaiser, Swen Koerner
Deeskalation: Polizeipsychologische Grundlagen

Die Gesellschaft erwartet von ihrer Polizei stets die Maßnahmen, die die geringsten Grundrechtseingriffe zur Zielerreichung mit sich bringen. Daraus ergibt sich für die Polizei der ethische Imperativ zur Deeskalation. Eine effektive Deeskalation erfordert von Polizeivollzugsbeamt*innen eine grundsätzliche Kenntnis von Konfliktdynamik sowie der kommunikativen Wirk- bzw. Interaktionsebenen der Deeskalation. Präsenz, Körpersprache, verbale und paralinguale Kommunikation wirken dabei auf dynamische und komplexe Art und Weise, die für Kommunizierende nicht immer berechenbar ist. Das Potential mangelnder Abgestimmtheit dieser Interaktionsebenen, der Kommunizierenden untereinander wie auch mit der den Kontext gebenden Situation stellt Polizeivollzugsbeamt*innen dabei vor eine zentrale Herausforderung: Ohne kongruente und stimmige Kommunikation können sie nicht effektiv deeskalieren. Insbesondere das Erreichen stimmiger Kommunikation verlangt von Polizeivollzugsbeamt*innen eine der Deeskalation zuträgliche, innere Einstellung, die sich an einem entsprechenden Werteverständnis orientiert. Nur wenn sie dies erreichen, erlauben die im Training vermittelbaren Strategien, Taktiken und Techniken, die der Gesellschaft geschuldete Deeskalation effektiv in Einsatz zu bringen.

Benjamin Zaiser, Mario S. Staller, Swen Koerner
Deeskalation in Alltagseinsätzen

Polizeiliches Handeln ist tagtäglich mit Konflikten oder sogar Gewalt verbunden. Polizeibeamt*innen geraten dabei alltäglich in Konfliktsituationen mit Bürger*innen. Professionelles polizeiliches Handeln versucht in solchen Situationen zu deeskalieren und Gewalt nur dann einzusetzen, wenn es nicht mehr vermeidbar ist. Kommunikation ist dabei das primäre Einsatzmittel. Unter Deeskalation ist jegliches Verhalten (verbale und nonverbale Kommunikation, taktische Maßnahmen etc.) zu verstehen, welches Konflikte nicht in Richtung einer Gewaltsteigerung (Austragen des Konflikts mit Gewalt) anfeuert, sondern diese Entwicklung stagnieren lässt oder umkehrt. Damit sind alle Maßnahmen eingeschlossen, die dies erreichen (können). Für polizeiliche Alltagseinsätze existieren etliche Techniken bzw. Strategien zur Deeskalation, welche in diesem Beitrag beschrieben werden. Diese Deeskalationsmöglichkeiten wie auch Trainings zum Erlernen und Üben von Deeskalation sind jedoch bisher nur wenig empirisch fundiert. Evaluationsergebnisse dazu werden im Beitrag dargestellt. Neben der Kenntnis entsprechender Maßnahmen erscheinen weitere Faktoren bedeutsam, dass Deeskalation stattfindet und wirksam ist.

Clemens Lorei, Kerstin Kocab
Unmittelbare taktische Kommunikation als Interventionsmaßnahme der deutschen Polizei in herausragenden lebensbedrohlichen Einsatzlagen

Kommunikation ist ein wirkungsvolles Mittel zur Bewältigung besonderer Krisensituationen auch und vor allem für die Polizei. Im vorliegenden Artikel wird die Entwicklung der Kommunikationsstrategien der Polizei von Anfang der 70er Jahre bis heute – insbesondere bei herausragenden lebensbedrohlichen Einsätzen wie Geiselnahmen, Entführungen, herausragenden Erpressungen, Amok-Lagen und Terroranschlägen – in den Blick genommen und mit Erkenntnissen aus den Sozial- und Kommunikationswissenschaften sowie polizeitaktischen Lösungsstrategien abgeglichen. Dabei zeigen empirische Erkenntnisse aus zurückliegenden Einsätzen, dass Täter bei der Tatbegehung häufig mit der Polizei kommunizieren wollen und eine schnelle Kontaktaufnahme und zielgerichtete taktische Kommunikation der Polizei mit der Täterseite, als Ergänzung anderer, häufig robuster Zugriffsstrategien, Leben retten können. Diese innerhalb der Verhandlungsgruppen der Polizei als „Greenlight-Konzept“ bekannte kommunikative Intervention und ihre Auswirkungen auf polizeiliche Organisationsstrukturen und Entscheidungsprozesse in Deutschland sollen in diesem Artikel daher besonders betrachtet und die damit verbundenen taktischen Chancen diskutiert werden.

Franziska Friebel, Michael Paulus
Psychologische Grundsätze für Verhandlungsgruppen

Dieses Kapitel stellt die psychologischen Grundsätze vor, die die Mitglieder polizeilicher Verhandlungsgruppen in die Lage versetzen, ihren Dienst auf Grundlage wissenschaftlicher Evidenz bestmöglich zu verrichten. Diese werden hier in logischer Abfolge von vier Schritten dargestellt. Zuerst zeigt ein Überblick von Lage- und Tätertypisierung als Einsatzlagen bestimmende Faktoren auf, wie diese den strategischen und taktischen Ansatz der Verhandlungsgruppen in der Gesprächsführung bestimmen. Die Besprechung der Häufigkeitsverteilung der von Verhandlungsgruppen angetroffenen Lage- und Tätertypen ermöglicht dann einen Einblick in den Einsatzalltag, der die Relevanz einzelner Strategien und Taktiken entsprechend begründet. Auf Grundlage der Kenntnis dieses Einsatzalltages werden schließlich die relevanten Einsatzmodelle besprochen und eine Möglichkeit ihrer Integration für eine effektive Gesprächsführung vorgestellt. Aus diesem Ansatz leiten sich schließlich Schlüsselkompetenzen für Auswahl, Aus- und Fortbildung polizeilicher Verhandler*innen und organisatorische Implikationen ab.

Benjamin Zaiser, Mario S. Staller, Swen Koerner
Partizipatives Konfliktlösungsverständnis: Kooperative Planung und Konfliktbearbeitung durch Partizipation und Kommunikation

Konflikte gehören zum Berufsalltag von Polizist*innen. Die polizeiliche Einsatzpraxis zeigt: Rechtliche Befugnisse, Mittel und deeskalative Einsatzmodelle sind allein nicht ausreichend, um das Einsatzgeschehen rund um konfliktbehaftete Protestlagen potenziell friedfertiger voranzubringen. Eine effektive Konfliktaustragung kann auf Dauer nur gelingen, wenn die wahrgenommene Distanz zwischen Polizist*innen und bürgerlichen Protestgruppen bzw. polizeilichen Maßnahmenbetroffenen abnimmt. Ein zentraler Zusammenhang besteht zwischen Konfliktpotenzial und polizeilicher Kommunikation, dem sich die Frage nach der Beteiligung unmittelbar anschließt. Dahinter steht die Erkenntnis, dass partizipative Verfahren immer auch vertrauensbildende Kommunikationsprozesse sind, die vor dem Hintergrund deeskalierende Bewältigungsstrategien und Konfliktlösungsdiskurse anbieten können. Der Autor sieht im reformbedürftigen Kooperationsgespräch für polizeiliche Protestlagen die Möglichkeit, durch strukturelle Veränderungen im Kommunikationsverständnis das Kommunikationsangebot zu optimieren. Nicht ob im polizeilichen Planungsprozess kommuniziert wird, steht zur Diskussion, sondern wie: Wer wird einbezogen, wie ist die Erreichbarkeit, was wird auf welche Weise und unter verschiedenen Gesichtspunkten berücksichtigt und erörtert, welche Belange, Interessen und konfliktbehaftete Themen werden zur Sprache gebracht? Insgesamt betrachtet können dialogorientierte Kommunikationsformen die Vorbereitung und Umsetzung von polizeilichen Maßnahmen verbessern und eine kooperative und vertrauensvolle Zusammenarbeit von Polizei und Zivilgesellschaft ermöglichen.

Jan-Philipp Küppers
Zur Besonderheit von Polizeieinsätzen mit Menschen mit psychischen Erkrankungen

Für Polizeikräfte gehen Einsätze, die Menschen mit psychischen Erkrankungen involvieren, mit besonderen Herausforderungen einher. Zunächst werden ausgewählte psychische Erkrankungsbilder anschaulich und praxisnah dargestellt, die für die Polizeipraxis von besonders hoher Relevanz sind. Dies umfasst die Diagnosen Schizophrenie, Substanzabhängigkeit, Depression, Manie sowie die Borderline-Persönlichkeitsstörung. Insbesondere werden die jeweiligen Kernsymptome, die daraus resultierenden Einsatzanlässe sowie mögliche Eigen- und Fremdgefährdungsaspekte aufgezeigt. Im zweiten Teil des vorliegenden Beitrags werden diese Besonderheiten in Hinblick auf die Häufigkeit, die Zunahme und Anlässe dieser Einsätze dargestellt. Obwohl bislang wenig über die Häufigkeit von Polizeieinsätzen mit Menschen mit psychischen Erkrankungen bekannt ist, weisen die bisherigen Ergebnisse darauf hin, dass diese Einsätze regelmäßig in der alltäglichen Polizeiarbeit auftreten. Zudem wird ein Überblick zum subjektiven Erleben der Einsatzkräfte sowie der Menschen mit psychischen Erkrankungen gegeben, um ein besseres Verständnis für die gegenseitige Wahrnehmung und Beurteilung zu ermöglichen. Studienergebnisse zeigen, dass Polizeikräfte Menschen mit psychischen Erkrankungen als gefährlich wahrnehmen, was sich wiederum über das Vorliegen entsprechender Stereotype erklären lässt. Jedoch ist weniger darüber bekannt, wie Menschen mit psychischen Erkrankungen Einsatzkräfte wahrnehmen. Erste Ergebnisse zeigen hier, dass der Kontakt mit der Polizei als zufriedenstellend erlebt wird, aber dennoch der Wunsch nach mehr Empathie und Geduld in der Interaktion besteht. Neben den allgemeinen Empfehlungen einer empathischen, respektvollen und geduldigen Grundhaltung werden spezielle Handlungsempfehlungen für die polizeiliche Praxis abgeleitet.

Linus Wittmann, Lena Posch
Psychologie des polizeilichen Schusswaffengebrauchs

Der polizeiliche Schusswaffengebrauch stellt die zwar seltenste, aber wahrscheinlich gravierendste polizeiliche Maßnahme dar. Der Beitrag skizziert einleitend den Forschungsrahmen in diesem Gebiet. Anschließend wird ein Lagebild des polizeilichen Schusswaffengebrauchs in Deutschland und Europa gezeichnet. Auf dieser Basis aufbauend werden einige grundlegende wissenschaftliche Erkenntnisse beschrieben, die vor dem Schießen (Aus- und Fortbildung), währenddessen (Entscheiden, Erleben und Treffen) und danach (Folgen für Schütz*in und Beschossene*n) von besonderer Bedeutung erscheinen. Abschließend wird ein Überblick über den Forschungsstand hinsichtlich unterschiedlicher Probleme im Zusammenhang mit dem polizeilichen Schusswaffengebrauch geboten.

Clemens Lorei, Kristina Balaneskovic
Professionelle Begleitung und Betreuung nach Schusswaffengebrauch – Leitfaden

Auch wenn Polizeibeamte sowohl in der Ausbildung als auch während ihrer polizeilichen Tätigkeit auf den Gebrauch von Schusswaffen vorbereitet werden, benutzen die allermeisten ihre Waffe nur am Schießstand. Der tatsächliche Einsatz von Schusswaffen aufgrund außergewöhnlicher Umstände kann auf sie daher als einschneidendes Erlebnis wirken, das sinnvollerweise mit einem Betreuungskonzept begleitet wird. Das vorliegende Konzept, das sich an den allgemeinen Handlungsempfehlungen für Krisensituationen orientiert, liefert einen Leitfaden, wie professionelle Betreuung nach Schusswaffengebrauch organisiert werden kann. Der Leitfaden richtet sich dabei in erster Linie an polizeiliche Führungskräfte, die mit der Vorbereitung und Durchführung von Betreuungsmaßnahmen nach einem Schusswaffengebrauch betraut sind. Leitfäden zu dieser Thematik existieren bereits. (Straf-)Rechtliche sowie moralisch-ethische Belastungsfaktoren, die nach dem Einsatz von Schusswaffen auftreten, wurden bis dato jedoch nur in geringem Maß berücksichtigt. Da diese Aspekte für die professionelle Betreuung Betroffener eine bedeutende Rolle spielen, werden diese im folgenden Leitfaden integriert und näher beleuchtet.

Walter Buggisch, Carina Stabauer
Psychosoziale Notfallversorgung für Einsatzkräfte (PSNV-E) bei der Polizei

Im vorliegenden Beitrag wird das Thema der psychosozialen Notfallversorgung bei der Polizei beleuchtet. Nach einem kurzen Abriss über Belastungen im Polizeiberuf wird der Begriff PSNV erläutert und die Entwicklung der psychosozialen Notfallversorgung in Deutschland überblicksartig nachgezeichnet. Da der Schwerpunkt des Beitrages auf der psychosozialen Versorgung polizeilicher Einsatzkräfte (PSNV-E) liegt, wird das sog. Konsensuspapier der Polizeien des Bundes und der Länder zu den Standards in der psychosozialen Notfallversorgung polizeilicher Einsatzkräfte vorgestellt. Aufbauend darauf wird reflektiert, welche Fragestellungen geklärt und welche Hürden überwunden werden müssen, um ein PSNV-E-Konzept implementieren zu können. Abschließend werden Studien vorgestellt, die sich mit der Wirksamkeit der Einsatznachsorge beschäftigen.

Silvia Oßwald-Messner, Johann Pixner, Karoline Ellrich
Proaktive Nachfrage: Zeitnahe Kontaktaufnahme durch den polizeipsychologischen Dienst mit Einsatzkräften nach potentiell belastenden Ereignissen

Der Psychologische Dienst der Kantonspolizei Bern (Schweiz) führt seit 2014 die Proaktive Nachfrage (PAN) durch. Dabei wird täglich durch eine Person des Psychologischen Dienstes das Einsatzjournal (Verzeichnis aller geleisteten Einsätze) gescannt und die Ereignisse nach dem Ausmaß ihrer Belastung eingeschätzt. Wird ein Ereignis als besonders belastend taxiert, wird mit den betroffenen Einsatzkräften Kontakt aufgenommen. Im Kontakt steht der salutogenetische Grundgedanke im Vordergrund und es wird das Befinden der Mitarbeitenden erfragt, Informationen bezüglich Stressreaktionen gegeben sowie die weitere Unterstützung eruiert und gegebenenfalls initiiert. In diesem Beitrag werden Forschungsergebnisse der Wirkung sekundärpräventiver Interventionen diskutiert. Trotz der eher dünnen Forschungslage sprechen die Ergebnisse für eine Weiterführung der PAN. Dies wird gestützt durch die größtenteils positiven Rückmeldungen der betroffenen Mitarbeitenden in zwei internen Evaluationen. Herausforderungen im Vorgehen der PAN sind die Problematik der Einschätzung der Belastung der Einsatzkräfte lediglich aufgrund von Einträgen im Einsatzjournal, die tatsächlich wahrgenommene individuelle Belastung, sowie die in verschiedenen Studien festgestellte Skepsis von Polizistinnen und Polizisten, (Im vorliegenden Text wird mittels Beidnennung gegendert.) Hilfe in Anspruch zu nehmen. Als weiterführende Überlegungen werden die Weiterbildung und der verstärkte Einbezug von Vorgesetzten bei der Betreuung der Mitarbeitenden, die Schulung von Einsatzkräften, die Kontaktaufnahme ohne Indikatoren und die mögliche Einbindung von Angehörigen diskutiert.

Katharina Gäumann
Protest Policing, Massenunglücke, Pandemie und Fußball: Vom Umgang mit Menschenmengen

Der Umgang mit größeren Menschengruppen gehört zu den Standardaufgaben der Polizei. Ausgerichtet an Wissensbeständen aktueller sozialpsychologischer (und soziologischer) Forschung argumentiert der Beitrag für einen evidenzbasierten und reflexiven Forschungszugang. Ausgehend von Konzepten zum Verhalten von Menschengruppen, die auf einer klassischen crowd psychology beruhen, stellen wir den Ansatz der sozialen Identitäten (ASI) vor. Aus dem ASI leiten wir konkrete Ansatzpunkte für wirkungsvolle Strategien und Taktiken zum Protest Policing ab und übertragen diese auf die verwandten Bereiche des Desaster Managements, des Umgangs mit Fußballspielen sowie des Pandemie Managements.

Mario S. Staller, Swen Koerner, Benjamin Zaiser

Aussagen und Vernehmungen

Frontmatter
Psychologische Grundlagen der Erinnerung und Vernehmung

Grundvoraussetzung für jede Informationsweitergabe von Menschen ist die vorangegangene, korrekte Speicherung und der anschließende Abruf von Informationen. Menschen sollen also in der Lage sein, gewisse Sachverhalte, die später relevant sein können, wahrzunehmen. Diese müssen anschließend gespeichert werden. Bei Bedarf sollen diese dann realitätsgetreu abgerufen und letztlich zur Verfügung gestellt werden können. Bei diesen komplexen Vorgängen können Fehler passieren. Beispielsweise werden wesentliche Details von Ereignissen vergessen oder aber – und das ist oftmals noch erstaunlicher und beunruhigender – es werden neue Einzelheiten hinzugefügt oder erfunden. Dabei müssen sich die Personen nicht unbedingt der Tatsache bewusst sein, dass die Details nicht der Realität entsprechen. Spezielle Befragungstechniken können dafür sorgen, dass man sich an Einzelheiten besser erinnert, und vergessen Geglaubtes wiedergegeben werden kann. Unzulängliche Vernehmungsmethoden hingegen führen mit hoher Wahrscheinlichkeit zu falschen Erinnerungen. So können etwa suggestive Fragestellungen das Erinnerungsvermögen manipulieren. Es liegt auf der Hand, dass solche Techniken zu gefährlichen und auch falschen Schlüssen führen können, zum Beispiel der Inhaftierung von unschuldigen Personen. Die Kenntnis über die komplexen Zusammenhänge beim Memorieren und Erinnern sowie der zielführenden Vernehmungsmethoden und -techniken ist für erfahrenes Vernehmungspersonal unerlässlich. Mindestens ebenso wichtig ist es, unzulängliche Methoden zu kennen, um diese eben zu vermeiden. Dieses Kapitel fasst die wesentlichen und grundlegenden forensisch-psychologischen Theorien zum Thema Erinnerung zusammen und hebt die relevanten Anwendungsfälle für polizeiliche Vernehmungen hervor. Darüber hinaus werden am Ende auch sechs Grundprinzipien für die Informationsgewinnung vorgestellt, die 2021 von den Vereinten Nationen erarbeitet wurden. Diese, ausschließlich auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhenden Grundprinzipien, sind bei deren Berücksichtigung ein Garant für die Verringerung von Fehlern bei Vernehmungen.

Stefan Rakowsky
Zur Fehleranfälligkeit von Zeug*innenaussagen

Die Vernehmung von Zeug*innen und Beschuldigten gehört zu den wichtigsten und am häufigsten eingesetzten kriminaltechnischen Methoden der Polizei. Die Aussagen von Augenzeug*innen dienen vor Gericht als Beweismittel und die Einschätzung der Glaubwürdigkeit von Zeug*innen obliegt nach § 261 StPO der Entscheidung des Gerichts „nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung“. Insofern kann das Gericht seine Einschätzung einer Zeug*innenaussage als glaubwürdig frei und unabhängig von gesetzlichen Beweisregeln treffen. Unwahre, aber als glaubhaft erachtete Aussagen können dabei folgenschwere Konsequenzen nach sich ziehen – für die Beschuldigten, aber auch für die Zeug*innen. Derartige Falschaussagen können nicht nur durch absichtliche Verfälschung (Lüge), sondern auch unabsichtlich (z. B. aufgrund von Wahrnehmungs- oder Erinnerungsfehlern) entstehen. In letzterem Fall sind die Befragten typischerweise motiviert, die Wahrheit zu sagen. Sie halten ihre Aussage für zutreffend und glaubwürdig. Die Zeug*innenaussage als Produkt komplexer kognitiver Prozesse ist jedoch permanent potenzieller Beeinflussung von innen und von außen ausgesetzt. Im vorliegenden Beitrag werden wissenschaftliche Erkenntnisse zu ausgewählten wahrnehmungs- und gedächtnispsychologisch relevanten Faktoren präsentiert, welche die Qualität von Zeug*innenaussagen negativ beeinflussen können (im Sinne einer unabsichtlichen Falschaussage). Vor diesem Hintergrund werden evidenzbasiert konkrete Handlungsempfehlungen für die polizeiliche Vernehmungspraxis abgeleitet.

Thimna Klatt, Deborah F. Hellmann
Dokumentation vor Interpretation – Vorteile audiovisueller Aufzeichnungen von Vernehmungen

Ausgehend von der Annahme, dass eine Überprüfung der Glaubhaftigkeit von Aussagen innerhalb einer konkreten Vernehmungssituation durch die polizeilich Ermittelnden nicht immer hinreichend eingeschätzt werden kann, möchte dieser Beitrag die technischen Aufzeichnungsmöglichkeiten stärker in den Fokus rücken. Das Plädoyer für eine vermehrte Durchführung von audiovisuellen Vernehmungen geht einher mit dem Argument, die so gewonnenen authentischen kriminalistischen Protokolle im Anschluss mit einem fallrekonstruktiven Verfahren zu analysieren. Die Methodologie der objektiven Hermeneutik stellt mit der Sequenzanalyse dafür ein Verfahren zur Verfügung, welches in demselben Maße die Objektivität seiner Erkenntnis bzw. Geltungsüberprüfung beanspruchen kann, wie man es von den Naturwissenschaften gewöhnt ist. Zudem ermöglicht die audiovisuelle Dokumentation eine spätere aussagepsychologische Interpretation durch Begutachtende.

Markus Loichen, Alexandra Kibbe
Häufigkeiten, Gründe und Auswirkungen von falschen Geständnissen und Möglichkeiten diesen vorzubeugen

Einzelfälle, Aktenanalysen und Fragebogenuntersuchungen belegen das Vorkommen falscher Geständnisse von Beschuldigten in polizeilichen Vernehmungen in Deutschland. Dies steht im Einklang mit internationalen Forschungsarbeiten. Falsche Geständnisse sind riskant, da Geständnisse im Allgemeinen Ermittlungen, Schuldeinschätzungen und die Interpretation anderer Beweismittel beeinflussen und in Justizirrtümern münden können. Dieses Kapitel behandelt das Vorkommen von falschen Geständnissen und beschreibt anhand einer zweidimensionalen Aufteilung nach Ausgangspunkt (Beschuldigte vs. Vernehmung) und Wiedergabeart (strategisch vs. internalisiert) vier Arten von falschen Geständnissen. Außerdem werden die Folgen falscher Geständnisse aufgezeigt und Handlungsempfehlungen zu deren Reduktion benannt.

Lennart May, Teresa Schneider
Die untersuchende Vernehmung von Zeug*innen und Beschuldigten – ein internationaler forschungsbasierter und praxiserprobter Vernehmungsansatz

Die untersuchende Vernehmung ist ein strukturierter gesprächsorientierter Ansatz, der von Praktiker*innen und Psycholog*innen entwickelt wurde, um umfangreiche zuverlässige und relevante Informationen von Beschuldigten und Zeug*innen zu erhalten. Der Kern der untersuchenden Vernehmung besteht aus zwei Prinzipien: 1) eine ethische Durchführung der Vernehmung und 2) eine ergebnisoffene Denkweise der Vernehmenden. Vier Elemente haben sich bei der Umsetzung dieser Prinzipien als besonders erfolgreich gezeigt. Vernehmende sollten a) eine Vernehmungsstrategie entwickeln und verfolgen, die von einer strukturierten Verwendung von Ermittlungshypothesen und einem systematischen „Ausschlussverfahren“ geleitet wird. Während der Vernehmung sollten sie diese Hypothesen prüfen, indem sie b) einen phasenweisen Ansatz zur Strukturierung der Vernehmung anwenden, c) den Einsatz produktiver Fragen/Aufforderungen maximieren und d) die Vernehmung audio(visuell) aufzeichnen. Dieses Kapitel gibt einen Überblick darüber, was eine untersuchende Vernehmung ist und wie sie sich von eher druckausübenden, suggestiven und riskanten Vernehmungsansätzen unterscheidet.

Lennart May, Ivar Fahsing, Becky Milne
Kindliche Opferzeuginnenbefragung, interdisziplinäre Kooperation und Synergieeffekte im Zusammenhang mit der Verdachtsabklärung bei sexuellem Kindesmissbrauch

Die Anhörung kindlicher Opferzeuginnen in Verdachtsfällen sexuellen Kindesmissbrauchs muss professionell erfolgen, da die Aussage des Kindes häufig das einzige Beweismittel ist. Die Situation von Opferzeuginnen im Strafverfahren wird allerdings von Praktikerinnen als unzureichend bewertet, wobei u. a. die lange Prozessdauer, wiederholte Befragungen, mögliche Suggestionseffekte und eine mögliche Retraumatisierung genannt werden. Die Durchführung einer professionellen Anhörung und eine gute Kooperation zwischen den unterschiedlichen, potenziell involvierten Instanzen bspw. Psychosoziale Prozessbegleitung, Jugendämter, Psychotherapie, Fachberatungsstellen, Staatsanwältinnen, Richterinnen usw. können zur Verbesserung der Situation der Opferzeuginnen beitragen. So kann die Qualität der Erstaussage gesteigert, Retraumatisierungen vermieden und die Belastung von Opferzeuginnen reduziert werden. Dafür benötigen Polizistinnen Wissen über die Durchführung einer professionellen Anhörung sowie einen Einblick in die Kompetenzbereiche und Aufgaben der potenziell involvierten Instanzen. In diesem Beitrag sollen Handlungsempfehlungen für die Kooperation und Wissen über die professionelle Durchführung von Anhörungen mit Fokus auf die für Deutschland geltenden Vorgaben zusammengetragen werden.

Justine Eilfgang, Dietrich Pülschen, Simone Pülschen
Polizeilicher Umgang mit Betroffenen von sexueller Gewalt

Obwohl sexuelle Gewaltviktimisierungen in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen sind, verbleiben derartige Taten immer noch überwiegend im Dunkelfeld. Neben den primären Viktimisierungsfolgen besteht für Betroffene von sexueller Gewalt ein besonders hohes Risiko der sekundären Viktimisierung. Dieses Risiko besteht einerseits im privaten Umfeld. Andererseits stellt der Umgang mit Betroffenen von sexueller Gewalt im professionellen Kontext, wie beispielsweise bei der Vernehmung durch die Polizei, einen relevanten Risikofaktor für die sekundäre Viktimisierung dar. Aus wissenschaftlicher Perspektive trägt unter anderem die Akzeptanz von Vergewaltigungs- und Belästigungsmythen nicht nur zu der geringen Anzeigebereitschaft sexueller Gewalttaten bei, sondern auch zu einem erhöhten sekundären Viktimisierungsrisiko. Da derartige Mythen in allen Bevölkerungsschichten und unterschiedlichsten Berufsgruppen verbreitet sind, erfordert der Umgang mit Betroffenen von sexueller Gewalt ein besonderes Maß an Professionalität und Expertise. Entsprechend entwickeln wir im Rahmen des vorliegenden Kapitels evidenzbasiert konkrete Handlungsempfehlungen für den polizeilichen Umgang mit Betroffenen von sexueller Gewalt.

Deborah F. Hellmann, Lena Posch

Weitere Themen

Frontmatter
Angewandte Verkehrspsychologie und ihr Beitrag zur polizeilichen Verkehrssicherheitsarbeit

Dieser Beitrag bietet einen Überblick zur Verkehrspsychologie und zu ihren zentralen Themen. Die Verkehrspsychologie beschäftigt sich mit dem Verhalten und Erleben von Menschen im Verkehrs- und Transportwesen, welches sich aus verschiedenen psychologischen Perspektiven untersuchen lässt. Dabei verfolgt die Verkehrspsychologie neben grundlegenden und allgemeinen Betrachtungen als angewandte Disziplin auch das Ziel, einen Beitrag für mehr Sicherheit im Straßenverkehr zu leisten. Veranschaulicht wird dies am Beispiel, wie sich die Wirkung polizeilicher Verkehrsüberwachung überprüfen lässt und welche Ansatzpunkte sich auf empirischer Basis zur Optimierung polizeilicher Kontrolltätigkeit ableiten lassen. In Bezug auf die Verkehrssicherheit und polizeiliche Präventionsarbeit werden zudem spezifische Gruppen in den Blick genommen, die ein erhöhtes Unfallrisiko aufweisen.

Christian Zimmermann
Kulturvergleichende und Interkulturelle Psychologie

Kulturelles Verständnis gewinnt zunehmend an Bedeutung für die polizeiliche Einsatzpraxis. Damit einhergehende Kompetenzen werden sowohl im Studium als auch in der Fortbildung ausgebildet und trainiert. Die stetige Weiterentwicklung des Verständnisses rund um die Themen kultureller Diversität macht es notwendig, auch dafür entwickelte Lehrinhalte und Konzepte zu aktualisieren und dem aktuellen Wissen anzupassen. In diesem Beitrag wird die Relevanz kulturellen Wissens und kulturell (mit-)bedingten Handelns aufgezeigt, welches sich als unabdingbar für eine gelingende Polizeiarbeit in einer Migrationsgesellschaft darstellt. Nachdem grundlegende Begriffe, Paradigmen und Modelle erläutert werden, wird die aktuelle Entwicklung vom interkulturellen zum transkulturellen Denkmodell erörtert. Abschließend werden Ableitungen aus den dargestellten wissenschaftlichen Erkenntnissen für die polizeiliche Arbeit vorgenommen und Empfehlungen für die inter- bzw. transkulturelle Kompetenz im polizeilichen Alltag und die inter- bzw. transkulturelle Öffnung der Polizei gegeben.

Alexander Steinhäuser, Wahiba El-Khechen, Ulrich Walbrühl
Herausforderungen aufgrund erodierender geteilter Realität: Die Psychologie der Verschwörungsmentalität

Verschwörungsglauben und damit zusammenhängende problematische Verhaltensweisen haben in den vergangenen Jahren ein qualitativ neues Ausmaß an Aufmerksamkeit erfahren. Das vorliegende Kapitel erläutert, inwiefern das Phänomen dennoch nicht neu ist und inwiefern Menschen sich relativ stabil in ihrer Zustimmung zu einer großen Reihe an Verschwörungstheorien unterscheiden. Auf Basis sozialwissenschaftlicher Grundlagenforschung wird charakterisiert, was eine solche verschwörungstheoretische Weltsicht, eine ausgeprägte Verschwörungsmentalität, ausmacht und inwiefern – auch strafrechtlich – problematische Verhaltensweisen damit assoziiert sind. Abschließend werden Möglichkeit und Ideen zu Interventionen auf verschiedenen Ebenen diskutiert.

Roland Imhoff
Metadaten
Titel
Handbuch Polizeipsychologie
herausgegeben von
Mario S. Staller
Benjamin Zaiser
Swen Koerner
Copyright-Jahr
2023
Electronic ISBN
978-3-658-40118-4
Print ISBN
978-3-658-40117-7
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-40118-4

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