Skip to main content

2005 | Buch | 3. Auflage

Sozialpolitik in Deutschland

Historische Entwicklung und internationaler Vergleich

verfasst von: Manfred G. Schmidt

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

Buchreihe : Grundwissen Politik

insite
SUCHEN

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter

Vorwort

Vorwort
Zusammenfassung
Vier Ziele werden mit diesem Buch angestrebt. Es soll die Leser mit den Grund-zügen der Sozialpolitik in Deutschland — vom Deutschen Reich von 1871 bis zur Bundesrepublik Deutschland im frühen 21. Jahrhundert — vertraut machen. Sodann will es lehren, Deutschlands Sozialpolitik aus dem Blickwinkel des internationalen Vergleichs zu betrachten, zu beschreiben und zu erklären. Hierfür wird die deutsche Sozialpolitik der Politik der sozialen Sicherung anderer Länder gegenübergestellt. Zum Vergleich herangezogen werden vor allem die Demokratien in Westeuropa, Nordamerika, Japan, Australien und Neuseeland, aber auch die ehemaligen sozialistischen Staaten und ausgewählte Länder aus der so genannten Dritten Welt. Ferner soll das Buch über die Wirkungen der Sozialpolitik auf das wirtschaftliche, soziale und politische Gefüge informieren und die Leser über Für und Wider der Sozialpolitik unterrichten. Das gibt Materialien zur Debatte um die Probleme des Sozialstaats, dessen Reformbedarf und dessen Leistungen zur Hand. Schlussendlich ist der vorliegende Band als Einführung in die politikwissenschaftliche Erkundung der Sozialpolitik und zugleich als problemorientierte Hinführung zur international vergleichenden Untersuchung von Staatstätigkeiten gedacht.
Manfred G. Schmidt

Einleitung

Einleitung
Zusammenfassung
Sozialpolitik zielt vor allem auf Schutz vor Not, auf Sicherung gegen die Wechselfälle des Lebens und — im fortgeschrittenen Stadium — darauf, soziale Ungleichheit einzudämmen. Dieser Schutz, die Sicherungsfunktion und das Streben nach mehr Gleichheit zeichnen mittlerweile alle wirtschaftlich entwickelten westlichen Länder aus, wenngleich in unterschiedlicher Intensität und Reichweite sowie in unterschiedlichen Formen. Mit dem Auf- und Ausbau der Sozialpolitik wurde ein zuvor noch nie erreichtes Maß an sozialer Sicherheit für den Großteil der Bevölkerung geschaffen. Wer hierin einen Vorgang epochaler Bedeutung sieht, irrt nicht. Dieser Vorgang vollzog sich weitgehend als ‚stille Revolution ‘und ist hauptsächlich auf das 20. und das frühe 21. Jahrhundert zu datieren. Seine Wurzeln reichen allerdings bis ins 19. Jahrhundert. Am Ende dieser Entwicklung steht ein ausgebauter „Sozialstaat“, so die in Deutschland verbreitete Begrifflichkeit, oder der „Wohlfahrtsstaat“, so die im englischsprachigen Ausland und in der akademischen Diskussion übliche Bezeichnung2.
Manfred G. Schmidt

Sozialpolitik in Deutschland — vom Deutschen Reich von 1871 bis zur Bundesrepublik Deutschland im frühen 21. Jahrhundert

Frontmatter
1.1. Von der Sozialpolitik für Wenige zur sozialen Sicherung der Vielen: Die Sozialgesetzgebung im Deutschen Reich von 1881 bis 1918
Zusammenfassung
Deutschland ist ein Pionier staatlicher Sozialpolitik. In den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts entstanden dort die weltweit ersten großen Sozialversicherungssysteme: 1883 die Krankenversicherung, ein Jahr später die Unfallversicherung und 1889 die Alters- und Invalidenversicherung. Der Marsch in den Sozialstaat begann auf einem niedrigeren Niveau wirtschaftlicher Entwicklung als in Belgien, England, den Niederlanden und den USA21 und im Rahmen einer Staatsverfassung, in der das autokratische Element das demokratische überwog22. Das ist bemerkenswert und verlangt nach Erklärung. Diese wird aufgrund des politischen Standpunkts der Architekten und Ingenieure der Sozialpolitik im Deutschen Reich von 1871 verkompliziert: es waren nicht Revolutionäre, sondern konservative Politiker, die mit der Politik der sozialen Sicherung „Daseinsvorsorge und Gefahrenabwehr“23 betrieben und Dämme gegen gesellschaftliche und politische Folgeprobleme der Industrialisierung und Urbanisierung Deutschlands errichten wollten.
Manfred G. Schmidt
1.2. Sozialpolitik in der Weimarer Republik: Auf-, Aus-und Rückbau
Zusammenfassung
Der Machtressourcentheorie zufolge erhält die Politik der sozialen Sicherung besonders kräftigen Antrieb von politisch starken sozialstaatsfreundlichen Parteien und Regierungen159. Folgt man ihr, bestanden in Deutschland nach dem Ende des Ersten Weltkrieges günstigere Bedingungen für den Ausbau der Sozialpolitik als je zuvor. Von der Monarchie hatte die Weimarer Republik einen ansehnlichen Bestand administrativer, rechtlicher und politischer Ressourcen geerbt, der sich für sozialpolitische Zwecke nutzen ließ. Zu ihm gehörten die Sozialversicherungen und der durch die Sozialpolitik gestärkte korporatistische Staatsinterventionismus sowie die „militärische Sozialpolitik“160 der Kriegsjahre, die für Solidarität der notgeplagten Bevölkerung sorgen und den Arbeitskräften sowie den Soldaten ein Höchstmaß an Leistungsbereitschaft abgewinnen sollte161. Hinzu kam das größere Gewicht, das die Gewerkschaften und die Linksparteien — allen voran die Mehrheitssozialdemokratie, ferner die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) und später die Kommunistische Partei (KPD) — in die Waagschale werfen konnten. Überdies war die Sozialdemokratie, die im Unterschied zur Bismarck-Zeit nunmehr die staatliche Sozialpolitik befürwortete, nicht mehr nur Oppositionspartei, sondern in den Jahren 1919/20, 1921/22, 1923 und von 1928 bis März 1930 Regierungspartei, zunächst in der so genannten Weimarer Koalition mit dem Zentrum und der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) und von 1928 bis 1930 in Koalition mit dem Zentrum, der Bayerischen Volkspartei, der Deutschen Volkspartei und der DDP. Ferner hatte die Sozialpolitik bei nichtsozialistischen Parteien mehr Anklang gewonnen. Vor allem das Zentrum ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Trotz seiner „Interessensegmentierung, insbesondere zwischen den bürgerlichen und mittelständischen Gruppen einerseits und dem Arbeitnehmerflügel andererseits“162, rückte das Zentrum in die Position einer sozialstaatsfreundlichen Partei163. Es stellte mit Heinrich Brauns in den Jahren von 1920 bis 1928 sogar den für die Sozialpolitik zuständigen Reichsarbeitsminister, der — wie Außenminister Gustav Stresemann von der Deutschen Volkspartei — bis 1928 „die personelle Kontinuität in den wechselnden bürgerlichen Kabinetten verkörperte.
Manfred G. Schmidt
1.3. Sozialpolitik im nationalsozialistischen Deutschland
Zusammenfassung
1933 gelangte die Nationalsozialistische Arbeiterpartei Deutschlands mit Adolf Hitler an der Spitze an die Macht. Das war der Auftakt zur „braunen Revolution“,218, die die Weimarer Republik zum Staat des Nationalsozialismus, dem NS-Staat, umformte. Die Verfassungsurkunde dieser Transformation ist die Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28.2.1933. Sie flankierte verfassungspolitisch den Weg zunächst in den „Doppelstaat“220, den das Nebeneinander von „Normen-“ und „Maßnahmenstaat“221 kennzeichnete, und während den Jahren des Krieges in den sich weiter radikalisierenden, im Zeichen der „Verabsolutierung des Kampfes“222 und der Vernichtung stehenden ‚Bewegungsstaat‘.
Manfred G. Schmidt
1.4. Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland
Zusammenfassung
Zwölf Jahre hielt sich das nationalsozialistische Regime. Im Mai 1945 brach es unter der militärischen Übermacht der Alliierten zusammen. Auf die Schrecken des Krieges folgten die „Jahre der Not“310 nach Kriegsende. Die Statistiken zeigen hiervon nur ein dürres und dennoch aufschlussreiches Bild. Gemessen am Sozialprodukt beispielsweise hatte Deutschlands Wirtschaft niemals eine schlimmere Krise als die von 1945 und 1946 erlebt: um 26 Prozent schrumpfte das Sozialprodukt 1945 und um weitere 51 Prozent im folgenden Jahr311. Die durch den Krieg schon schwer beeinträchtigte Ernährungslage hatte sich für weite Kreise der Bevölkerung katastrophal verschlechtert. Hinzu kam die Wohnungsnot: rund 20 Prozent aller Wohnungen waren zerstört, weitere fünf Prozent waren schwer beschädigt. An Grundversorgung mit Kleidung und Hausrat herrschte vielfach Mangel. Unterernährung und Wohnraummangel ließen vor allem in den Städten Krankheiten aller Art ausbrechen. Das Gesellschaftsgefüge Deutschlands war durch den von der NS-Diktatur bewirkten „Zivilisationsbruch“312, durch Krieg, Kriegsfolgen, Besatzungsherrschaft und die materielle Not nach 1945 in den Grundfesten erschüttert worden. Das Deutschland dieser Zeit kam schier einer „Zusammenbruchsgesellschaft“313 gleich.
Manfred G. Schmidt
1.5. Sozialpolitik der Deutschen Demokratischen Republik
Zusammenfassung
Deutschland hat im 20. Jahrhundert mehr Regimewechsel erlebt als andere westliche Industrieländer. Zu diesen Transformationen gehören der Übergang von der NS-Diktatur zur Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) am 7.10.1949. Mit der DDR entstand unter dem Schirm der Sowjetunion ein sozialistisches Regime mit totalitären Zügen, die insbesondere in der nachstalinistischen Phase von Strukturen eines straff organisierten, repressiven Staates mit bereichsspezifischem konsultativem Autoritarismus überlagert wurden. Parteipolitisch basierte die DDR formell auf einem Blockparteiensystem, faktisch war sie der „SED-Staat“513, eine von der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands geprägte zentralisierte Diktatur. Zu den Eigenheiten der DDR zählten ein — auch im Vergleich mit sozialistischen Nachbarstaaten — geringes Maß an Pluralismus und die hochgradige Parteipolitisierung von Gesellschaft und Staat. Die sozialökonomische Grundlage des SED-Staates bestand aus dem zwangsverordneten Übergang von der Privatwirtschaft zur zentralverwalteten, auf staatlichem oder produktionsgenossenschaftlichem Eigentum ruhenden Wirtschaft.
Manfred G. Schmidt
1.6. Struktur, Trends und Determinanten der Sozialpolitik in Deutschland von 1883 bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts
Zusammenfassung
Die staatliche Sozialpolitik in Deutschland ist mehr als 120 Jahre alt. Sie hat unterschiedliche politische Regime erlebt, das Wilhelminische Kaiserreich als „Machtstaat vor der Demokratie“586, die Weimarer Republik, das Präsidialsystem der Jahre 1930–33, den Staat des Nationalsozialismus, die „Jahre der Besatzung“587, die Bundesrepublik Deutschland der Jahre von 1949 bis 1990, den Sozialismus der Deutschen Demokratischen Republik und die seit dem 3. Oktober 1990 wiedervereinigte Bundesrepublik. Aus den kargen Sozialversicherungen des Deutschen Reiches der 1880er Jahre entstand allmählich, vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ein umfassender Sozialstaat. Dem Typ nach ist Deutschlands Sozialstaat ein zwischen dem „konservativen“ und dem „sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatsregime“ positionierter zentristischer Wohlfahrtsstaat588.
Manfred G. Schmidt

Historisch und international vergleichende Analysen

Frontmatter
Einleitung
Zusammenfassung
Der erste Teil dieses Buches handelte von der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland von den 1880er Jahren bis zum frühen 21. Jahrhundert. Sein zweiter Teil beleuchtet die Politik der sozialen Sicherung aus der Perspektive des internationalen Vergleichs. Der Vergleich erstreckt sich hauptsächlich auf die Länder, die heutzutage wirtschaftlich reiche und verfassungsstaatlich organisierte Demokratien sind. Ergänzt wird dieser Vergleich durch die Gegenüberstellung der Sozialpolitik in reichen und armen Demokratien und in Autokratien. Fünf Themen werden dabei vorrangig erörtert.
Manfred G. Schmidt
2.1. Die Entstehung staatlicher Sozialpolitik im internationalen Vergleich
Zusammenfassung
Wann und unter welchen Bedingungen wurden die Systeme der sozialen Sicherung in den westlichen Ländern eingeführt? Wodurch sind die Unterschiede der Einführungstermine, vor allem die Differenz zwischen Pioniernationen und Nachzüglern der Sozialpolitik, zu erklären? Gibt es Zusammenhänge zwischen dem Einführungstermin und dem Stand der wirtschaftlichen Entwicklung oder der Art der Staatsverfassung? Inwieweit ist die frühe Einführung der Sozialpolitik in Deutschland ein Sonderfall, inwieweit Teil eines allgemeinen Vorgangs der Modernisierung? Dies sind die Leitfragen des vorliegenden Kapitels.
Manfred G. Schmidt
2.2. Die Expansion der sozialen Sicherung im 20. Jahrhundert
Zusammenfassung
Die Geschichte der Sozialpolitik war lange die Geschichte einer Expansion720. Allerdings gab es auch Phasen der Stagnation und des Rückschritts. Ferner stieß die Expansion der Sozialpolitik an obere Grenzen, wie vor allem die 80er und 90er Jahre des 20. Jahrhunderts zeigen, teils an Sättigungs-, teils an Finanzierungsgrenzen721. Zudem variierten Reichweite, Quantität und Qualität der Expansion der Sozialpolitik von Land zu Land. Von den Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Expansion der Sozialpolitik seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert handelt dieses Kapitel. Welches sind die Gründe der Gemeinsamkeiten und der Differenzen der von Land zu Land unterschiedlichen Entwicklungstempi? Inwieweit sind diese den Unterschieden der wirtschaftlichen Entwicklung, des politischen Regimes und der parteipolitischen Zusammensetzung der Regierungen zuzuschreiben? Diese Fragen werden im vorliegenden Kapitel anhand der relativen Größe des Kreises der Sozialversicherten beantwortet. Gemessen wird dieser Kreis durch den Anteil der Sozialversicherten an den Erwerbspersonen, und zwar auf der Grundlage des durchschnittlichen Prozentsatzes der in der Unfall-, Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung erfassten Erwerbsbevölkerung722.
Manfred G. Schmidt
2.3. Sozialausgaben im internationalen Vergleich: Vom „kurzen Traum immerwährender Prosperität“ bis zum ausgehenden 20. Jahrhundert
Zusammenfassung
Nach dem sozialversicherten Anteil der Erwerbsbevölkerang zu urteilen, konvergiert die Sozialpolitik der westlichen Länder. Andere Messlatten zeigen allerdings nicht Konvergenz an, sondern Konstanz oder Divergenz. Ein Beispiel ist die Sozi-alleistungsquote745, der Anteil der öffentlichen Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt. Zwar stieg diese Quote in allen westlichen Ländern vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts höher als je zuvor, doch verringerte dies die Unterschiede zwischen den Industrieländern nicht nennenswert. Vielmehr wuchs der Abstand zwischen den Staaten mit der jeweils höchsten und der niedrigsten Sozialleistungsquote. Im Jahre 1950 betrug diese Spannweite in den demokratischen Industrieländern den Berechnungen der ILO zufolge 11,3 Prozentpunkte: die höchste Sozialleistungsquote verzeichnete damals die Bundesrepublik Deutschland mit 14,8 Prozent, die niedrigste Japan mit 3,5 Prozent. 46 Jahre später war die Spannweite zwischen dem demokratischen Industriestaat mit der höchsten und der niedrigsten Sozialleistungsquote noch größer: bei 14,1 Prozent lag sie in Japan und bei 34,7 Prozent in Schweden, so die Berechnungen der ILO für das Jahr 1996746. Noch größere Spannweiten ergeben sich, wenn auch die wirtschaftlich weniger weit entwickelten OECD-Mitgliedstaaten berücksichtigt werden, wie die Türkei. Ähnliches zeigen die OECD-Sozialausgaben. Ihnen zufolge betrug der durchschnittliche Anteil der öffentlichen Sozialleistungen am Bruttoinlandsprodukt in den Mitgliedstaaten der OECD im Jahre 2001 21,2 Prozent. Weit überdurchschnittliche Quoten wurden in Dänemark, Schweden, Frankreich und Deutschland erreicht. Unterdurchschnittliche Sozialleistungsquoten charakterisieren demgegenüber unter anderem Japan, die USA, Australien und Irland sowie die wirtschaftlich weniger entwickelten Länder747.
Manfred G. Schmidt
2.4. Typen des Sozialstaats in den wirtschaftlich entwickelten Demokratien
Zusammenfassung
Bis zu diesem Kapitel wurde die Sozialpolitik hauptsächlich anhand von vier Stellgrößen untersucht: der Einführungstermine und der Fortentwicklung der Sozialgesetzgebung, der Größe des versicherten Personenkreises und der Sozialausgaben. In diesem Kapitel kommt die vergleichende Beschreibung und Erklärung institutioneller Merkmale und Typen der Sozialpolitik sowie „wohlfahrtsstaatlicher Regime“812 hinzu.
Manfred G. Schmidt
2.5. Sozialpolitik in westlichen Demokratien, sozialistischen Ländern und Staaten der Dritten Welt
Zusammenfassung
Bis zu diesem Kapitel stand die Sozialpolitik in Deutschland und anderen westlichen Ländern im Zentrum. Diese Staaten sind heutzutage verfassungsstaatliche Demokratien und nach dem Stand wirtschaftlicher Entwicklung reiche Länder. Zweifelsohne begünstigen Demokratie und wirtschaftlicher Reichtum den Auf-und Ausbau der Sozialpolitik, weil alle erwachsenen Bürger, auch die Ärmeren und ökonomisch Schwächeren, im Unterschied zu nichtdemokratischen Staatsverfassungen politisch ein gewichtiges Wort mitzureden haben, und weil ein hoher Stand wirtschaftlicher Entwicklung nicht nur Bedarf an sozialer Sicherung hervorruft, sondern auch Mittel zur Bedarfsdeckung bereitstellt.
Manfred G. Schmidt
2.6. Inter- und supranationale Sozialpolitik
Zusammenfassung
Bis zu diesem Kapitel wurde die Sozialpolitik vorrangig aus dem Blickwinkel des Nationalstaates betrachtet. Das geschah aus gutem Grund. Der allergrößte Teil der sozialen Sicherung fiel bislang in die Zuständigkeit von nationalstaatlichen Institutionen. Die Nationalstaaten aber sind nicht autonom, sondern in inter- und supranationale Beziehungen eingebunden, und zwar in zunehmendem Ausmaß906. In welchem Ausmaß wird die Sozialpolitik mittel- oder unmittelbar von inter- und supranationalen Beziehungen geprägt? Inwieweit besteht in einem Zeitalter, das viele als Ära der Globalisierung deuten, überhaupt noch ein nennenswerter Spielraum für nationalstaatliche Alleingänge in der Sozialpolitik? Ferner: macht es namentlich in Europa angesichts der wachsenden Bedeutung der Europäischen Union (EU) und der zunehmenden europäischen Vergemeinschaftung vieler Politikfelder überhaupt noch Sinn, die Sozialpolitik vorrangig aus nationalstaatlicher Perspektive zu beschreiben und zu erklären, oder ist die Sozialpolitik längst schon vergemeinschaftet und Bestandteil der komplexen politischen Prozesse der EU907?
Manfred G. Schmidt

Politische, soziale und wirtschaftliche Wirkungen der Sozialpolitik

Frontmatter
Einleitung
Zusammenfassung
Was bewirkt die Sozialpolitik? Stabilisiert sie die Politik, die Gesellschaft und die Wirtschaft? Verbessert sie die Lebensbedingungen ihrer Klientel? Oder erzeugt sie mehr Schaden als Nutzen? Löst sie womöglich Probleme um den Preis noch größerer Folgeprobleme, so dass sie am Ende nur noch mit selbst erzeugten Aufgaben beschäftigt ist? Über diese Fragen wird fachwissenschaftlich und politisch ausgiebig gestritten. Zu ihrer Beantwortung soll der dritte Teil des vorliegenden Buches beitragen.
Manfred G. Schmidt
3.1. Wirtschaftliche Wirkungen
Zusammenfassung
Besonders heftig gestritten wird über den wirtschaftlichen Wert und Unwert der Sozialpolitik959. Das ist nicht verwunderlich, geht es doch um einen Verteilungskonflikt mit hohen Einsätzen. Fast 700 Milliarden Euro wurden allein in der Bundesrepublik Deutschland 2003 für Zwecke der sozialen Sicherung ausgegeben. Das entspricht rund 33 Prozent des Sozialproduktes960. Dabei ist Deutschlands Sozial-leistungsquote im internationalen Vergleich noch nicht einmal die höchste.
Manfred G. Schmidt
3.2. Wirkungen der Sozialpolitik auf die Gesellschaft
Zusammenfassung
Über die Wirkungen der Sozialpolitik auf die Wirtschaft wird heftig gestritten. Mehr Übereinstimmung ergibt die Frage, ob die Sozialpolitik ihre ureigenen Aufgaben bewältige. Sie wird von vielen Fachleuten grundsätzlich bejaht. Mit der These, die Sozialpolitik habe die demokratischen Industrieländer „effizienter, stabiler und gerechter“1001 gemacht, trugen die Autoren einer OECD-Studie allerdings zu dick auf. Doch den Trend bestimmten sie richtig: vor allem in Staaten mit ausgebauter sozialer Sicherung hat die Sozialpolitik ihre originären Ziele zu einem Gutteil erreicht1002. Sie hat dort die besonders Verletzlichen, die Schwachen, die sich nicht selbst schützen können, wirksam protegiert1003. Doch leistet sie erheblich mehr als nur dies: Sie schützt vor existentieller materieller Not und sichert den größten Teil oder die Gesamtheit der Bevölkerung gegen individuell nicht zureichend versicherbare Wechselfälle des Lebens, insbesondere gegen Existenzbedrohung infolge von Arbeitslosigkeit, Alter, Krankheit, Invalidität, Pflegebedürftigkeit und Tod des Ernährers.
Manfred G. Schmidt
3.3. Politische Wirkungen des Sozialstaats
Zusammenfassung
Dass die Sozialpolitik die Gesellschaft befriede und stabilisiere, gilt vielen ihrer Befürworter und Gegner als unumstößlicher Glaubenssatz. Ihm hingen auch die Architekten der Sozialpolitik an, beispielsweise der Reichskanzler von Bismarck. Mittlerweile sind allerdings auch die politischen Wirkungen des Sozialstaats strittig geworden. Wertet der eine den Wohlfahrtsstaat als stabilisierenden Daseinsvorsorger von der Wiege bis zur Bahre, sieht der andere ihn als eine aus dem Schlaraffenland stammende Einrichtung, die die Effizienz und die Anpassungselastizität der Gesellschaft beschädige. Erblickt der eine in der Sozialpolitik die beste Kriminalverhütungspolitik, gilt sie dem anderen als die schlechteste Wirtschaftspolitik und als ein Arrangement, das verweichlicht und der Verteidigungsbereitschaft abträglich ist. Entschärfung von Interessenkonflikten und Kanalisierung gefährlicher Klassenkonflikte stufen die einen als besondere Leistung entwickelter Sozialpolitik ein. Andere halten dagegen, die soziale Sicherung könne Konflikte eindämmen, aber auch alte Konflikte schüren und neue hervorbringen. Hohe Sozialabgaben beispielsweise heizten den Verteilungskonflikt zwischen Arbeit und Kapital und zwischen Privatwirtschaft und Steuerstaat an. Überdies erzeugten sie mit der Versorgungsklasse eine komplexere Klassenstruktur, aus der neue politische Konflikte entstünden.
Manfred G. Schmidt
3.4. Bilanz: Von den Kosten und vom Nutzen der Sozialpolitik
Zusammenfassung
Es ist Zeit Bilanz zu ziehen. Welches sind die Kosten der Sozialpolitik, und worin besteht ihr Nutzen? Hierüber wird, die vorangehenden Kapitel zeigen es, heftig gestritten, teils mit guten, teils mit weniger stichhaltigen Argumenten. Kritikern zufolge zeichnen sich Länder mit ausgebautem Wohlfahrtsstaat durch institutionelle Trägheit bei der Anpassung an veränderte Umweltbedingungen aus sowie durch zahlreiche negative Effekte, insbesondere Dämpfung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Dynamik. Fürsprecher des Wohlfahrtsstaates sind anderer Meinung. Ihnen zufolge hat der Wohlfahrtsstaat die Industrieländer stabiler und gerechter, und manche meinen auch effizienter, gemacht. Ein weit ausgebauter Wohlfahrtsstaat leiste vor allem fünferlei: er sichere die individuelle Wohlfahrt, fördere durch Aktivierung seiner Klienten deren Mitwirkung an öffentlichen Angelegenheiten, sorge für Sozialintegration, wirke politisch stabilisierend und habe einen beträchtlichen wirtschaftlichen Wert.
Manfred G. Schmidt
Backmatter
Metadaten
Titel
Sozialpolitik in Deutschland
verfasst von
Manfred G. Schmidt
Copyright-Jahr
2005
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-322-80823-3
Print ISBN
978-3-531-14880-9
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-322-80823-3