Skip to main content

2004 | Buch

Grounded Theory

Zur sozialtheoretischen und epistemologischen Fundierung des Verfahrens der empirisch begründeten Theoriebildung

verfasst von: Jörg Strübing

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

Buchreihe : Qualitative Sozialforschung

insite
SUCHEN

Über dieses Buch

Grounded theory ist in letzten drei Jahrzehnten zu einem der am weitesten ver­ breiteten Verfahren der qualitativ-interpretativen Sozialforschung geworden. Grounded theory hat sich aber auch zu einem der am häufigsten gebrauchten Schlagworte im Zusammenhang mit qualitativer Sozialforschung entwickelt. Reihenweise wird sich in den Methodenteilen qualitativ-empirischer Studien auf dieses Verfahren berufen, als ließen sich damit die höheren Weihen interpre­ tativer Sozialforschung erlangen. Leider beschleicht den Leser und die Leserin beim Studium solcher Forschungsberichte nicht selten der Verdacht, dass man gerade dann gerne nach dem Gütesiegel >grounded theory' greift, wenn man selbst nicht so recht weiß, wie man zu Ergebnissen gekommen und welchem Verfahren man dabei gefolgt ist. Dafür gibt es Gründe, gute und schlechte. Zu den guten zählt, dass grounded theory sich weniger als präskriptives >Verfahren, versteht, dem haargenau zu folgen wäre. Vielmehr ist grounded theory eher gedacht als eine konzeptuell verdichtete, methodologisch begründete und in sich konsistente Sammlung von Vorschlägen, die sich für die Erzeugung gehaltvoller Theorien über sozialwissenschaftliche Gegenstandsbereiche als nützlich erwiesen haben. Zu den schlechten Gründen für die Etikettierung von Studien als grounded theory-basiert zählt das weit verbreitete Missverständnis, die wie auch immer be­ schaffene Verknüpfung von qualitativen Daten mit theoretischen Aussagen oder auch nur die ausschweifende Paraphrase empirischer Daten sei schon durch die Rede von der empirisch begründeten Theoriebildung gedeckt. Das ist natürlich nicht der Fall und von keinem der bei den Begründer der grounded theory so gemeint.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
Einleitung
Zusammenfassung
Grounded theory ist in letzten drei Jahrzehnten zu einem der am weitesten verbreiteten Verfahren der qualitativ-interpretativen Sozialforschung geworden. Grounded theory hat sich aber auch zu einem der am häufigsten gebrauchten Schlagworte im Zusammenhang mit qualitativer Sozialforschung entwickelt. Reihenweise wird sich in den Methodenteilen qualitativ-empirischer Studien auf dieses Verfahren berufen, als ließen sich damit die höheren Weihen interpretativer Sozialforschung erlangen. Leider beschleicht den Leser und die Leserin beim Studium solcher Forschungsberichte nicht selten der Verdacht, dass man gerade dann gerne nach dem Gütesiegel ›grounded theory‹ greift, wenn man selbst nicht so recht weiß, wie man zu Ergebnissen gekommen und welchem Verfahren man dabei gefolgt ist. Dafür gibt es Gründe, gute und schlechte. Zu den guten zählt, dass grounded theory sich weniger als präskriptives ›Verfahren‹ versteht, dem haargenau zu folgen wäre. Vielmehr ist grounded theory eher gedacht als eine konzeptuell verdichtete, methodologisch begründete und in sich konsistente Sammlung von Vorschlägen, die sich für die Erzeugung gehaltvoller Theorien über sozialwissenschaftliche Gegenstandsbereiche als nützlich erwiesen haben.
Jörg Strübing
1. Was ist Grounded Theory?
Zusammenfassung
Der Versuch, den Begriff grounded theory ins Deutsche zu übertragen, hat zu einigen Problemen geführt. Die naheliegende Übersetzung als »begründete Theorie« (so in Gerdes 1978) ist zwar nicht falsch, verfehlt aber das Spezifische: Letztlich sollte jede Theorie in irgend einer Weise ›begründet‹ sein. Korrekt müsste es zumindest ›in empirischen Daten gegründete Theorie‹ heißen — als label aber ist das schwer verdaulich.5 Eine andere Übersetzung versucht es mit »gegenstandsbezogene Theorie« (vgl. Hopf & Weingarten 1979). Doch obwohl zu Recht die Fokussierung auf den empirischen Gegenstand der Forschungsarbeit betont wird, bleibt mit Hildenbrandt (1991) immer noch einzuwenden, dass auch dies — zumindest idealtypisch — für eine jede sozialwissenschaftliche Theorie gelten müsste. Überdies beansprucht die grounded theory gerade über gegenstandsbezogene Theorien hinaus auch Elemente einer formalen oder allgemeinen Sozialtheorie hervorbringen zu können. Auch die Rede von der »Entdeckung« gegenstandsbezogener Theorie, die den Titel der Gründungsschrift von 1967 prägt, ist missverständlich. Zwar betont Strauss, dass was er unter grounded theory versteht, nämlich »eine konzeptuell dichte Theorie (...), die sehr viele Aspekte der untersuchten Phänomene erklärt« (Strauss 1991b: 25), als Ergebnis eines induktiv angelegten Forschungsprozesses entsteht. Doch darf ›entstehen‹ hier nicht mit ›entdecken‹ verwechselt werden: Auch wenn Glaser und Strauss 1967 von »discovery of grounded theory« sprechen: Gemeint ist die Entdeckung des Verfahrens selbst und nicht die der jeweiligen theoretischen Erträge grounded theory-basierten Forschens. In diesem Punkt teilt Strauss (und bis zu einem gewissen Grad auch Glaser) die pragmatistische Vorstellung einer aktivistischen, durch Handeln, d.h. Arbeiten, hervorgebrachten Bedeutung von Objekten (s. Kap. 2).
Jörg Strübing
2. Erkenntnismodell und Wirklichkeitsbegriff im Pragmatismus
Zusammenfassung
Methodologien und Methoden basieren auf erkenntnis-, wissenschafts- und sozialtheoretischen Annahmen, die — mal implizit und mal explizit — die Gestalt der Verfahren ebenso prägen wie sie ihrer Rechtfertigung die argumentative Basis geben. Ein beliebtes Muster in kontroversen Methodendiskussionen besteht im Ignorieren der Unterschiede der konkurrierenden methodischen Positionen in Bezug auf diese Vorannahmen — etwa im Fall der Universalisierung des kritischen Rationalismus (vgl. etwa Schnell et al. 1999). Mitunter machen es die Protagonisten bestimmter Methodologien ihren Kritikern allerdings auch leicht, indem sie ihre Vorannahmen nicht sorgfältig und konsequent genug explizieren oder gar, einem vermeintlichen Konformitätsdruck in den Wissenschaften nachgebend, ihre methodischen Vorschläge vorschnell einem dominierenden wissenschaftstheoretischen Paradigma unterordnen.
Jörg Strübing
3. Theoriebegriff, Vorwissen und das Problem der Induktion
Zusammenfassung
Nicht zufällig taucht der Begriff der Theorie bereits im Etikett »grounded theory« auf: Von Beginn an haben sowohl Glaser als auch Strauss die Formulierung erklärend-verstehender Theorien des erforschten Gegenstandsbereichs zum Ziel des von ihnen verfochtenen Verfahrens erkoren und dazu einen analytischen Prozess zur Voraussetzung erklärt. Von forschungsstrategischen Alternativen wie etwa einer »dichten Beschreibung« (Geertz 1987) setzen sie sich unter Hinweis auf ihren Anspruch an Systematik und konzeptuelle Dichte der angestrebten Forschungsergebnisse ab (Strauss & Corbin 1994: 274). Es geht ihnen nicht einfach — obwohl das schwer genug ist — um eine Beschreibung der untersuchten empirischen Phänomene, wie ›dicht‹ sie auch immer sein mag, sie wollen — ganz im Sinne der Definition Max Webers — aus dem Verstehen erklären können, warum ein sozialer Prozess so verlaufen ist, wie er verlaufen ist, warum eine Beziehungskonstellation so beschaffen ist, wie sie beschaffen ist etc. Es geht ihnen also sehr wesentlich um eine Integration des aus der Analyse eines fraglichen Phänomens neu entwickelten Wissens mit dem bereits verfügbaren Bestand an alltäglichem oder wissenschaftlichem Wissen.
Jörg Strübing
4. Glasers Angriff auf Strauss und Corbin als Ausdruck fundamentaler sozialtheoretischer und erkenntnislogischer Differenzen
Zusammenfassung
Im Jahre 1992 veröffentlichte Barney G. Glaser im Eigenverlag ein kleines Buch mit dem Titel Emergence vs Forcing. Basics of grounded theory analyses. Dieses Buch dokumentiert öffentlich den massiven Bruch, zu dem es 1990, zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung von Basics of qualitative research, zwischen Strauss und Glaser gekommen ist. In der Einleitung zu Emergence vs Forcing geht Glaser sogar so weit, dass er zwei seiner Briefe an Strauss abdruckt, in denen er diesen in rüdem Ton beschuldigt, sich einseitig die Konzeption der gemeinsam entwickelten grounded theory angeeignet und sie zugleich in unzulässiger Weise verfälscht zu haben. Mit Blick auf das Buch von Strauss und Corbin gipfeln Glasers Vorwürfe in einer bemerkenswerten Forderung: »I request that you pull the book (Basics of Qualitative Research). It distorts and misconceives grounded theory, while engaging in a gross neglect of 90% of its important ideas« (Glaser 1992: 2). Für die Einleitung eines wissenschaftlichen Buches ist das fürwahr starker Tobak, und auch was Glaser an anderer Stelle in diesem Buch über Juliet Corbin schreibt, ist schwer nachvollziehbar und entspricht nicht den akademischen Gepflogenheiten.
Jörg Strübing
5. Was ist ›gute‹ Grounded Theory? Konsequenzen einer pragmatistischen Epistemologie für Qualitätssicherung und Gütekriterien
Zusammenfassung
Qualitativ-interpretative Verfahren sind mittlerweile eine feste Größe im Kanon empirischer Methoden der Sozialwissenschaften. Ihre immer häufigere und selbstverständlichere Verwendung in der Sozialforschung sowie ihre Vermittlung in der soziologischen und psychologischen Methodenausbildung werfen Fragen nach Standards und Gütekriterien qualitativer Verfahren auf, die gerade in jüngster Zeit Anlass zu einigen methodologischen Debatten und Diskussionsbeiträgen waren (Reichertz 2000b; Striibing 2002a; Winter 2000; Kincheloe 2001; Kiener & Schanne 2001; Breuer 2000; Hammersley 2001; Huber 2001; Laucken 2002; Lincoln et al. 2001; Seale 2002). Dabei stellt sich die Ausgangslage zumindest in einem Punkt deutlich anders dar als in der nomologisch-deduktiv orientierten, quantifizierenden Sozialforschung: Anders als dort ruhen viele der qualitativen Verfahren auf jeweils voneinander abweichenden Prämissen auf, verwenden also divergierende Legitimation für die Gültigkeit und Angemessenheit Ihrer jeweiligen Verfahrensregelen. Diese betrifft auch die groudned theory.
Jörg Strübing
Fazit und Ausblick
Zusammenfassung
Grounded theory ist, wie ich über die verschiedenen Kapitel dieses Buches dargelegt habe, ein facettenreiches und für die deutsche Methodendiskussion und -praxis in manchen Aspekten gewöhnungsbedürftiges Verfahren. Stark geprägt sowohl von der hier zu Lande weniger verbreiteten erkenntnistheoretischen und sozialphilosophischen Tradition des amerikanischen Pragmatismus, aber auch von einer eher im nordamerikanischen Raum üblichen Pragmatik im Verständnis von Wissenschaft und Forschung (vgl. zu unterschiedlichen Wissenschaftskulturen Galtung 1983) irritiert zunächst die auf den ersten Blick gering erscheinende wissenschaftstheoretisch-methodologische Fundierung des Verfahrens und der Bruch mit einer Reihe liebgewonnener Regelhaftigkeiten des empirischen Forschens (z.B. der prozessualen Trennung von Datengewinnung und Datenanalyse).
Jörg Strübing
Backmatter
Metadaten
Titel
Grounded Theory
verfasst von
Jörg Strübing
Copyright-Jahr
2004
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-322-95015-4
Print ISBN
978-3-8100-3963-7
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-322-95015-4