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2002 | Buch

Sozialpolitik und Sozialstaat: Soziologische Analysen

verfasst von: Franz-Xaver Kaufmann

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

Buchreihe : Sozialpolitik und Sozialstaat

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Über dieses Buch

I. "Und werden Sie nicht zu fett an den Fleischtöpfen der Basler Chemie" ver­ abschiedete mich Professor Emil Küng, der Koreferent meiner Dissertation, als ich im Sommer 1960 die damalige Handels-Hochschule (jetzt Universität) St. Gallen verließ, um eine Stelle in der Personalabteilung der CIBA Aktien­ gesellschaft in Basel (heute "Novartis") anzutreten. Zwischen antiken grie­ chischen Amphoren in der Bel Etage und den vielfältigen Gerüchen der Chemiefabriken verbrachte ich drei auch meine Einstellung zur Soziologie prägende Jahre. Meine Hauptaufgabe bestand in der Organisation von Kursen für das mittlere Management, nach schweizer Art martialisch , Kaderkurse' genannt. Es galt, einschlägige Wissenschaftler von außen und Führungskräfte von innen für die Erarbeitung von Lehreinheiten zu rekrutieren und sie dazu zu bringen, sich auf die Interessen und Lernmotivationen der Kursteilnehmer inhaltlich und kommunikativ einzulassen. Meine erste berufliche Beziehung zu den Sozialwissenschaften war somit die eines außenstehenden Nutzers. Nachdem ich im Mai 1963 eine Stelle an der von Helmut Schelsky ge­ leiteten Sozialforschungsstelle an der Universität Münster angetreten hatte, überbrachte mir nach Jahresende der Postbote 1039 DM in bar vom Finanz­ amt als Lohnsteuerjahresausgleich, eine damals stolze Summe, die in etwa meinem Netto-Monatsgehalt entsprach. Mich wunderte allerdings diese Formlosigkeit, der jede Begründung für die Höhe der Summe fehlte, und so schrieb ich an das Finanzamt und bat um eine schriftliche Begründung. Die Überraschung war groß, als einige Wochen später der Postbote mir zunächst eine zweite Summe überbrachte, bevor ich die entsprechende Auskunft sei­ tens des Finanzamts erhielt.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter

Zur Einführung

Zur Einführung
Zusammenfassung
„Und werden Sie nicht zu fett an den Fleischtöpfen der Basler Chemie“ verabschiedete mich Professor Emil Küng, der Koreferent meiner Dissertation, als ich im Sommer 1960 die damalige Handels-Hochschule (jetzt Universität) St. Gallen verließ, um eine Stelle in der Personalabteilung der CIBA Aktiengesellschaft in Basel (heute „Novartis“) anzutreten. Zwischen antiken griechischen Amphoren in der Bel Etage und den vielfältigen Gerüchen der Chemiefabriken verbrachte ich drei auch meine Einstellung zur Soziologie prägende Jahre. Meine Hauptaufgabe bestand in der Organisation von Kursen für das mittlere Management, nach schweizer Art martialisch ‚Kaderkurse‘ genannt. Es galt, einschlägige Wissenschaftler von außen und Führungskräfte von innen für die Erarbeitung von Lehreinheiten zu rekrutieren und sie dazu zu bringen, sich auf die Interessen und Lernmotivationen der Kursteilnehmer inhaltlich und kommunikativ einzulassen. Meine erste berufliche Beziehung zu den Sozialwissenschaften war somit die eines außenstehenden Nutzers.
Franz-Xaver Kaufmann

Sozialpolitik

Frontmatter
1. Sozialpolitik: Perspektiven der Soziologie
Zusammenfassung
Die Bezeichnung Social-Politik entstand im Rahmen der deutschen Staats- und Sozialwissenschaft in der Vorphase der Ereignisse von 1848. Im Horizont der von Hegel eingeführten Unterscheidung von Staat und Gesellschaft bezeichnete Sozialpolitik sehr allgemein die Vermittlung zwischen marktgesellschaftlicher Privatsphäre und rechtsstaatlicher Öffentlichkeit zur Lösung der ‚socialen Frage‘ Während im Vormärz die soziale Frage noch als Problem des Pauperismus definiert wurde, verschob sich deren Sinngehalt in der Folge zur ‚Arbeiterrage‘ Dementsprechend bezeichnete Sozialpolitik seit den 1880er Jahren alle Bemühungen zur Behebung der spezifischen Nöte der Industriearbeiter. Durch die Kathedersozialisten des Vereins für Socialpolitik und erst recht durch die Bismarcksche Sozialgesetzgebung erhielt der Begriff zunehmend eine staatspolitische Färbung, doch blieben Wortverbindungen wie berufsständische, kommunale oder betriebliche Sozialpolitik erhalten.
Franz-Xaver Kaufmann
2. Sozialpolitisches Erkenntnisinteresse und Soziologie: Ein Beitrag zur Pragmatik der Sozialwissenschaften
Zusammenfassung
Unter sozialpolitischem Erkenntnisinteresse sei ein wissenschaftliches Interesse verstanden, das auf die ‚Verbesserung‘, oder ‚Rationalisierung‘ von ‚Sozialpolitik‘ gerichtet ist, was auch immer man unter diesen Begriffen im einzelnen verstehen mag. Solch sozialpolitisches Erkenntnisinteresse ist einer soziologischen Beschäftigung mit Sozialpolitik nur dann implizit, wenn sozialpolitische Sachverhalte nicht bloß exemplarische Untersuchungsgegenstände in bezug auf ein bestimmtes theoretisches Interesse sind. Denn hierbei wird den sozialpolitischen Sachverhalten keinerlei eigenständiges Interesse entgegengebracht, sie sind bloßes ‚Material‘ zur Befriedigung wissenschaftsimmanenter Erkenntnisinteressen. Dieser Fall interessiert hier nur am Rande. Wer sich jedoch mit sozialpolitischen Problemen um ihrer selbst willen beschäftigt, setzt implizit bereits voraus, daß die Produktion solch speziellen Wissens einen Sinn habe, der auf die potentielle ‚Verbesserung‘ oder zum mindesten Beeinflussung derjenigen Praxis gerichtet ist, mit der er/sie sich beschäftigt.
Franz-Xaver Kaufmann
3. Elemente einer soziologischen Theorie sozialpolitischer Intervention
Zusammenfassung
Das herkömmliche Politikverständnis geht mit einer gewissen Selbstverständlichkeit davon aus, daß Politik die Ziele, die sie sich gesteckt hat, auch zu erreichen vermöge, sofern die für die Zielerreichung erforderlichen Mittel tatsächlich aufgewendet werden. Erst seit Anfang der 60er Jahre beginnt sich — zunächst in den USA, seit 1969 auch in der Bundesrepublik — ein neuartiges Politikverständnis durchzusetzen, für das die Bewirkbarkeit von politisch erwünschten Wirkungen ein Problem darstellt. Politik wird nun nicht mehr bloß handlungstheoretisch als Verhältnis von Lage, Ziel(en) und Maßnahme(n) rekonstruiert, sondern systemtheoretisch als mehrstufiger, durch ein erhebliches Maß an Kontingenz zwischen den einzelnen Phasen zu kennzeichnender „politischer Prozeß“ verstanden. Sozialwissenschaftlichen Ausdruck findet diese neue Politikauffassung in zahlreichen Forschungsrichtungen, die hier nur stichwortartig erwähnt seien: Policy-Sciences, Social-Indicator-Movement, Evaluation-Research, Implementation-Research usw.1 Diese Forschungsrichtungen setzen im Regelfall die Isolierbarkeit von politischen Einzelprozessen (bzw. „politischen Programmen“) voraus, eine ebenfalls noch stark vereinfachende Vorstellung, die man in jüngster Zeit durch komplexere Vorstellungen interdependenter politischer Prozesse und Programme abzulösen sucht.
Franz-Xaver Kaufmann
4. Konzept und Formen sozialer Intervention
Zusammenfassung
Es gehört zu den Selbstverständlichkeiten sozialpolitischen und sozialarbeiterischen Handelns, daß soziale Probleme ‚Handlungsbedarf‘ anzeigen. Natürlich läßt sich diese Selbstverständlichkeit hinterfragen: Welche Standards bestimmen, was zum sozialen Problem erklärt wird, welche Interessen stehen dahinter, bzw. wäre es nicht besser, den Dingen ihren Lauf zu lassen, anstatt zu intervenieren? Solche Einwände mögen im Einzelfall durchaus zutreffen und damit bestimmte Problematisierungen ins Zwielicht rücken. Aber dies vermag die Denkfigur selbst nicht außer Kraft zu setzen: Ein Problem schreit danach, gelöst zu werden, sonst wäre es kein Problem, sondern beispielsweise Normalität, Schicksal oder vorübergehende Irritation. Im Problembegriff wird eine dauerhafte Defizienz angezeigt, die sich durch Handeln zum Besseren wenden, wenigstens tendenziell ‚Ibsen‘ läßt.
Franz-Xaver Kaufmann
5. Der Sozialstaat als Prozeß — für eine Sozialpolitik zweiter Ordnung
Zusammenfassung
Was den Sozialwissenschaftler an den Arbeiten des Juristen Hans F. Zacher fasziniert, ist seine Fähigkeit, das Sozialrecht nicht nur als eine Summe von Rechtsregeln zu begreifen, sondern es im Zusammenhang einer Sozialstaatsvorstellung zu entwickeln, welche stets den Bezug zu den ökonomischen und sozialen Tatsachen mit im Auge behält. Wie kein zweiter hat Zacher dazu beigetragen, die zunächst in ihrer Verbindlichkeit wie auch in ihrer Bedeutung höchst umstrittenen Sozialstaatsklauseln des Grundgesetzes inhaltlich zu bestimmen und dadurch rechtlich wirksam zu machen.1 Seine Bestimmungen des Sozialstaates sind dabei primär rechtlicher Art; sie übersehen zwar nicht die immanenten Konflikte der sozialstaatlichen Programmatik, aber diese werden ihrer ideologischen und politischen Dramatik entkleidet und als unvermeidliche Elemente einer für den Juristen ohnehin konflikthaften Wirklichkeit normalisiert.
Franz-Xaver Kaufmann
6. Sozialpolitik und Bevölkerungsprozeß
Zusammenfassung
Der Zusammenhang zwischen Sozialpolitik und demographischer Entwicklung läßt sich weder durch das Denkmodell einseitig kausaler Abhängigkeit noch durch dasjenige einer Wechselwirkung angemessen beschreiben. Beide Denkmodelle gehen von Wirkungszusammenhängen aus, die sich in einer kurzen, für den Forscher wie den politisch Handelnden überschaubaren Zeit entfalten. Hier sei nicht bestritten, daß Wirkungszusammenhänge zwischen einzelnen sozialpolitischen Maßnahmen und bestimmten Aspekten der Bevölkerungsentwicklung — beispielsweise der Reduktion bestimmter Todesursachen, dem Entstehen oder Versiegen bestimmter Wanderungsströme oder auch von Veränderungen der Geburtenhäufigkeit bestimmter weiblicher Teilpopulationen — bestehen. Der Nachweis derartiger Kurzfristeffekte ist Aufgabe der Wirkungsanalyse demographisch relevanter politischer Maßnahmen, insbesondere mit Hilfe von Methoden der Evaluations und Wirkungsforschung, deren Möglichkeiten und Probleme hier nicht erörtert werden können.l.
Franz-Xaver Kaufmann

Sozialstaat

Frontmatter
7. Steuerungsprobleme im Wohlfahrtsstaat
Zusammenfassung
Der Gegenstand der nachfolgenden Ausführungen ist nicht in erster Linie empirischer, sondern systematischer Art. Es sei versucht, die seit einigen Jahren manifest gewordenen und zunehmend auch in der Soziologie diskutierten Probleme wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung in einer spezifischen Perspektive zu skizzieren, welche sich nicht primär an den behaupteten Krisenphänomenen, sondern an Strukturmerkmalen und Basisproblemen des Wohlfahrtsstaats orientiert. Daß es an einer Theorie des Wohlfahrtsstaats fehle, gehört zu den einleitenden Feststellungen nahezu aller gewichtigen Publikationen zur Thematik der letzten drei Jahre (Flora 1979, Schiller 1980, Luhmann 1981, Flora/Heidenheimer 1981, Alber 1982). Dagegen wurde dieses Bedürfnis in den vorangehenden Jahren offenbar weniger verspürt, man behalf sich entweder mit dem vordergründigen Verweis auf Sozialpolitik oder man rekurrierte auf sehr allgemeine gesellschaftstheoretische Prämissen, von denen her sich dann die sog. Funktionen des Wohlfahrtsstaats deduzieren ließen.
Franz-Xaver Kaufmann
8. Staat und Wohlfahrtsproduktion
Zusammenfassung
Im folgenden sei eine theoretische Perspektive skizziert, die den normativen Anspruch des Wohlfahrtsstaates ernst nimmt. Der Wohlfahrtsstaat ist das institutionelle Ergebnis des fortgesetzten politischen Anspruchs, mit Mitteln der Gesetzgebung für die Grundlagen des individuellen Wohlbefindens aller Mitglieder einer national definierten Gesellschaft zu sorgen (vgl. Girvetz 1968: 512). Seit den Anfängen der Sozialpolitik und erneut im Zeichen zunehmender fiskalischer Knappheiten, fragwürdiger Nebeneffekte sozialpolitischer Interventionen und verschärfter Verteilungskonflikte ist es umstritten, inwiefern und mit welchen Mitteln der Staat in der Lage ist, diesem politischen Anspruch zu genügen. In einem ersten Teil werden die geschichtlichen Grundlinien des Wohlfahrtsdiskurses skizziert; daran schließt sich eine Präzisierung des Bezugsproblems der Wohlfahrtsproduktion an, woraus sich schließlich Folgerungen für das Staatsverständnis ableiten lassen: Vorgeschlagen wird weder liberales ‚Laissez-faire ‘ noch voluntaristischer Interventionismus, sondern eine steuerungstheoretisch angeleitete ordnungspolitische Perspektive auf die Markt, Staat, intermediären Bereichen und Privathaushalten gemeinsamen, sie jedoch in unterschiedlicher Weise betreffenden Aufgaben der Wohlfahrtsproduktion.
Franz-Xaver Kaufmann
9. Wohlfahrt, Arbeit und Staat unter den Bedingungen von Individualisierung und Globalisierung
Zusammenfassung
Die Wirtschaft, die sich auf die Grundsätze des Liberalismus berufende freie Marktwirtschaft, ist der wichtigste Motor nicht nur technischer Innovationen und wirtschaftlicher Fortschritte, sondern auch des sozialen und nicht selten des politischen Wandels. Manche werfen deshalb dem wirtschaftlichen Fortschritt vor, er sei blind für seine sozialen und politischen Folgen. Die Auseinandersetzung zwischen den wirtschaftsliberalen Fortschrittsoptimisten und den bald konservativen, bald sozialreformerischen Fortschrittsskeptikern (ich lasse die ebenfalls fortschrittsoptimistischen, aber historisch wenig erfolgreichen revolutionären Sozialisten außer Betracht) dauert nun schon zwei Jahr-hunderte und hat in jüngster Zeit erneuten Auftrieb erhalten. Zwar haben sich die Interpretationen der Sachlage und die Schlagworte, mit denen die ideologischen Kämpfe ausgetragen wurden, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt gewandelt, aber an der Grundkonstellation hat sich vergleichsweise wenig geändert: Stets ging es um die Frage nach dem Verhältnis von als antagonistisch deklarierten Größen: Von Marktwirtschaft und Staat, von Ökonomie und Moral, von Wachstum und Verteilung, von Freiheit und Sicherheit. Und doch zeigt gründliches Nachdenken, daß diese Größen so zusammengehören wie Motor und Bremsen: Je stärker das eine, desto notwendiger das andere. Die neuzeitliche Entwicklung ist die Erfolgsgeschichte der gleichzeitigen Steigerung von Selbststeuerung und Fremdsteuerung.
Franz-Xaver Kaufmann
10. Schwindet die integrative Funktion des Sozialstaates?
Zusammenfassung
Für die europäischen Wohlfahrtsstaaten ist längerfristig mit einem günstigenfalls mäßig wachsenden Sozialprodukt zu rechnen, das von einem sinkenden Anteil der Bevölkerung produziert wird und daher ein höheres Maß an Umverteilung zugunsten der Nicht-Erwerbstätigen oder eine Absenkung ihrer Versorgungsstandards erfordert. Gleichzeitig ist eine Erosion der nationalstaatlichen Autonomie zu berücksichtigen: Wachsende Abhängigkeiten von der Weltmarktentwicklung und die Verschiebung wirtschaftspolitischer Zuständigkeiten auf die europäische Ebene wirken als Restriktionen für die voraussichtlich auf nationalstaatlicher Ebene verbleibende Sozialpolitik.
Franz-Xaver Kaufmann
11. Sozialstaatlichkeit unter den Bedingungen moderner Wirtschaft
Zusammenfassung
Was gemeinhin als Sozial- oder Wohlfahrtsstaat bezeichnet wird, fristet ein theorieloses Dasein zwischen Rechtswissenschaft (Sozialrecht), Wirtschaftswissenschaft (Transferökonomie) und den einschlägigen soziologischen und politikwissenschaftlichen Analysen. Zwar hat im deutschen Sprachraum die Aktivität des „Vereins für Socialpolitik“ der praktischen Sozialpolitik schon früh eine akademische Grundlage gegeben, und auch in Großbritannien werden einschlägige Fragen im Rahmen eines eigenständigen Faches „Social Administration“ abgehandelt, doch handelt es sich dabei im Wesentlichen um historische, institutionenkundliche und an Reformen von Einzelmaßnahmen orientierten Erörterungen. Erst in jüngster Zeit finden sich Bemühungen, den Gesamtzusammenhang der international meist als ‚wohlfahrtsstaatlich‘ bezeichneten Entwicklungen historisch und international vergleichend aufzuarbeiten (Ritter 1989; Schmid 1996; Schmidt 1998). Aber auch hierbei dominiert ein induktives Verfahren. Es gibt bis heute nur wenige Versuche, die sozialstaatliche Problematik systematisch mit Fragen der Staatstheorie, der ökonomischen Ordnungstheorie oder der soziologischen Steuerungs- und Gesellschaftstheorie, aber auch der Ethik zu verbinden. Und insoweit dies geschieht, so zumeist mit einer charakteristischen disziplinären Einseitigkeit.
Franz-Xaver Kaufmann
12. Diskurse über Staatsaufgaben
Zusammenfassung
Alle menschliche Ordnung ist symbolisch vermittelt. Das heißt, Menschen orientieren ihre Erwartungen, ihre wechselseitigen Beziehungen und ihr Handeln an Vorstellungen, welche nur insoweit mitteilbar und verständlich sind, aber auch überhaupt nur eine gewisse Festigkeit erhalten können, als sie Bezug nehmen auf sinnlich wahrnehmbare, bedeutungsvolle Signale, deren Bedeutung kulturell stabilisiert ist. Sprache ist dafür eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung. Nur insoweit als die Sprache mit ausreichender Verläßlichkeit auf erfahrbare Zusammenhänge verweist und deren Bedeutung stabilisiert, kann von Ordnung die Rede sein. „Sowohl nach ihrer Genese (Gesellschaftsordnung ist das Resultat vergangenen menschlichen Tuns) als auch in ihrer Präsenz in jedem Augenblick (sie besteht nur solange menschliche Aktivität nicht davon abläßt, sie zu produzieren) ist Gesellschaftsordnung als solche ein Produkt des Menschen.“ (Berger/Luckmann 1969: 54) Kultur- und Gesellschaftsentwicklung als Vorstellung eines gerichteten (wenngleich von keinem Menschen so beabsichtigten) Prozesses läßt sich aufgrund unseres heutigen soziologischen Verständnisses ‚moderner‘ Gesellschaften als wachsende Kornplexität der symbolischen Verweisungssysteme, als Ausdehnung der Räume interdependenter sozialer Beziehungen und als zunehmende Differenzierung und Spezialisierung von Handlungssystemen begreifen.
Franz-Xaver Kaufmann
Backmatter
Metadaten
Titel
Sozialpolitik und Sozialstaat: Soziologische Analysen
verfasst von
Franz-Xaver Kaufmann
Copyright-Jahr
2002
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-322-99962-7
Print ISBN
978-3-322-99963-4
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-322-99962-7