Skip to main content

2009 | Buch

Krankenversicherung oder Gesundheitsversorgung?

Gesundheitssysteme im Vergleich

verfasst von: Claus Wendt

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

insite
SUCHEN

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
1. Einleitung
Zusammenfassung
Gesundheitssysteme sind einem fortlaufenden Wandel unterworfen. Das hängt zum einen mit den Fortschritten zusammen, die in der Medizin erzielt werden. Die Halbwertzeit medizinischen Wissens liegt bei etwa sechs Jahren, und diese Entwicklung hat grundlegende Folgen für die Gesundheitssysteme. Zum anderen verbessern sich die Kenntnisse darüber, welche Organisationsverfahren, Finanzierungsstmkturen, Honorierungsmodelle und Formen der Leistungserbringung zu einer effizienteren Gesundheitsversorgung beitragen. Die daraus resultierenden Reformen, die in verhältnismäßig kurzen Frequenzen stattfinden, erzeugen nicht nur für die Bürgerinnen und Bürger Unsicherheiten – auch für den wissenschaftlichen Beobachter wird dadurch der Vergleich von Gesundheitssystemen erschwert. Es ist kaum möglich (und aufgrund der Kurzlebigkeit vieler Reformansätze auch nicht sinnvoll), jede neue in die Gesundheitsreformdiskussion eingebrachte Idee in eine vergleichende Analyse einzubeziehen. Weiter ist zu berücksichtigen, dass jedes Gesundheitssystem in das jeweils spezifische Institutionengefüge eines Landes eingebunden ist.
Claus Wendt
2. Institutionentheorie und Wohlfahrtsstaatsanalyse
Zusammenfassung
Die Analyse der vier Gesundheitssysteme erfolgt aus einer institutionentheoretischen Perspektive, bei der die zentrale Frage lautet, in welcher Form Institutionen Einfluss auf soziales Handeln haben. Dabei wird insbesondere dem Institutionenansatz von M. Rainer Lepsius us gefolgt. Institutionentheorien lassen sich in historische Institutionenansätze, soziologische Institutionentheorien und Rational-Choice-Ansätze unterteilen. Fritz W. Scharpf (2000) argumentiert allerdings, dass es sich bei dem historischen Ansatz nicht um eine eigenständige Theorie handle, die den Anspruch hat, den Einfluss von Institutionen auf das Handeln von Akteuren zu erklären, sondern der Blick vielmehr auf die pfadabhängige Entstehung und Entwicklung institutioneller Arrangements gerichtet sei. Der soziologische Institutionenansatz, und in diesen Rahmen ist der Beitrag von Lepsius einzuordnen, lege einen Schwerpunkt auf die Wahrnehmungen und damit auch auf die Orientierungsmöglichkeiten, die durch Institutionen vermittelt werden und die einen strukturierenden Einfluss auf das Handeln von Individuen ausüben.
Claus Wendt
3. Ansätze und Fragen der vergleichenden Forschung
Zusammenfassung
An dieser Stelle soll kein Überblick über Ansätze der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung gegeben werden. Es werden jedoch einige Grundfiagen und Probleme von Methoden angesprochen, die auf einer vergleichenden Perspektive beruhen, bevor mit den ‚Wohlfahrtsstaats-Typologien’ etwas ausführlicher auf einen Ansatz eingegangen wird, der zur Zeit als ‚Königsweg’ (mit dem 1990er Werk von Esping-Andersen als ‚Meilenstein’) dieser Forschungstradition gilt. Nun muss nicht jeder den ‚Königsweg’ gehen, auch andere, weniger ausgetretene Pfade führen zum Ziel. Der Weg der Wohlfahrtsstaats-Typologien wird in den folgenden Abschnitten allerdings häufig gekreuzt und für einen Teil der Strecke auch beschritten. Der Ansatz, der die Grundlage für den Vergleich der vier Gesundheitssysteme bildet, wird in Abgrenzung dazu am Ende dieses Kapitels entwickelt. Dabei werden insgesamt fünf Dimensionen vorgestellt, die den Vergleich von Teilaspekten der vier Gesundheitssysteme erleichtern sollen, ohne das jeweilige Gesamtsystem aus den Augen zu verlieren. Die im zweiten Kapitel entwickelten Überlegungen zu den Prinzipien der Fürsorge, Versicherung und Versorgung werden in diesem Zusammenhang wieder aufgegriffen.
Claus Wendt
4. Gesundheitssysteme im Vergleich
Zusammenfassung
Während sich die vergleichende Analyse der Abschnitte 4.2 bis 4.6 auf die gegenwärtige Situation in den vier Ländern bezieht, dient die folgende Charakterisierung der Gesundheitssysteme einer historischen Einordnung sowie der Kennzeichnung spezifischer Probleme, mit denen die Gesundheitspolitik im jeweiligen Land konfrontiert ist. Wenn man wohlfahrtsstaatliche Entwicklungen international begreifen will, dann setzt sich verstärkt die Auffassung durch, dass auf der Grundlage unterschiedlicher Wertvorstellungen und einer jeweils länderspezifischen Durchsetzungskraft von Interessengruppen trotz ähnlicher Herausforderungen unterschiedliche institutionelle Lösungen entstanden sind. Hinzu kommt, dass einmal getroffene sozialpolitische Entscheidungen einen erheblichen Einfluss auf nachfolgende Institutionalisierungsprozesse haben. Das institutionelle Erbe der Vergangenheit bzw. die ‚Pfadabhängigkeit’ in stitutioneller Lösungen ist folglich als Einflussfaktor fir spätere Entwicklungen zu berücksichtigen.
Claus Wendt
5. Vertrauen in Gesundheitssysteme
Zusammenfassung
In dem Abschnitt 2.4 Vertrauen in Institutionen wurde betont, dass wohlfahrtsstaatliche Institutionen auf Vertrauen in die ihnen zugrundeliegenden Werte und in die ihnen nigeschriebenen materiellen Ergebnisse angewiesen seien, um Bürgerinnen und Bürgern dauerhaft positive Orientierung bieten zu können. Als erforderlich wurde außerdem die Erfahrung genannt, dass eine Institution sich als verlässlich erweist. Diese Verlässlichkeit kann durch Reformen und damit durch Änderungen der gewohnten Ordnung infrage gestellt werden. Deshalb sind bei Institutionenreformen die Kriterien der Transparenz, der Verteilungsgerechtigkeit und der Partizipation zu beachten. Gerade die Einführung von Wettbewerbsbedingungen, die bei Gesundheitsreformen der jüngeren Zeit häufig im Vordergrund standen, kann sich hinsichtlich des Kriteriums der Verteilungsgerechtigkeit als problematisch erweisen. Es ist zu erwarten, dass im Zuge dieser Entwicklung die Ungleichheit bei der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen steigt und damit Wertvorstellungen verletzt werden, auf denen Gesundheitssysteme basieren. Das dürfte für nationale Gesundheitssysteme eine stärkere Belastung darstellen als für gegensätzliche Krankenversicherungssysteme, da sich erstere in höherem Ausmaß über das Ziel der Gleichheit von Zugangschancen legitimieren. Problematisch ist außerdem, dass mit der Stärkung des Marktprinzips der Rentabilität unterschiedliche und teilweise gegensätzliche Handlungskriterien miteinander vermischt werden, so dass eine eindeutige Orientierung an den Gesundheitssystemen beeinträchtigt werden kann. Die Notwendigkeit für niedergelassene Ärzte, verstärkt Kriterien der Wirtschaftlichkeit zu beachten, kann im Widerspruch zu Prinzipien der medizinischen Ethik stehen. Das Kriterium der Transparenz kann demgegenüber auch bei einer Zunahme des Wettbewerbs erfüllt werden. Eine Transparenz des Systems ist sogar als Voraussetzung dafür anzusehen, dass sich Patienten in einem stärker von Wettbewerbselementen bestimmten Gesundheitssystem zurechtfinden. Dieses Kriterium und speziell der Zugang zu Informationen scheinen bisher in nationalen Gesundheitssystemen mit einer einheitlichen Organisationsstruktur eher gewährleistet zu sein als in gesetzlichen Krankenversicherungssystemen mit einer fragmentierten Organisationsstruktur. In gesetzlichen Krankenversicherungssystemen ist damit der Widerspruch verbunden, dass Patienten Gesundheitsleistungen sehr viel selbstbestimmter in Anspruch nehmen und deshalb auf ein besonders hohes Maß an Informationen angewiesen sind, um kompetente Entscheidungen treffen zu können, diese jedoch schwerer zugänglich sind als in nationalen Gesundheitssystemen.
Claus Wendt
6. Sozial- und gesundheitspolitische Schlussfolgerungen
Zusammenfassung
Anhand des Vergleichs von Daten, die Aufschluss über das Vertrauen der Bevölkerung in ihr Gesundheitssystem geben, wird deutlich, dass nicht notwendigerweise das System mit dem größten Budget die höchsten Vertrauens- bzw. Zufi-iedenheitswerte erhält und auch nicht das System mit der höchsten Personaldichte oder dem höchsten Grad an Wahlfreiheiten für Patienten. Im Vergleich der vier Länder ist in Dänemark die Zustimmung zu einer staatlichen Verantwortung im Gesundheitssystem am höchsten und bei der Zufriedenheit liegt das dänische System, das in den letzten Jahren eine eher moderate Kostenentwicklung aufwies, an zweiter Stelle. Die höchsten Zufriedenheitswerte weist das österreichische Gesundheitssystem auf, das bis in die 1990er Jahre bei der Kostenkontrolle ebenfalls erfolgreich war und seit den 1970er Jahren die Bevölkerung fast vollständig in die soziale Krankenversicherung integriert. Hervorzuheben beim dänischen Fall ist der späte Wechsel von einem beitragsfinanzierten gesetzlichen Krankenversicherungssystem zu einem steuerfinanzierten nationalen Gesundheitssystem Anfang der 1970er Jahre. Die Akzeptanz des neuen Gesundheitssystems wurde in den ersten Jahren nach dieser Strukturreform durch einen Zuwachs an Ressourcen gefordert, und erst nach Abschluss einer Übergangsphase von etwa 10 Jahren wurden die neuen gesundheitspolitischen Kompetenzen für eine Stabilisierung der Gesundheitsausgaben genutzt. Charakteristisch für das dänische System ist, dass der überwiegende Teil der Verantwortung für die Gesundheitsversorgung bei gewählten politischen Repräsentanten auf regionaler und lokaler Ebene liegt. Diese enge Verbindung zwischen Patienten und Entscheidungsträgern dürfte zu einer Stärkung des Vertrauens in das System der Gesundheitsversorgung und vor allem zu einer Befürwortung einer hohen staatlichen Verantwortung beigetragen haben. Außerdem wird die These gestützt, dass die enge Vernetzung der einzelnen Gesundheitssektoren, durch die Patientinnen und Patienten in den Einrichtungen versorgt werden, die ihren Bedürfnissen am ehesten entsprechen, das Vertrauen in das System zusätzlich gefestigt hat. Die niedrigsten Zufriedenheits- und Vertrauenswerte erfahrt das britische Gesundheitssystem. In Verbindung mit den Eurobarometer- Daten zeigt die vergleichende Institutionenanalyse ein Hauptdefizit des britischen NHS: Die Ressourcen, die für die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung aufgewendet werden, sind in Großbritannien trotz Ausgabensteigerungen in den letzten Jahren auf einem zu niedrigen Niveau. Mehr als 80% der befragten Britinnen und Briten äußerten, dass mehr Geld fiir die Gesundheitsversorgung ausgegeben werden sollte, und etwa ein Drittel von ihnen würde dafür Beitrags- oder Steuererhöhungen in Kauf nehmen. Die niedrigen Akzeptanzwerte des britischen Gesundheitssystems sind außerdem ein Indikator dafür, dass die neuen marktwirtschaftlichen Anreize dazu beigetragen haben, dass eine positive Orientierung an der ursprünglichen Leitidee des britischen Systems (Gleichheit der Zugangschancen) geschwächt wurde, ohne dass für die Bürgerinnen und Bürger gleichzeitig positive Ergebnisse dieser Reformen spürbar wurden. Trotz hoher Gesundheitsausgaben weist Deutschland bei der Bewertung der Funktionsweise des Gesundheitssystems nur mittlere Zufi-iedenheitswerte auf und nur eine Minderheit zeigt sich sehr zufrieden mit dem Gesamtsystem der Ge sundheitsversorgung. Außerdem spricht sich in Deutschland und Österreich nur ein sehr geringer Teil der Bevölkerung fir Ausgabenerhöhungen im Gesundheitssystem aus. Diese Werte sprechen gegen die Annahme, dass in beitragsfinanzierten Systemen die Akzeptanz von Ausgabensteigerungen aufgrund des direkten Zusammenhangs von Beiträgen und Leistungen höher sei als in steuerfinanzierten Systemen. Vielmehr ist in den nationalen Gesundheitssystemen eine höhere Solidaritätsbereitschaft zu erkennen, die – und dieses Ergebnis ist insbesondere für Großbritannien von Bedeutung – auch die Akzeptanz von Ausgabenerhöhungen einschließt.
Claus Wendt
Backmatter
Metadaten
Titel
Krankenversicherung oder Gesundheitsversorgung?
verfasst von
Claus Wendt
Copyright-Jahr
2009
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-531-91967-6
Print ISBN
978-3-531-15918-8
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-531-91967-6

Premium Partner