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1981 | Buch

Soziologische Aufklärung 3

Soziales System, Gesellschaft, Organisation

verfasst von: Niklas Luhmann

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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Über dieses Buch

Unbeirrt hält auch diese Sammlung soziologischer Studien an dem Titel "Aufklä­ rung" fest. Wer die soziologische Literatur des letzten Jahrzehnts soziologisch, das heißt mit Sinn für Realität betrachtet, wird wenig finden, was diesen Anspruch rechtfertigen könnte. Er ist stärker umstritten als je zuvor. Die Dreieinigkeit von Aufklärung, Vernunft und Politik hat keinen Ankerpunkt in der Realität gefunden. Sie hatte ganz und gar auf Zukunft gesetzt und kontrafaktisch auf ihre eigene Normativität. So groß bemessene Gesten vermögen jedoch kaum noch zu überzeugen. Wie sollte man heute angesichts bedrängender Zukunftssorgen sich auf das verlassen können, was als Zukunft impliziert war? Lieber flüchtet man unter die Fittiche der Klassi­ ker, die prinzipiell endlose Möglichkeiten der Interpretation und damit einen Schutz gegen Gedanken- und Arbeitslosigkeit zu bieten scheinen. Neben der Exe­ gese der Klassiker bietet auch die Exegese selbstproduzierter Daten Möglichkeiten zur Variation soziologischer Aussagen. All das sind berechtigte Wege der Forschung und des Erkenntnisgewinns, aber Exegese ist keine Aufklärung.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter

Allgemeine Theorie sozialer Systeme

1. Vorbemerkungen zu einer Theorie sozialer Systeme
Zusammenfassung
Mit „Theorie“ kann sehr Verschiedenes gemeint sein und sehr Verschiedenes beabsichtigt werden. Die folgenden Überlegungen akzeptieren für diesen Begriff keine epistemologischen Richtlinien, geschweige denn eine aus methodologischen Gründen einzig-richtige Fassung. Solche Vorschriften gibt es nicht unabhängig von einer sozialen Wirklichkeit, die sie erzeugt und verwendet. Wenn die Absicht ist, diese soziale Wirklichkeit, die unter anderem Theorien erzeugt und verwendet, durch eine Theorie als „soziales System“ zu begreifen, kann diese Theorie die eigene Form nicht als gegeben oder als vorgeschrieben voraussetzen. Sie kommt zur Klarheit über sich selbst nur in der Weise, daß sie sich in ihrem eigenen Gegenstandsbereich wiederentdeckt. Theorien dieser Art haben, anders gesagt, ein selbstreferentielles Verhältnis zu ihrem Gegenstand; und dies nicht nur insofern, als sie bei der Auswahl der Aspekte, unter denen sie ihren Gegenstand konstituieren, selbst beteiligt sind; sondern in dem sehr viel radikaleren Sinne, daß sie sich selbst als einer ihrer Gegenstände erscheinen.
Niklas Luhmann
Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation
Zusammenfassung
Ohne Kommunikation gibt es keine menschliche Beziehungen, ja kein menschliches Leben. Eine Theorie der Kommunikation kann sich deshalb nicht nur mit Ausschnitten aus dem Bereich des gesellschaftlichen Zusammenlebens befassen. Sie kann sich nicht damit begnügen, einzelne Techniken der Kommunikation zu erörtern, auch wenn in der heutigen Gesellschaft solche Techniken und ihre Folgen, weil sie neu sind, besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Ebenso wenig genügt es, mit einer Begriffsdiskussion zu beginnen1. Das würde nur zum Ziel führen, wenn man zuvor schon weiß, was man mit dem Begriff erreichen will und in welchem Theoriezusammenhang er arbeiten soll. Darüber kann jedoch kein Konsens vorausgesetzt werden. Deshalb beginnen wir mit der Unterscheidung von zwei verschiedenartigen theoretischen Intentionen, von denen sich der Aufbau einer wissenschaftlichen Theorie leiten lassen kann.
Niklas Luhmann
Über die Funktion der Negation in sinnkonstituierenden Systemen
Zusammenfassung
Für die meisten logischen und technischen Operationen mag es sinnvoll sein, Negation als einfaches Sinnelement, als nicht weiter definierbaren Grundbegriff anzusetzen und sie nur durch Angabe von Regeln ihres Gebrauchs zu erläuternl. Zumeist wird man dadurch bestimmt, ein symmetrisches und durch Negation umkehrbares Verhältnis zwischen Position und Negation anzunehmen. In diesen Annahmen stekken technische, das heißt Bewußtsein entlastende Denkvereinfachungen, deren Erfolge unbestreitbar sind. Es macht aber bereits stutzig, daß Negationen in der Informationsverarbeitung mehr Zeit kosten als positiv formulierte Angaben2. Warum? Hat die Negation vergleichsweise höhere Komplexität?
Niklas Luhmann
Handlungstheorie und Systemtheorie
Zusammenfassung
Etikettierte Theorien haben es leichter. Sie vermitteln schon durch die Bezeichnung den Eindruck von Einheit und Geschlossenheit. Sie bieten einen Standpunkt, von dem aus man sich, wenn nicht über die eigene, so doch über andere Theorien äußern kann. Ist die Bezeichnung einmal durchgesetzt, und dazu genügt bei offenem Pluralismus eine ausreichende Zahl von Publikationen, die das Etikett in Anspruch nehmen, kann die Theorie als bekannt und als konkurrierfähig vorausgesetzt werden. Andere Theorien können dann abgefertigt werden mit der Feststellung, daß sie die für die jeweils eigene Theorie in Anspruch genommene Leistung nicht erbringen: Sie können den Prozeß der Abschöpfung des Mehrwertes nicht erklären. Sie haben keinen Platz für Reflexion. Sie tragen der subjektiven Motivation des Handelnden nicht hinreichend Rechnung. Sie argumentieren nicht modern genug sondern alteuropäisch.
Niklas Luhmann
5. Erleben und Handeln
Zusammenfassung
Die Worte ‚Erleben‘ und ‚Handeln‘ verweisen auf Sachverhalte von sehr allgemeiner Bedeutung. Es liegt daher nahe, ihnen grundbegrifflichen Rang zuzusprechen. So könnte man versucht sein, die Psychologie als Wissenschaft von psychischen Prozessen der Erlebnisverarbeitung zu begreifen oder die Soziologie als Wissenschaft vom sozialen Handeln. Als Erleben bzw. Handeln würde man damit eine zumindest für diese Wissenschaften nicht weiter auflösbare, elementare Einheit bezeichnen. Sowohl psychische Systeme als auch soziale Systeme müßte man dann bestimmen als Zusammensetzung aus Erlebnissen bzw. Handlungen, als bestehend aus Beziehungen zwischen solchen Elementen. Es gibt indes eine Reihe von Gründen und von Erfahrungen mit Theorie-Konstruktion, die dagegen sprechen, so zu verfahren.
Niklas Luhmann
6. Schematismen der Interaktion
Zusammenfassung
Als Interaktion soll dasjenige Sozialsystem bezeichnet sein, das sich zwangsläufig bildet, wenn immer Personen einander begegnen, das heißt wahrnehmen, daß sie einander wahrnehmen, und dadurch genötigt sind, ihr Handeln in Rücksicht aufeinander zu wählen.
Niklas Luhmann
7. Zeit und Handlung — Eine vergessene Theorie
Zusammenfassung
Die soziologischen Bemühungen, Handlungstheorie oder action research wieder in den Vordergrund der Theoriediskussion zu bringen, haben sich vorschnell auf das Subjekt und auf dessen Motive festgelegt. Es geht ihnen nicht in erster Linie um das Handeln selbst, sondern um den, der handelt. Anhand der These, daß man Handeln nur verstehen könne, wenn man den vom Handelnden gemeinten Sinn und seine Situationsauslegung kenne, hangelt dieser Theorievorschlag sich zum Subjekt und dessen Motiven oder Interessen zurückl. Am Handeln läßt sich dann vorführen, wie unentbehrlich dieses Subjekt ist für jede adäquate Erkenntnis der sozialen Wirklichkeit. In diese Konzeption läßt sich dann Zeit einbauen als Zeitdifferenz von Zweck und Mittel. Zweck und Mittel sind involviert, wenn man rationales Handeln unterstellt, und rationales Handeln ist nach Max Weber die zweckmäßigste Unterstellung, wenn man als Soziologe die soziale Wirklichkeit erklären will. Auch Talcott Parsons (1937), der diese Auffassung Webers als Motto seinen Analysen vorangestellt hatte, hat sich bis heute von ihr nicht getrennt. Er hat lediglich die Zeitstruktur aus dem Zweck/Mittel-Schema wieder heraus-abstrahiert und sie als Differenz von instrumenteller (zukunftsorientierter) und konsummatorischer (gegenwartsorientierter) Handlungsbestimmung benutzt, um sein allgemeines Aktionsschema zu konstruieren (Parsons 1959). Unabhängig also von allen (ohnehin sehr vordergründig geführten2) Kontroversen um „Handlungstheorie“ oder „Systemtheorie“ kann man mithin sagen, daß die soziologische Theorie heute unbestritten davon ausgeht, daß der Handelnde nach seinen Intentionen handelt und daß seine Zeitvorstellung die Struktur seiner Intentionen bestimmt, etwa die Weite seines Zeithorizontes, seine Risikobereitschaft, seine Bereitschaft zur Vertagung von Befriedigungen.
Niklas Luhmann
8. Temporalstrukturen des Handlungssystems
Zum Zusammenhang von Handlungs- und Systemtheorie
Zusammenfassung
Mein Beitrag soll sich mit einigen Fragen der Theorie von Handlungssystemen befassen. Er soll stärker als im allgemeinen üblich das Verhältnis von Handlung und Zeit beleuchten. Ich verfolge dabei den Gedanken, daß ein zu einfacher, an bloßer Bewegung orientierter Begriff von Zeit den Zugang zu Grundfragen einer Handlungstheorie versperrt und die Handlungstheorie vorschnell an das Subjekt oder an den „actor“ verwiesen hat. Der Begriff des Subjekts ist aber vielleicht nur ein Aggregatbegriff für ungelöste Theorieprobleme.
Niklas Luhmann
9. Interpenetration — Zum Verhältnis personaler und sozialer Systeme
Zusammenfassung
Lexikalisch noch nicht dignifiziertl und auch sonst bisher kaum beachtet2, findet sich in der Theorie des allgemeinen Aktionssystems von Talcott Parsons an architektonisch zentraler Stelle der Begriff der Interpenetration. Interpenetration ist gewiß kein Reklamebegriff dieser Theorie, nichts für Außendarstellung, Selbstanpreisung oder Ideenpolitik. Im Gegenteil: es handelt sich um ein eher unscheinbares, aber gleichwohl zentral gelagertes Kernstück. Die Bearbeitung des Begriffs (um nicht Arbeit des Begriffs zu sagen) könnte daher den Kontext, der ihn bestimmt, in Bewegung bringen.
Niklas Luhmann
10. Unverständliche Wissenschaft
Probleme einer theorieeigenen Sprache
Zusammenfassung
Wer überhaupt spricht oder schreibt, sollte sich verständlich ausdrücken. Das ist eine auf den ersten Blick einleuchtende Forderung. Denn wozu äußert er sich, wenn er nicht verstanden werden will?
Niklas Luhmann

Theorie der Gesellschaft und gesellschaftlicher Teilsysteme

11. Geschichte als Prozeß und die Theorie sozio-kultureller Evolution
Zusammenfassung
In ontologischer Perspektive hat selbstverständlich alles, was ist, seine Geschichte, solange sein Sein dauert: auch und gerade hochaggregierte Einheiten, die vermutlich länger dauern, wie Welt, Sein, Heil, Himmel, Staat, Gesellschaft. So viel Geschichte steht gleichsam fest, und es bleibt nur übrig, sie mit unzureichenden Mitteln von der jeweiligen Gegenwart aus zu erkennen. Die Einheit des Seienden und/oder seiner Aggregationsweise garantiert die Einheit seiner Geschichte. Die Weltgeschichte ist zum Beispiel die Geschichte der aggregatio corporum. In temporaler Perspektive erscheint die Einheit dessen, was ist und dauert, als ein Prozeß, der Bestand mit Wandel verknüpft. Die Einheit des Seienden hat im Prozeß ihr zeitliches Korrelat. Insofern kann man im Rahmen dieser Prämissen an der These, Geschichte (welcher Seinsaggregate immer) sei ein Prozeß, nicht zweifeln. Die Zweifel können sich nur auf die Erkennbarkeit dieses Prozesses beziehen.
Niklas Luhmann
12. Identitätsgebrauch in selbstsubstitutiven Ordnungen, besonders Gesellschaften
Zusammenfassung
Die folgenden Überlegungen stehen im Kontext theoretischer Bemühungen, die klassische Topoi einer Theorie der Gesellschaft so reformulieren, daß sie aufeinander bezogen werden können und sich, obwohl unabhängig angesetzt, wechselseitig interpretieren und konkretisieren. Ich halte — zunächst rein historisch, also auf Grund bisheriger Theoriebemühungen — vier Ausgangspunkte für relevant, deren begriffliche Isolierung sich zum Teil bereits in der Auflösung befindet, aber erst durch Entwicklung von Nachfolgekonzeptionen aufgehoben werden kann1. Es handelt sich um:
(1)
den Systembegriff. Die Reformulierung ersetzt hier das Paradigma des Ganzen, das aus Teilen besteht, durch die heute dominierende System/Umwelt-Theorie, die Formen der Systemdifferenzierung mit Umweltlagen des Systems korreliert.
 
(2)
den Evolutionsbegriff. Die Reformulierung ersetzt hier die Vorstellung eines universalhistorischen Entwicklungsprozesses durch die Theorie eines Zusammenwirkens dreier differenter Mechanismen (Variation, Selektion, Retention), durch das Zufall systemintern reproduziert und ausgenutzt wird, um Strukturänderungen zu induzieren.
 
(3)
den Kommunikationsbegriff. Die Reformulierung ersetzt hier eine recht diffuse, Verständigungsdruck implizierende Begriffsvorlage2 durch die These, daß verständliche Kommunikation angenommen oder abgelehnt werden kann und daß es bei evolutionär zunehmender Komplexität der Gesellschaft besonderer, nämlich über Sprache hinausgehender Motivationsmechanismen bedarf, die sowohl die Annahmechancen als auch die Ablehnungschancen für Kommunikationen verstärken (Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien, institutionalisierte Konfliktpotentiale).
 
(4)
den Reflexionsbegriff. Die Reformulierung ersetzt hier die klassische Kennzeichnung der Reflexion als Eigenschaft oder Fähigkeit des Bewußtseins bzw. des Denkens durch die Angabe einer Funktion, nämlich den Gebrauch der Identität eines Systems zur Orientierung von Selektionen, die im System selbst ablaufen (eine Form von Selektivitätsverstärkung).
 
Niklas Luhmann
13. Symbiotische Mechanismen
Zusammenfassung
Wenn von Gewalt die Rede ist, kann man der Versuchung kaum widerstehen, das Problem binär zu schematisieren, je nachdem, ob die Gewalt im Namen und im Sinne des Rechts oder ob sie als reine Gewalt gegen das Recht ausgeübt wird. Die Disjunktion von Recht und Unrecht ist — ähnlich wie in anderen Fällen gesellschaftlich bedeutsamer binärer Schematismen, etwa der zweiwertigen Logik oder der Differenz von Eigentum und Nichteigentum — in der Gesellschaftsstruktur so hoch und in solchem Maße kontextfrei abgesichert, daß sich kein Interesse gegen die Disjunktion mehr formieren und verständlich machen läßt, sondern allenfalls ein Interesse an Recht, an Wahrheit, an Eigentum. Damit ist man indes schon auf eine Alternative festgelegt, ohne ihre Herkunft und ihre Relevanz geprüft zu haben.1 Mit solchen Schematismen verbindet sich ein in ihnen angelegter Optionsdruck — im Falle Recht/Unrecht ebenso wie im Falle Wahrheit/Unwahrheit, Haben/Nichthaben usw. Man kann, wenn man sich auf den Schematismus einläßt, der Option nicht mehr ausweichen, sondern sie allenfalls noch „verkehrt“ ausüben, indem man die suggerierte Richtung negiert. Die vier Freiheiten, für oder gegen rechtmäßige und für oder gegen unrechtmäßige Gewalt zu sein, reduzieren sich nach dem Schematismus des Rechts auf zwei. So weit geführt, kann man Theorie nur noch einsetzen zur Begründung der Option.
Niklas Luhmann
14. Ist Kunst codierbar?
Zusammenfassung
Will man die Frage nach dem aktuellen Orientierungswert von „Schönheit“ ausarbeiten, muß man irgendeinen begrifflichen Kontext akzeptieren, der die Möglichkeit von Antworten limitiert. Im folgenden geschieht dies auf der Grundlage von Vorschlägen zu einer allgemeinen Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien1. Die methodische Intention geht auf Vergleich mit Hilfe funktionaler Abstraktion. Ich werde also nicht versuchen, das Schöne als Schönes zu analysieren, um daraus zu erkennen, weshalb es schön ist, und aus den Gründen der Schönheit dann auf dauerhafte Relevanz zu schließen. Es geht deshalb auch nicht um eine theoriefähige, begriffliche Imitation dessen, was Künstler oder Kunstbetrachter tun, empfinden, erleben. Die Absicht ist vielmehr, mit Hilfe einer allgemeineren, viele Kulturbereiche übergreifenden Problemstellung zu erkennen, wo Bedingungen evolutionären Erfolgs liegen; und dann genauer, wo diejenigen Bedingungen evolutionären Erfolgs liegen, die für das heutige Gesellschaftssystem kennzeichnend sind.
Niklas Luhmann
15. Der politische Code
„Konservativ“ und „progressiv“ in systemtheoretischer Sicht
Zusammenfassung
Die Sprache der Politik liebt Kontrastierungen. Die Unterscheidung von Freunden und Gegnern ist eines ihrer Strukturmomente; sie ist jedoch keineswegs die Struktur von Politik schlechthin. Sie assoziiert zu konkret und gibt für Sachthemen nicht genug her. Für Interessenverfolgung in komplexen Konstellationen wäre es unzweckmäßig, alle anderen zu Gegnern zu erklären, etwa alle Nichtlandwirte zu Gegnern der Landwirtschaft. Außerdem muß man Freunde und Gegner wechseln können, ohne damit die eigene Identität oder politische Existenz zu gefährden. Mit zunehmender Komplexität und vor allem mit zunehmender Interdependenz der Bezüge politischen Handelns wird es deshalb sinnvoll, diesen sozialen Schematismus durch einen zeitlichen Schematismus zu ersetzen. In der neueren Zeit scheint die Unterscheidung von progressiv und konservativ diese Funktion eines primären politischen Schematismus zu übernehmen — auf wen oder auf was immer sie bezogen wird.
Niklas Luhmann
16. Theoretische Orientierung der Politik
Zusammenfassung
Der Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen liegt in einer These über die moderne Gesellschaft. Sie besagt, daß die moderne Gesellschaft ein funktional differenziertes Sozialsystem ist, ein Gesamtsystem also, das sich in Funktionssysteme zergliedert. Infolgedessen entfallen die Leitbegriffe „Wissen“ und „Macht“ auf verschiedene Teilsysteme der Gesellschaft: Das Wissen, oder jedenfalls der Gewinn neuen Wissens, ist Sache des Wissenschaftssystems. Bei den Prozessen dieses Systems spricht man von Forschung. Macht dagegen ist Sache des politischen Systems. Bei den Prozessen dieses Systems spricht man von kollektiv bindenden Entscheidungen.
Niklas Luhmann
17. Grundwerte als Zivilreligion
Zur wissenschaftlichen Karriere eines Themas
Zusammenfassung
Der in den letzten Jahren aus den Vereinigten Staaten rückimportierte Begriff der „Zivilreligion“ soll Mindestelemente eines religiösen oder quasireligiösen Glaubens bezeichnen, für den man bei allen Mitgliedern der Gesellschaft Konsens unterstellen kann.1 Hierzu gehört die Anerkennung dessen, was man in der deutschen politischen Diskussion gegenwärtig „Grundwerte“ nennt, also die Anerkennung der in der Verfassung kodifizierten Wertideen. Diese Grundwerte sollen nicht nur, wie es in der Verfassung heißt, den Staat, sondern auch die Bürger untereinander binden. Einbezogen wird aber auch ein nicht so stark formalisierter Überzeugungsbereich — etwa Vorstellungen über Gerechtigkeit, fairness, Durchsetzungswürdigkeit des Rechts, Gleichheit des Zugangs aller zu allen Funktionen (einschließlich etwa: Nichtdiskriminierung von Rassen beim Besuch von Gaststätten, öffentlichen Veranstaltungen oder sonst allgemein zugänglichen Plätzen) und heute vielleicht sogar: Anspruch auf Lebensqualität. Im gleichen Zusammenhang könnte man denken an Wertvorstellungen, die individuelle Selbstverantwortung schützen, aber auch zur Pflicht machen und durch ein zunehmend zerreißfestes Netz sozialer Sicherheiten gegen ein nicht individuell verantwortetes Schicksal abschirmen. Freiheit und Betreutwerden sind beides Komponenten dieser — so wird behauptet: Zivilreligion.
Niklas Luhmann
18. Veränderungen im System gesellschaftlicher Kommunikation und die Massenmedien
Zusammenfassung
Aus sehr weitem Abstand und mit Hilfe scharfer begrifflicher Abstraktion kann man erkennen, wie gesellschaftliche Evolution zusammenhängt mit Veränderungen in den Kommunikationsweisen. Ein solcher Zusammenhang ist zu erwarten. Schließlich wird das soziale System der Gesellschaft durch Kommunikationsprozesse konstituiert. Ganz grob kann man das System der Gesellschaft charakterisieren als Gesamtheit der füreinander zugänglichen, kommunikativ erreichbaren Erlebnisse und Handlungen. Kommunikation verwebt die Gesellschaft zur Einheit. Soviel ist leicht gesagt. Aber diese These des Zusammenhangs von Kommunikationsweisen und Gesellschaft bleibt ein Allgemeinplatz, solange es nicht gelingt, sie historisch und inhaltlich zu differenzieren.
Niklas Luhmann
19. Theoretische und praktische Probleme der anwendungsbezogenen Sozialwissenschaften
Zusammenfassung
Wir befinden uns in einer schwierigen Situation, in einer erkenntnis-theoretisch schwierigen Situation. Ich bitte vorweg um Verständnis dafür, daß ich nachdrücklich darauf aufmerksam mache und mit Abstraktion darauf reagiere.
Niklas Luhmann

Organisationstheorie

20. Organisation und Entscheidung
Zusammenfassung
Will man ein relativ unbeschwertes Bild über Organisationen gewinnen, ist es ratsam, etwa 150–200 Jahre zurückzugreifen. Als Ausgangspunkt läßt sich dann ein Organisationsverständnis erkennen, das sich gegen Begriffe wie Ordnung oder Organismus nicht deutlich abgrenzt und das in dieser Unschärfe umstandslos modernen Entwicklungen in Staat und Wirtschaft zugeordnet werden kann. Organisation ist Ausführung von Herrschaft oder Ausführung von Produktion — in jedem Falle ein Phänomen von gesamtgesellschaftlicher Relevanz. Heinrich Stephani etwa fordert, um ein Beispiel zu geben, in seinem Grundriß der Staatserziehungswissenschaft1, daß das Erziehungswesen „eine zweckmäßige, durch den ganzen Staat sich erstreckende Organisation erhalte“. Ohne Organisation „sei bei allem guten Willen nichts gedeihliches zu erwarten, weil nach einem ewigen Naturgesetz jede Kraft zu ihre Wirksamkeit Organe nöthig hat, durch welche sie sich zweckmäßig äußern kann“. Entsprechend wird die Organisation in ihrer Einheit durch ein Vernunftschema begriffen und in ihrem Fortschritt daran gemessen, in welchem Maße sie ein Ideal erreicht2. Modern gesprochen: Organisation wird nicht gegen Gesellschaft und gesellschaftliche Funktionsbereiche differenziert und nicht als ein System eigener Typik, nicht etwa als „Bürokratie“ begriffen.
Niklas Luhmann
21. Organisation im Wirtschaftssystem
Zusammenfassung
Anlaß zu den folgenden Überlegungen sind zwei Entwicklungstrends in der neueren Organisationssoziologie. Der erste Trend betrifft das Verhältnis von allgemeiner Theorieentwicklung zu Forschungen, die nur für besondere Bereiche, etwa nur für Schulen, nur für Produktionsbetriebe, nur für politische Parteien zu gelten beanspruchen. Die allgemeine Organisationssoziologie arbeitet teils an ihren eigenen Theoriegrundlagen, teils an Problemstellungen wie Planung, Entscheidungsprozeß, Innovation, Verhältnis von Sozialsystem und Technologie, Umweltabhängigkeit. Gewiß können aber Erkenntnisse, die an Krankenhäusern gewonnen werden, nicht ohne weiteres auf Banken übertragen werden. Man kann versuchen, Brücken zwischen allgemeiner Theorie und besonderen Organisationsbereichen zu schlagen, etwa die besondere Art der Umweltabhängigkeit von Firmen in der Bauindustrie oder von Organisationen der Erwachsenenbildung mit Hilfe des „contingency Ansatzes“ erforschen. Aber die Übertragung erfolgt dann ohne Rückversicherung in einem allgemeinen Konzept, daß die zu erwartenden Abweichungen prognostizieren und kontrollieren könnte.1 Infolgedessen bleibt unklar, was die allgemeine Organisationssoziologie auf diese Weise lernen könnte.
Niklas Luhmann
Backmatter
Metadaten
Titel
Soziologische Aufklärung 3
verfasst von
Niklas Luhmann
Copyright-Jahr
1981
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-663-01340-2
Print ISBN
978-3-531-11394-4
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-663-01340-2