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1999 | Buch

Verstehen ohne zu verstehen

Soziologische Systemtheorie und Hermeneutik in vergleichender Differenz

verfasst von: Iris Wittenbecher

Verlag: Deutscher Universitätsverlag

Buchreihe : Zugänge zur Moderne

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Über dieses Buch

Üblicherweise beginnt die wissenschaftliche Sozialisation in Einführungen und Proseminaren zur soziologischen Theorie mit einer recht einfach gebauten Unterteilung. Da gebe es auf der einen Seite hermeneutische, verstehende Ansätze, die sich der Sozialwelt aus der Binnenper­ spektive der Beteiligten nähern, auf der anderen Seite solche Theorien, die in einer Beobach­ terperspektive verharren und dem sozialen Geschehen explizit nicht übers Verstehen der Akteure, sondern über eher makrostrukturelle Faktoren zu Leibe rücken. Als geradezu para­ digmatischer Fall dieser zweiten Variante gilt üblicherweise die soziologische Systemtheorie, die ja -zumindest in ihrer Luhmannschen Variante -Akteure und ihre psychischen Verste­ hensleistungen gar nicht dem Sozialen zurechnet. Nun hat sich entgegen dieser allzu einfachen Einteilung in den letzten Jahren in der deutsch­ sprachigen Soziologie eine Debatte über die hermeneutischen Potentiale der Theorie auto­ poietischer Systeme etabliert. Einige Autoren haben zunächst bemerkt, daß Luhrnanns Theorie einerseits Theoriemotive und Begrifflichkeiten hermeneutischer Provenienz auf­ nimmt, daß diese Theorie aber auf den ersten Blick der handlungstheoretischen Anlage der hermeneutischen oder verstehenden Soziologie kaum ferner stehen könnte. Einem zweiten Blick jedoch haben sich einige gemeinsame Fragestellungen gezeigt, bis zu der These rei­ chend, die Systemtheorie biete eigentlich die zeitgemäßere Hermeneutik, weil sie nicht mehr nur psychische, sondern auch soziale Formen des Verstehens kenne.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
1. Einleitung
Zusammenfassung
Die klassische soziologische Hermeneutik setzt mit ihren Begründern Max Weber und Alfred Schütz an der subjektiven Wirklichkeit sozial handelnder Subjekte an, am „subjektiv gemeinte[n] Sinn“ (WuG: 1), den es aktuell und erklärend zu verstehen, d. h. in seiner Idealtypik zu rekonstruieren gilt. Dabei ist die begriffliche Trias `Subjekt-Sinn-Verstehen’ unauflöslich mit- und aneinander gekoppelt, nur sinnhafte Handlungen sind verstehbar. Bei Schütz heißt es explizit:
„Wir können dann sagen, daß Verstehen korrelativ zu Sinn überhaupt sei; denn alles Verstehen ist auf ein Sinnhaftes gerichtet und nur ein Verstandenes ist sinnvoll.“ (SA: 149)
Iris Wittenbecher
2. Systemisches Verstehen
Zusammenfassung
Wer versteht? Was stellt den Bezugspunkt, was den Gegenstand des Verstehens dar? Wie vollzieht sich das Verstehen Niklas Luhmann gibt auf diese Fragen eine systemtheoretisch fundierte Antwort:
„Verstehen ist Beobachtung im Hinblick auf die Handhabung von Selbstreferenz. An der Operation, die wir Verstehen nennen, können mithin aktiv und passiv nur selbstreferentielle Systeme teilnehmen Die Operation setzt eine Mehrheit von selbstreferentiellen Systemen voraus.“ (SvS: 79)
Iris Wittenbecher
3. Verstehendes Beobachten
Zusammenfassung
Nach der Klärung, wer versteht — nämlich ausschließlich psychische oder soziale Systeme, die andere psychische oder soziale Systeme, aber auch lebende Systeme verstehen können — und der Rekonstruktion des systemtheoretisch gefaßten Verstehensbegriffs als einer „besondere[n] Form der Sinnverarbeitung“ (SoSy: 110) soll nun das systemtheoretische Verstehen als Operation rekonstruiert werden. Luhmann:
„Verstehen heißt: selbstreferentiell situiertes Beobachten im Hinblick auf die Selbstreferenz eines anderen Systems. Beobachten heißt: Anwenden einer Unterscheidung.“ (SvS: 112)
Iris Wittenbecher
4. Operatives Verstehen
Zusammenfassung
Kommunikation beschreibt Luhmann als eine dreistellige Einheit, in der die Selektionen Information, Mitteilung und Verstehen synthetisiert werden.109 Die Information seligiert das, was kommuniziert wird, indem sie vor dem Horizont unendlicher Möglichkeiten einen bestimmten Kommunikationsinhalt auswählt. Die Mitteilung seligiert, wie kommuniziert wird, indem sie aus einem Repertoire von Verhaltensmöglichkeiten ein Verhalten auswählt, „das diese Information mitteilt“ (SoSy: 195). Die dritte Selektion: das Verstehen als „Unterscheidung der Information von ihrer Mitteilung“ (ebd.), also als Selektion der Selektionen, konstituiert Kommunikation als Kommunikation, indem es den Anschluß einer neuen Kommunikation sicherstellt.110
Iris Wittenbecher
5. Verstehen als Verständnis
Zusammenfassung
Luhmanns Definition, von Verstehen dann zu sprechen, „wenn ein System ein anderes auf seine Selbstreferenz hin beobachtet“ (SvS: 88), läßt sich zwar mit der allgemeinen, für alle Systemarten geltenden operativen Funktion des Verstehens erklären, nämlich als Beobachtung erster Ordnung eine Mitteilung von ihrer Information zu unterscheiden. Doch der operative, differenztheoretisch gefaßte Verstehensbegriff bezieht sich nur auf Kommunikation als Kommunikation. Er läßt außer Acht, daß Kommunikation sich selbstsimplifizierend als Handlung, die sie auf Personen zurechnet, beschreibt.
Iris Wittenbecher
6. Reflexives Verstehen
Zusammenfassung
Will man das Verstehen systemtheoretisch als methodisch-reflektierte Operation im Wissenschaftssystem bestimmen, muß man es — gemäß der Luhmannschen Beobachtungstheorie — unterscheiden. Als wissenschaftstheoretische Unterscheidungen sind im Wissenschaftssystem solche wie wissenschaftliches Verstehen/alltägliches Verstehen oder verstehen/erklären konditioniert. Letztere unterscheidet gemeinhin das nomothetisch-naturwissenschaftliche Paradigma vom sinnverstehenden-geisteswissenschaftlichen Paradigma, wie es sich bei Dilthey pointiert formuliert findet:
„Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir. (...) Der erlebte Zusammenhang ist hier das erste, das Distinguieren der einzelnen Glieder desselben ist das Nachkommende. Dies bedingt eine sehr große Verschiedenheit der Methoden, vermittels deren wir Seelenleben, Historie und Gesellschaft studieren, von denen, durch welche die Naturerkenntnis herbeigeführt worden ist.“ (Dilthey 1957: 143 f.)
Iris Wittenbecher
7. Resümee der Resümees
Zusammenfassung
Mit der Moderne wird das Verstehen zum Problem, sich gegenseitig verstanden oder gar verständigt zu haben zu einer ganz normalen Unwahrscheinlichkeit. Was ehemals aufgrund von Schicht und Glaube als selbstverständlich galt, wird fragwürdig, nichts ist mehr sicher, alles wird kontingent, als einzige Gewißheit bleibt die der Ungewißheit. Wo in einer stratifizierten Gesellschaft mit ihrer hierarchischen Leitdifferenz von oben und unten ein die ungleichen Teilsysteme (Schichten) überspannender semantischer Code von Gott und Teufel, Heil und Verdammnis einzige Quelle unbezweifelbarer Wahrheit(en) war, hat sich aus der semantischen Autonomisierung verschiedener Handlungsbereiche der Gesellschaft eine neue Form der primären gesellschaftlichen Differenzierung entwickelt. Deren Teilsystemgrenzen verlaufen nun nicht mehr entlang relativ undurchlässiger Schichten, sondern entlang gesellschaftlicher Funktionen wie Knappheitsminderung (Wirtschaft), Ermöglichung kollektiver Entscheidungen (Politik), Ausschaltung der Kontingenz normativen Erwartens (Recht), Erzeugung neuen Wissens (Wissenschaft) oder Selektion von Karrieren (Erziehung).
Iris Wittenbecher
8. Sigel und Literaturverzeichnis
Zusammenfassung
Für häufig zitierte Schriften von Niklas Luhmann, Max Weber und Alfred Schütz werden folgende Kürzel verwendet:
Iris Wittenbecher
Backmatter
Metadaten
Titel
Verstehen ohne zu verstehen
verfasst von
Iris Wittenbecher
Copyright-Jahr
1999
Verlag
Deutscher Universitätsverlag
Electronic ISBN
978-3-663-09107-3
Print ISBN
978-3-8244-4361-1
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-663-09107-3