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2015 | Buch

Ordnungsbildung und Entgrenzung

Demokratie im Wandel

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Über dieses Buch

Die Komplexität von Politik in einer sich entgrenzenden Welt ergibt sich durch das vielschichtige Zusammenspiel von fluiden Grenzbildungen und erfordert neue Strukturen und eine neue Semantik von Demokratie. In diesem Band wird das Verständnis der theoretisch gehaltvollen Begriffe Ordnungsbildung und Entgrenzung aus gesellschaftstheoretischer Warte vertieft und anhand des Schwerpunkts Demokratiewandel beleuchtet. Die Thematisierung von Bestandsvoraussetzungen und Entwicklungschancen der Demokratie ist für das politikwissenschaftliche Selbstverständnis grundlegend. Doch die vorherrschende Konzentration auf die überlieferte „Norm“ der nationalstaatlich verstandenen Demokratie vermag die strukturell gewandelten Verhältnisse nur unzureichend zu erfassen. Der Vorzug einer historisch vermittelten Orientierung an der „Form“ der Demokratie erweitert den Analysefokus und eröffnet die Option, die gegenwärtig stattfindenden Wandlungsprozesse neu zu beschreiben.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter

Einleitung

Frontmatter
Konstituierung und Entgrenzung von (demokratischer) Ordnung in der Moderne – einführende Überlegungen
Zusammenfassung
„Gott würfelt nicht!“ lautet eine bekannte Sentenz, die dem Physiker Albert Einstein zugeschrieben wird und die von der menschlichen Sehnsucht nach einem geordneten Weltganzen Zeugnis ablegt. Als Grundkategorie menschlicher Welterfassung dient Ordnung der kategoriellen Abstraktion und ermöglicht die Strukturierung von Erfahrung. Die Suche nach Regelhaftigkeit, Wiederkehrendem, Vergleichbarem, Mustern, Strukturen etc. ist auch in den Sozialwissenschaften von elementarer Bedeutung. Erst der Wille zur Ordnung schafft die Voraussetzung für das Erkennen gesellschaftlicher Zusammenhänge.
Renate Martinsen

Teil I Dynamisierung der Demokratie

Frontmatter
Die Dynamisierung demokratischer Ordnungen
Zusammenfassung
Der Beitrag zeigt, wie sich Ordnungen durch die Deutungsöffnung ihrer Einheitsvorstellungen dynamisch konstituieren. Dadurch werden Ordnungen zu Orten von Deutungskonflikten und Kämpfen um Deutungsmacht. Diese Auseinandersetzungen dynamisieren Ordnungen, indem sie nicht nur ihren Wandel prägen, sondern ebenso ordnungszersetzend und schließlich auflösend wirken können. Vor diesem Hintergrund eröffnen sich Perspektiven auf den gegenwärtigen Wandel von Demokratien. Dies betrifft einerseits die Deutungskonflikte und -kämpfe, die der globale Siegeszug der Demokratie als hegemoniale Einheitsvorstellung politischer Ordnungen mit sich bringt, und andererseits die Krisen, in denen insbesondere die etablierten Demokratien des Westens seit geraumer Zeit gesehen werden.
André Brodocz
Demokratie, Protest und Wandel
Zur Dynamisierung des Demokratiebegriffs in Konflikten um große Infrastrukturprojekte am Beispiel von Stuttgart 21
Zusammenfassung
Geht man von einem primär funktionalen Verständnis von Demokratie aus, dann besteht der Vorteil dieser Herrschaftsform darin, dass sie am ehesten geeignet erscheint, das Problem sozialer Komplexität zu meistern, indem sie die Zukunft offen hält für neue Entscheidungen unter gewandelten Rahmenbedingungen. Es wird jedoch zunehmend evident, dass bei großen Infrastrukturprojekten langfristige Weichenstellungen erfolgen, die eine Reversibilität von Entscheidungen als Prämisse von Demokratie nicht gewährleisten. Vor diesem Hintergrund ist die Herausbildung einer neuen, in der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft angesiedelten Protestbewegung zu beobachten. In der Politikwissenschaft steht zur Debatte, ob es sich dabei um ein Krisensymptom der repräsentativen Demokratie handelt.
Im Beitrag werden zunächst die theoretischen Grundlagen eines sich gegenwärtig vollziehenden Wandels der Staatlichkeit expliziert und die zu Grunde gelegte politiktheoretische Lesart der Transformation von Demokratie und Protest vorgestellt. Es zeigt sich, dass sowohl Befürworter als auch Kritiker von Stuttgart 21 in ihren unterschiedlichen Deutungen von demokratischer Legitimität jeweils eine der beiden in Spannung zueinander stehenden Legitimationsquellen im demokratischen Verfassungsstaat akzentuieren, die entsprechend mit einer Präferenz für repräsentative bzw. direkte Demokratie korrelieren. Abschließend wird mit Bezugnahme auf die Stuttgarter Schlichtung diskutiert, inwiefern sich mit den neuen – in brisanten technikbasierten Konfliktfällen vermehrt zum Einsatz kommenden – politischen Kommunikationsverfahren Formen einer kommunikativen Demokratie herausbilden, welche geeignet erscheinen, die bisherigen Demokratiemodelle westlicher Staaten zu ergänzen.
Renate Martinsen
Postliberalismus
Zum Wandel liberaler Gesellschaften und demokratischer Politik
Zusammenfassung
Der politische und ökonomische Liberalismus, der die Verfassung westlicher Demokratien über zweihundert Jahre geprägt hat, scheint an eine Reihe von Grenzen geraten zu sein. Verschiedene Krisensymptome der liberalen Gesellschaftsverfassung legen den Übergang zu einem veränderten – postliberalen – Verständnis westlicher Gesellschaften nahe. Der Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, inwieweit der Begriff des Postliberalismus in der Lage ist, eine adäquatere Beschreibung der strukturellen und materiellen Besonderheiten des gesellschaftlichen Wandels zu liefern, als dies mit dem herkömmlichen Begriff des Liberalismus möglich ist. Zu diesem Zweck erfolgt zuerst eine detaillierte Beschreibung der postliberalen Situation der Gegenwart sowie eine Erläuterung des Begriffs des Postliberalismus. Sodann wird es darum gehen, welche methodischen und thematischen Herausforderungen sich aus der postliberalen Verfassung von Gesellschaften für die politische Philosophie ergeben. Abschließend werden einige zentrale Forschungsperspektiven behandelt.
Ludger Heidbrink
Das Abenteuer der Demokratie
Ungewissheit als demokratietheoretische Herausforderung
Zusammenfassung
Auf den ersten Blick scheint die Demokratietheorie der Gegenwart mit der Unterscheidung zwischen normativer und empirischer Demokratietheorie eine sinnvolle Aufteilung der grundlegenden Möglichkeiten demokratietheoretischen Denkens zu erfahren. Diese Aufteilung übersieht aber eine dritte kritische Variante, der es weder um eine bloße Beobachtung dessen, was der Fall ist, geht, noch um die Begründung eines normativen Demokratiemodells, sondern vielmehr um die normativ folgenreiche kritische Befragung bestehender Demokratieund Institutionenverständnisse. Für eine solche Annäherung an das Demokratiedenken sind die Überlegungen Claude Leforts wesentlich. Lefort versteht das demokratische Zeitalter als eines der dauerhaften Ungewissheit und vertritt deshalb als einer der ersten die für gegenwärtige kritische Annäherungen an die Demokratie wichtige These, dass Demokratie als ein Abenteuer begriffen werden muss, das sich in Form einer demokratischen Selbstbefragungspraxis vollzieht, die stets aufs Neue die demokratische Dekonstruktion und Rekonstitution gesellschaftlicher Ordnung ermöglicht.
Oliver Flügel-Martinsen

Teil II (Demokratische) Ordnungsbildung in der Weltgesellschaft

Frontmatter
Ordnungsbildung und Entgrenzung in der Weltgesellschaft
Internationale Politik zwischen Fragmentierung und Demokratisierung
Zusammenfassung
Der Beitrag untersucht Grundstrukturen von Ordnungsbildung und Entgrenzung im weltpolitischen System. Hierzu werden zentrale Theorien globaler politischer Ordnungsbildung in den Internationalen Beziehungen (vor allem das Konzept der Primärinstitutionen in der Englischen Schule) mit historisch inspirierten Theorien gesellschaftlicher Ordnung der Soziologie verbunden. Der Beitrag argumentiert, dass globale politische Ordnung wesentlich durch weltgesellschaftliche „Irritationen“, vor allem funktionale Differenzierung und das Inklusionspostulat mit Blick auf die moderne Idee des Individuums, geprägt ist. Der Beitrag diskutiert, inwieweit hierdurch Integration und Fragmentierung in der globalen Politik geprägt werden und was die Chancen für eine globale Entgrenzung von Demokratie sind.
Stephan Stetter
Transnationaler Konstitutionalismus und demokratische Legitimität
Zusammenfassung
Im Streit über die Bewältigung des Demokratiedefizits internationaler Organisationen und transnationaler Strukturen und Akteure verweisen einige auf einen entstehenden oder anzustrebenden transnationalen Konstitutionalismus. Von ihm wird erwartet, dass er parallel zu den Entwicklungen innerhalb der demokratischen Nationalstaaten Voraussetzungen für Grundrechte und demokratische Verfahren im globalen Rahmen sichert. Gegen solche Auffassungen werden jedoch gewichtige Kritiken vorgebracht, die in völkerrechtlichen Konstitutionalisierungstendenzen gerade eine wesentliche Gefahr für demokratische Strukturen sehen. Dieser Artikel überprüft daher, was für die jeweiligen Positionen spricht und inwiefern es einen Zusammenhang zwischen globaler Demokratie und globalem Konstitutionalismus gibt. Dazu wird zunächst der Begriff des transnationalen Konstitutionalismus präzisiert und von anderen Verfassungs- bzw. Verrechtlichungsbegriffen abgegrenzt. Auf dieser Grundlage werden zwei Verständnisse des internationalen Konstitutionalismus vorgestellt, und vier wesentliche Formen der Kritik daran präsentiert. Zuletzt wird die Reichweite der Kritik bewertet und ein Angebot unterbreitet, wie die Ambivalenz des transnationalen Konstitutionalismus zu verstehen ist und warum er dennoch für die transnationale Demokratie unverzichtbar ist.
Andreas Niederberger
Cubicle Land – Bürokratie und Demokratie in der Regierung der Welt
Zusammenfassung
Die These Max Webers, dass der Wesenszug moderner Gesellschaften die formale Rationalisierung sei, ist in der Betrachtung internationaler Politik bis heute kaum beachtet worden. Das globale Wachstum von bürokratischen Apparaten als politisches Resultat dieser Rationalisierung wird in diesem Beitrag mit Blick auf die „Regierung der Welt“ diskutiert. In verschiedenen globalen Politikfeldern, in der Entwicklungspolitik wie in der Wissenschaftspolitik, so die These des Beitrags, mündet die Geschichte der bürokratischen Herrschaft gegenwärtig in eine neue Form. „Cubicle Land“ ist eine Chiffre für die netzwerkartig verknüpften bürokratischen Zellen, in denen die sich selbst steuernden Angestellten in Projekten dem „team leader“ zuarbeiten.
Klaus Schlichte

Teil III Demokratie und das Andere der Ordnung

Frontmatter
Exit(us), Voice and Loyalty
Rousseau, der Scheintod und die Demokratie
Zusammenfassung
Hält man sich an Rousseau, dann gibt es Demokratie nur als demokratischen Augenblick: den Moment, in dem alle zusammen eine existenzielle Gefahr abwehren, die jeden Einzelnen elementar bedroht. Außerhalb dieses Extremfalls existiert kein öffentliches Leben, kollektive Entscheidungen haben da nichts verloren, und Demokratie findet nicht statt.
Wer dennoch, um bei Gelegenheit das Publikum wachzurütteln, den Ausnahmefall herbeireden will, wird Schiffbruch erleiden – „mangelnder Ernst“ lässt sich rhetorisch nicht kompensieren. Diese Erfahrung mussten zumindest jene wortmächtigen Zeitgenossen Rousseaus machen, die – aus welchen Gründen auch immer – versucht haben, den Scheintod zur allgemeinen Katastrophe aufzublasen.
Die Scheintod-Debatte schärft den Blick für Komplikationen im Verhältnis von Ernstfall und Demokratie(-theorie). Insofern ist sie mehr als eine wissenschaftsgeschichtlich bemerkenswerte Episode.
Wolfgang Fach
Demokratie, Migration und die Konstruktion des Anderen
Zusammenfassung
Die Grenzen demokratischer Gemeinwesen scheinen angesichts globaler Migrationsbewegungen fraglicher denn je. Werden diese überschritten, wirft dies unweigerlich die Frage nach dem Einbezug des „Anderen“ in den demokratischen Prozess auf.
In der feministisch geprägten partizipatorischen Demokratietheorie, deren Richtschnur die politische Gleichheit ist, plädieren Iris M. Young und Jane Mansbridge für die Institutionalisierung gruppenspezifischer Maßnahmen für strukturell benachteiligte Gruppen. Den Vorwurf, ihren Annahmen liege ein essentialistisches Gruppenverständnis zugrunde, können sie nur bedingt entkräften. Demgegenüber stellen konstruktivistische und dekonstruktivistische Ansätze den konstruierten Charakter von kollektiven Identitäten heraus und zeigen, wie „der Andere“ diskursiv hervorgebracht wird – eine Position, die den komplexen Inklusions- und Exklusionsverhältnissen angemessener zu sein scheint und von der darüber hinaus auch die partizipatorische Demokratietheorie profitieren könnte.
Am bundesdeutschen Umgang mit Zuwanderung wird deutlich, inwieweit die Regeln der Inklusion und der Zuerkennung politischer Rechte verschoben wurden und welche Herausforderungen weiterhin bestehen.
Christiane Bausch
Globale Proteste und die Demokratisierung der Demokratie
Anmerkungen zum Kosmopolitismus
Zusammenfassung
Der Beitrag stellt die Frage, in welcher Weise der aktuelle Erfahrungshintergrund globaler Kämpfe um Demokratisierung die Demokratietheorie informieren sollte. Statt an dem in der politischen Theorie dominanten „philosophisch-juridischen“ Souveränitätsparadigma (Foucault) festzuhalten, wird das Paradigma der cosmopolitan democracy oder demokratischen Weltbürgergesellschaft kritisch hinsichtlich rechtstheoretischer Engführungen befragt. Darüber hinaus wird die tendenzielle Verwerfung der unhintergehbaren Natur von Konfliktualität, wie sie in solchen Ansätzen anzutreffen ist, kritisiert und werden Schlussfolgerungen hinsichtlich des globalen Demokratie- und Öffentlichkeitsbegriffs gezogen, die – abseits aller Verkürzung des Politischen auf das Juridische und Institutionelle – eine positive Neubewertung der politischen wie demokratisierenden Funktion von Protest in der globalen Weltbürgergesellschaft nahelegen.
Oliver Marchart
Backmatter
Metadaten
Titel
Ordnungsbildung und Entgrenzung
herausgegeben von
Renate Martinsen
Copyright-Jahr
2015
Electronic ISBN
978-3-658-02718-6
Print ISBN
978-3-658-02717-9
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-02718-6