Unter der Bezeichnung Dynamik, die sich von dem griechischen Wort „dynamis“ für „Kraft“ ableitet, versteht man in der Physik die Lehre von den Kräften und den durch sie hervorgerufenen Veränderungen. In der Mechanik bezeichnet das Wort insbesondere die Lehre von den Bewegungen der Körper und ihren Ursachen. Von dort aus ist der Name sinngemäß auch auf andere Bereiche ausgedehnt worden, was sich in Begriffsbildungen wie Hydrodynamik, Thermodynamik oder Elektrodynamik widerspiegelt. Unter Stoffdynamik soll hier ganz allgemein die Lehre von den stofflichen Umbildungen und den sie treibenden „Kräften“ verstanden werden. Gleichgewichtszustände (Statik, auch als „chemische Thermodynamik“ bezeichnet) werden ebenso behandelt wie der zeitliche Ablauf stofflicher Veränderungen (Kinetik) oder der Einfluss elektrischer Felder (Elektrochemie).
Die Energie ist eine Größe, die nicht nur in verschiedensten Bereichen der Naturwissenschaft, Technik und Wirtschaft eine beherrschende Rolle spielt, sondern sie ist auch aus unserer Alltagswelt nicht mehr wegzudenken. Wir kaufen sie in großen Mengen und zahlen dafür mit jeder Rechnung, die für Strom, Gas, Heizöl ins Haus gelangt. Auf jeder Lebensmittelpackung finden sich Angaben zum Energiegehalt des Gutes darin. Fast täglich werden wir mit der Frage konfrontiert, was wir zur Energieeinsparung tun können, um den Bedarf daran jetzt und in Zukunft decken zu können.
Kernbegriffe der Wärmelehre sind Entropie S und Temperatur T. Während die Temperatur jedoch jedermann geläufig ist, gilt die Entropie als besonders schwierig, sozusagen als „schwarzes Schaf“ unter den physikochemischen Begriffen. Schulbücher haben sie früher ganz übergangen, einführende Physikbücher haben sie oft nur erwähnt und selbst Fachleute umgehen sie gern.
Nach unserem kurzen Ausflug in die Wärmelehre wenden wir uns nun dem chemischen Potenzial µ zu, dem neben der Stoffmenge n wichtigsten und tragfähigsten Begriff der Stoffdynamik.
Die Tabellenwerte, mit denen wir bisher gerechnet haben, waren die sogenannten Normwerte, die sich auf 298 K und 100 kPa, also auf etwa Zimmertemperatur und Normaldruck beziehen; bei gelösten Stoffen trat die Normkonzentration 1 kmol m-3 hinzu. Entsprechend gelten die Aussagen über die Möglichkeit einer Umbildung bisher nur für diese Bedingungen.
Dass die eingesetzten Mengen der reagierenden Stoffe den Antrieb chemischer Umsetzungen entscheidend mitbestimmen können, ist schon eine alte Erfahrung. Als erster hob 1799 der französische Chemiker Claude-Louis BERTHOLLET diesen Einfluss hervor und erörterte ihn an vielen Beispielen.
Die Vorgehensweise, die wir bisher kennen gelernt haben, ist in gleicher Weise auf jede beliebige Umbildung anwendbar. Für die Stoffdynamik ist es unerheblich, wie wir uns vorstellen, dass der Vorgang auf molekularer Ebene zustande kommt, ob durch Lösen und Knüpfen chemischer Bindungen, durch Umbau eines Kristallgitters, durch Einwanderung von Teilchen, durch Übertragung von Elektronen oder ganzen Atomgruppen von einer Teilchenart auf die andere oder sonst wie. Wir wollen uns dabei zunächst auf ein Beispiel konzentrieren, das der Säure-Base-Reaktionen, um zu zeigen, dass sich das chemische Potenzial auch zur Beschreibung recht spezialisierter und differenzierter Bereiche eignet.
Vorbemerkung. Homogene Bereiche, in denen Druck, Temperatur und Zusammensetzung überall gleich sind, bilden die Grundbausteine derjenigen Systeme, mit denen sich die Stoffdynamik vorrangig befasst. Ein Bereich dieser Art wird als Phase bezeichnet (Abschnitt 1.5). Fasst man zwei Teile davon zu einem zusammen, dann addieren sich Größen wie das Volumen V, die Entropie S, die Stoffmengen ni usw., während der Druck p, die Temperatur T, die chemischen Potenziale µi usw. unverändert bleiben. Größen der ersten Art nennt man extensiv, die der zweiten intensiv (Abschnitt 1.6).
Alle gasigen und gelösten Stoffe zeigen in verdünntem Zustand bemerkenswerte Gemeinsamkeiten. Mit einigen Zügen dieses Verhaltens wollen wir uns in diesem Kapitel beschäftigen. Als Musterbeispiel für die besonderen Eigenschaften dünner Stoffe gilt das Verhalten von Gasen. Je dünner ein Gas ist, desto deutlicher treten diese Eigenschaften hervor, die im Grenzfall hoher Verdünnung den Charakter strenger Gesetze annehmen. Das wichtigste von diesen Gesetzen ist das sogenannte allgemeine Gasgesetz oder kurz Gasgesetz, das auf prägnante Weise eine Reihe wichtiger Eigenschaften in einer einfachen Formel zusammenfasst. Während man z. B. bei festen Stoffen feststellt, dass das Volumen einer abgegrenzten Stoffmenge beim Erwärmen oder Zusammendrücken sich je nach Art des Stoffes einmal mehr und einmal weniger ändert, verhalten sich sämtliche dünnen Gase hier gleich. Die relativen Abweichungen des nach dem allgemeinen Gasgesetz berechneten Volumens vom tatsächlichen Wert liegen bereits unter Zimmerbedingungen für die verschiedensten Gase in der Größenordnung von nur 1 % und streben mit sinkendem Druck p proportional zu p gegen null. Bei Zimmerluft liegen die Abweichungen sogar nur im Promillebereich, so dass die Luft als bequemes Modell für ein dünnes Gas gelten kann.
Das allgemeine Gasgesetz ist nur eine Näherung, die umso genauere Ergebnisse liefert, je dünner ein Gas ist. Verdichtet man ein Gas stärker, dann werden die Abweichungen vom allgemeinen Gasgesetz merklich. Wir wollen das an einem Beispiel erläutern: Sauerstoff kommt in Stahlflaschen, bis zu einem Druck von 20 MPa (= 200 bar) verdichtet, in den Handel. Unter diesen Umständen ist der Bewegungsspielraum für die Teilchen weitgehend verschwunden. Ihre Packungsdichte ist ähnlich hoch wie in einer Flüssigkeit. Die Eigenschaften derart dichter Gase unterscheiden sich begreiflicherweise von denen im dünnen Zustand.
Bisher hatten wir uns bei der Betrachtung des chemischen Potenzials im Wesentlichen auf chemische Umsetzungen und Phasenumwandlungen konzentriert; daneben ist jedoch eine weitere Eigenschaft der Stoffe fast ebenso bedeutsam: die Neigung, sich im Raum auszubreiten, sei er leer oder materieerfüllt. Auch diese Erscheinung kann man sich leicht an alltäglichen Vorgängen verdeutlichen. Die Stoffe wandern zwar meist äußerst langsam in winzigsten Mengen und dadurch sehr unauffällig, aber es gibt durchaus zahlreiche Beispiele, wo die Ausbreitung bemerkbar wird. Wenn die Aromastoffe aus frisch gemahlenem, unverpacktem Kaffee in Tagen entweichen, wenn Pfützen nach einem Regen in Stunden verdunsten, die Klebstofflösung aus der Tube in Minuten erstarrt und die aus dem Filzschreiber ausfließende „Tinte“ in Augenblicken eintrocknet, dann zeigt das, wie beweglich und flüchtig manche Stoffe sein können. Dass die Stoffe nicht einfach verschwinden, sondern sich nur umverteilen, wird an anderen Beispielen deutlich.
Schauen wir uns zunächst Mischungen aus zwei flüssigen Komponenten an. Ein Gemisch aus Ethanol und Wasser, wie es vereinfachend ja auch z. B. ein Schnaps darstellt, ist beliebig lange haltbar; wir beobachten stets nur eine Phase, das heißt einen einzigen homogenen Materiebereich (vgl. Abschnitt 1.5). Lassen wir hingegen eine heiße Mischung aus Phenol und Wasser abkühlen, so zerfällt sie in zwei getrennte Bereiche (Versuch 13.1). Es findet also eine Entmischung statt. Dies wird besonders gut sichtbar, wenn man Methylrot in geringer Menge zur Ausgangsmischung hinzufügt. Da der Farbstoff in Wasser kaum, in Phenol jedoch gut löslich ist, verbleibt er in der phenolreichen Phase. hnlich ist die Situation im Fall von Ether und Wasser. Gibt man zu Wasser nur eine geringe Menge an mit etwas Iod braungefärbten Ether, so erhält man eine gleichförmig bräunliche Lösung, weil sich der wenige Ether vollständig im Wasser auflöst und sich damit auch das Iod im Wasser verteilen muss (Versuch 13.2). Bei einem Verhältnis von Ether zu Wasser von 1:5 scheidet sich jedoch ein Großteil des Ethers als braune Schicht über dem nahezu farblosen Wasser ab, da das Wasser nur etwa 10 % seines Volumens an Ether aufzunehmen vermag. Da sich Iod in Ether weitaus besser löst als in Wasser, wandert es aus der wässerigen Phase aus und sammelt sich in der darüber stehenden Etherschicht, wie in den Abschnitten 4.3 und 6.6 bereits besprochen wurde.
Zustandsdiagramme reiner Stoffe hatten wir bereits in Kapitel 11 kennen gelernt. Aus ihnen konnte abgelesen werden, welche Phase bei vorgegebenen Bedingungen (Temperatur, Druck) die stabilste ist. Ganz analog können nun Zustandsdiagramme für Mischungen aufgestellt werden, wobei wir uns auf Zweistoffsysteme, d. h. sog. binäre Mischungen aus zwei Komponenten, beschränken wollen. Neben dem Druck p und der Temperatur T tritt hier jedoch die Zusammensetzung x als dritte Variable auf. Eine vollständige Beschreibung der Systeme ist daher nur durch dreidimensionale Zustandsdiagramme möglich. Ein Beispiel zeigt Abbildung 14.1. Durch gekrümmte Flächen wird das Diagramm in einphasige oder zweiphasige (dunkel gefärbte) Raumbereiche aufgeteilt. Begrenzt wird es links (x = 0) und rechts (x = 1) durch die schon bekannten ebenen Zustandsdiagramme der reinen Komponenten (vgl. rechts herausgezeichnetes Diagramm mit Abbildung 11.10). Das Ganze sieht zunächst recht kompliziert aus, doch keine Sorge, gewöhnlich verzichtet man auf eine Variable und hält entweder den Druck oder die Temperatur konstant. Das resultierende Zustandsdiagramm ist dann wieder zweidimensional.
Als Phasengrenzfläche (kurz: Grenzfläche) bezeichnet man die Trennungsfläche zwischen zwei Phasen. Die Grenzfläche gegenüber einer Gasphase heißt auch Oberfläche.
Unter chemischer Kinetik oder kurz Kinetik versteht man das Teilgebiet der Chemie, das sich mit dem zeitlichen Ablauf von Stoffumbildungen und ihren Zwischenstufen befasst, insbesondere der
Aufzeichnung des zeitlichen Ablaufs chemischer Reaktionen,
Ermittlung der Geschwindigkeitsgleichungen und Zeitgesetze unter gegebenen Bedingungen,
Erfassung der Zwischenschritte (Aufklärung des Reaktions-„Mechanismus“ oder -„Chemismus“),
Untersuchung der Temperaturabhängigkeit,
Erforschung fördernder und hemmender Einflüsse (Katalyse, Inhibition).
Kinetische Untersuchungen zeigen, dass die einfachen Geschwindigkeitsgesetze, die wir bisher kennen gelernt haben, oft nicht zur korrekten Beschreibung des zeitlichen Ablaufs einer Reaktion oder der Zusammensetzung des Reaktionsgemisches ausreichen. Das ist ein Hinweis darauf, dass selbst durch einfache Bruttoumsatzformeln beschreibbare Umsetzungen häufig nach komplizierteren Mechanismen ablaufen.
Die Alltagserfahrung lehrt, dass die Geschwindigkeit chemischer Reaktionen bei Temperaturerhöhung fast immer ansteigt. So verderben Lebensmittel, die an einem heißen Sommertag draußen stehen, viel schneller als im Kühlschrank. Auch die uns bereits bekannte Entfärbung von Kaliumpermanganat-Lösung durch Oxalsäure in schwefelsaurer Lösung wird durch Erwärmung sichtbar beschleunigt (Versuch 18.1).
Reaktionen können, wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben, durch Temperaturerhöhung beschleunigt werden. Eine alternative Möglichkeit, die Geschwindigkeit einer chemischen Umsetzung zu erhöhen, stellt die Katalyse dar. Der zu diesem Zweck in kleinen Mengen beigefügte Stoff, der Katalysator, wird dabei selbst nicht verbraucht. Er verringert den Reaktionswiderstand, indem er leichter gangbare Nebenwege öffnet. Ein aus dem Alltag wohlbekanntes Beispiel ist der Abgaskatalysator in Kraftfahrzeugen mit Ottomotor, der Verbrennungsschadstoffe durch beschleunigte Nachreaktionen beseitigt.
Damit eine bi- oder gar trimolekulare Reaktion überhaupt ablaufen kann, müssen sich die reagierenden Teilchen – trivialerweise – zumindest begegnen. Nicht jede Begegnung führt, wie wir gesehen haben, zu einer Reaktion, da die Teilchen dazu die nötige Energie mitbringen müssen, um den meist recht energiereichen Übergangskomplex zu bilden. Nun ist die mikroskopische Geschwindigkeit der Teilchen zwar in allen Aggregatzuständen bei derselben Temperatur grundsätzlich gleich, jedoch ist, verglichen mit Gasen, ihre Beweglichkeit in Flüssigkeiten und erst recht in Feststoffen stark eingeschränkt. Im Extremfall, in Kristallen, erschöpft sich ihre Bewegung in einem schnellen Zittern um eine Ruhelage. Nur gelegentlich kommt ein Ausweichen auf Zwischengitterplätze oder ein Platzwechsel vor. Mit der vom Gas zum Feststoff zunehmenden Kondensation der Teilchen steigt sowohl die Häufigkeit der Stöße als auch die mittlere Verweilzeit eines Teilchens in der Nachbarschaft eines anderen. Während eine Begegnung zweier Gasteilchen nur ein sehr flüchtiges Ereignis ist, nach dem sich die Partner sofort wieder trennen, werden dagegen Teilchen, die in einer Flüssigkeit zusammentreffen, durch das Gedränge ihrer Nachbarn meist eine ganze Weile zusammengehalten.
Im ersten Kapitel hatten wir bereits den Begriff der Phase für einen materiellen Bereich, der in sich gleichförmig ist, kennen gelernt. Ist eine solche Phase elektrisch leitend, weil sie bewegliche Elektronen oder Ionen enthält, aber gegen die Umgebung isoliert, dann gleichen sich alle etwaigen Unterschiede des elektrischen Potenzials nach kurzer Zeit aus, so dass es im Innern der ganzen Phase – abgesehen von einer mikroskopisch dünnen Randschicht – einen einheitlichen Wert besitzt. Man kann dann von dem inneren elektrischen Potenzial der Phase schlechthin sprechen. Zwischen zwei aneinander grenzenden, chemisch verschiedenen Phasen, etwa zwischen zwei Metallen oder zwischen Metall und Lösung, gleicht sich das elektrische Potenzial dagegen im Allgemeinen nicht aus. Vielmehr bildet sich in der Regel eine wohlbestimmte elektrische Potenzialdifferenz, also eine elektrische Spannung, aus. Man nennt diese an den Phasengrenzen entstehenden Spannungen Galvanispannungen.
Wasserstoff-Normalelektrode. Leider lässt sich die Galvanispannung an einer einzelnen Grenzfläche nicht direkt messen, da der Anschluss der Elektrolytlösung an die Zuleitungen eines geeigneten elektrischen Messgerätes zwangsläufig eine zweite Elektrode erfordert, was eine neue Grenzfläche mit zusätzlicher Galvanispannung schafft. Das Messgerät, ein Voltmeter, zeigt also die Summe der zwei (oder mehr) Galvanispannungen an, die sich an den verschiedenen Phasengrenzflächen ausbilden. Die gesamte Anordnung, eine Kombination aus zwei Halbzellen, wird als galvanische Zelle oder auch galvanisches Element bezeichnet. Hält man nun bis auf eine alle Spannungen konstant, wird die Gesamtspannung nur durch Änderungen dieser einen Galvanispannung beeinflusst. Von dieser Möglichkeit wird in der Messtechnik häufig Gebrauch gemacht. Die Galvanispannung an der einen Elektrode kann man dadurch konstant halten, dass man dort stets dieselben Bedingungen einhält, also stets die gleiche Bezugshalbzelle verwendet. Man ist übereingekommen, bei den üblichen Wertangaben als Bezugshalbzelle eine sogenannte Wasserstoff-Normalelektrode (kurz NHE) zugrunde zu legen. Das Redoxpaar ist Wasserstoffgas beim Normdruck 100 kPa einerseits und eine Wasserstoffionen-Lösung mit dem pH-Wert 0 andererseits.
Georg Job, Regina Rüffler
Backmatter
Metadaten
Titel
Physikalische Chemie
verfasst von
Georg Job Regina Rüffler
Copyright-Jahr
2011
Verlag
Vieweg+Teubner
Electronic ISBN
978-3-8348-9834-0
Print ISBN
978-3-8351-0040-4
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-8348-9834-0
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