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2017 | Buch

Regulierungen des Intimen

Sexualität und Recht im modernen Staat

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Über dieses Buch

Im Rechtsdiskurs wird seit dem Paradigmenwechsel von der Sittlichkeit zum Rechtsgüterschutz das Dogma der staatsfreien Privatsphäre propagiert, welche manchen gar als Inbegriff moderner Staatlichkeit gilt. Tatsächlich gibt es jedoch vielfältige rechtliche Regelungen konsensualer Sexualitäten, die sich auf Autonomie, Privatheit, Konfrontationsschutz, Bevölkerungspolitiken, Zuwanderung, Staatsdienst, Jugendschutz, Kommerzialisierung oder Moralvorstellungen beziehen. Die Autor*innen des Bandes fragen nach Notwendigkeit, Legitimation, Ausgestaltung und Grenzen von Regulierungen einverständlicher Sexualität als bedeutsamer sozialer Praxis der Bürger*innen, die an staatliche Interessen rührt, das gelingende Zusammenleben betrifft sowie in Konkurrenz zu und Interdependenz mit anderen, insbesondere geschlechtlichen, Normenordnungen steht.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter

Einführung

Frontmatter
Sexualität und Recht: eine Einführung
Zusammenfassung
Im Rechtsdiskurs wird der Umstand, dass rechtliche Normen erheblichen Einfluss auch auf konsensuale Sexualitäten haben, weithin ignoriert. Seit dem Paradigmenwechsel von der Sittlichkeit zum Rechtsgüterschutz gilt das Dogma der staatsfreien Intimsphäre, wonach der moderne Rechtsstaat sich aus den sexuellen Beziehungen seiner Bürger*innen herauszuhalten habe, sofern diese nur einverständlich sind. Hintergrund ist ein reduzierter Liberalismus, der nicht nach den Bedingungen sexueller Autonomie fragt, aber auch ein herrschaftsstabilisierendes Verständnis von Privatheit. Tatsächlich gibt es vielfältige rechtliche Regelungen konsensualer Sexualitäten unter Erwachsenen, die sich auf Öffentlichkeiten, Konfrontationsschutz, Bevölkerungspolitiken, Zuwanderung, Staatsdienst, Jugendschutz, Kommerzialisierung oder Moralvorstellungen beziehen. Ihre Legitimität ist differenziert zu bewerten. Auffällig ist, dass auch der Rechtsdiskurs keine Definition von Sexualitäten als Regelungsgegenstand gibt, ungeachtet aller Freiheitsrhetorik aber wesentlich an der Aufrechterhaltung und Verbreitung eines reduzierten Sexualitätsverständnisses, vergeschlechtlichter Sexualitätsmythen und entsprechender Geschlechterstereotype beteiligt ist.
Ulrike Lembke

Die Individualrechtspositionen: Sexuelle Autonomie

Frontmatter
Sexuelle Selbstbestimmung als Individualrecht und als Rechtsgut
Überlegungen zu Regulierungen des Intimen als Einschränkung sexueller Autonomie
Zusammenfassung
Sexuelle Selbstbestimmung ist ein „spätes“ Rechtsgut: Es wurde erst im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts explizit in Strafrechtsordnungen aufgenommen, um das Konzept der „Sittlichkeit“ mit seinen Korrelaten der Unzucht und Notzucht zu ersetzen. Der vorliegende Beitrag ist von dem Anliegen getragen, ein Konzept der sexuellen Autonomie zu entwickeln, das rechtsphilosophisch gehaltvoll ebenso wie geschlechtertheoretisch fundiert ist und geschlechterpolitisch produktive Analysen anzufachen vermag. Um dies zu leisten, werden jene in der Gesellschaft wirkmächtigen, im Zeichen heteronormativer Zurichtung stehenden regulativen Strukturen aufgezeigt, die Entscheidungen im Bereich des Sexuellen beeinflussen und sexuelle Autonomie einschränken. Abschließend wird dargelegt, inwieweit sich die Konzeption der sexuellen Autonomie im deutschen Verfassungsrecht spiegelt, und welche Anforderungen sich daraus für das Recht ergeben. Ein entsprechendes Leitbild unter Einbeziehung queer_feministischer Überlegungen zu elaborieren und in Begründung wie Anwendung einschlägiger Normen einfließen zu lassen, ist Aufgabe eines adäquaten rechtlichen Diskurses.
Elisabeth Holzleithner
Sexuelle Freiheiten als LGB-Menschenrecht
Privatheitsschutz oder „öffentlicher Belang“?
Zusammenfassung
Kennen internationale LGB-Menschenrechte den Schutz sexueller Freiheiten im Sinne eines Schutzes sexueller Freiheiten von Menschen, die sich einer vorherrschenden heteronormativen Geschlechter- und Sexualordnung nicht unterwerfen können/wollen? Wenn ja, wie ist er konzipiert, wie verankert? Diesen Fragen geht der Beitrag anhand einer Analyse der Gehalte der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) in ihrer Konkretisierung durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in sog. LGB-Fällen nach. Dabei wird der Schutz sexueller Freiheiten als Privatheitsschutz gemäß Artikel 8 EMRK nachgezeichnet.
So wichtig und nachvollziehbar ein solcher Schutz der höchst intimen und damit auch privaten Sphäre ist, so relevant ist es auch immer, die Konsequenzen der Verschiebung von Sachverhalten in den privaten Bereich zu hinterfragen, die neben der Selbstbestimmung des Individuums etwa auch Diskriminierungsdimensionen oder Eingriffe in die physische Integrität beinhalten können. Inwiefern ist also mit Blick auf die menschenrechtliche Pflichtentrias „to respect, to protect, to fulfil“ auch in Fällen der sexuellen Freiheiten die politische und damit öffentliche Dimension des Privaten in der menschenrechtlichen Überprüfung stets mit zu berücksichtigen?
Katharina Bager, Sarah Elsuni
Hat der Staat den Bürger*innen Sexualität zu ermöglichen?
Zusammenfassung
Der Beitrag beleuchtet die Bedeutung positiver Rechte für die Sicherung sexueller Autonomie: In wieweit hat der Staat die Grundbedingungen dafür zu schaffen, dass Menschen ihr Recht auf sexuelle Selbstbestimmung verwirklichen können?
In Deutschland ist die staatliche Förderung der sexuellen Selbstbestimmung kein Zukunftsszenario, sondern gängige Praxis. So ist die Sexualkunde fester Bestandteil der Lehrpläne in den Schulen und das Schwangerschaftskonfliktgesetz sichert ein Recht auf Sexualaufklärung und Beratung in Fragen der Verhütung und Familienplanung zu. Erfüllt der Staat damit bereits seine Gewährleistungspflicht oder lassen sich aus der Verfassung oder den internationalen Menschenrechtsabkommen weitergehende soziale Rechte, z. B. auf Zugang zu erschwinglichen oder kostenlosen Verhütungsmitteln ableiten? Zur Klärung dieser Frage arbeitet die Verfasserin zunächst die Grundbedingungen sexuellen Handelns heraus und beleuchtet die Behinderung der sexuellen Autonomie von Menschen, die in Heimen und anderen betreuten Wohnformen leben. Sie stellt dar, in welchem Umfang sexualbezogene Bedarfe aktuell durch die Leistungen der Grundsicherung abgedeckt werden und zeigt sozialrechtliche Friktionen auf. Welche Formen sexuellen Handelns hat der Staat in welchem Umfang zu fördern? Dies diskutiert Zinsmeister am Beispiel von Viagra und der Sexualassistenz für Menschen mit Behinderungen und macht den dilemmatischen Charakter der Forderung nach einem positiven Recht auf Sex deutlich: Kann der Staat zur Förderung selbstbestimmter Sexualität beitragen, ohne das menschliche Begehren erneut in ein normatives Korsett zu schnüren?
In der Diskussion der rechtlichen Dimensionen sexueller Autonomie stehen für gewöhnlich deren normative Grenzen und der staatliche Schutz der Einzelnen vor sexualisierten Grenzverletzungen im Vordergrund. Bisher kaum beleuchtet wurde die Frage, ob das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung auch eine Gewährleistungsfunktion hat und den Einzelnen einen sexuellen „status positivus“ (Jellinek 1959) verleiht.
Ist der Staat verpflichtet, seinen Bürger*innen Zugang zu Verhütungsmitteln zu sichern? Darf er trotz seiner Pflicht zur Achtung der Privat- und Intimsphäre Menschen gegen ihren Wunsch und Willen in Gemeinschaftsunterkünften unterbringen? Können diejenigen, die aufgrund einer spastischen Lähmung außerstande sind, sich selbst zu befriedigen, von der gesetzlichen Krankenversicherung oder dem Sozialhilfeträger eine Sexualassistenz finanziert verlangen?
Der Beitrag skizziert einleitend die Bedeutung positiver bzw. sozialer Rechte und die Grundbedingungen, die Menschen benötigen, um ihre sexuelle Autono- mie verwirklichen zu können. Es soll ermittelt werden, ob das Sozialrecht bereits bestimmten Bedarfen Rechnung trägt und sich aus der Verfassung und den inter- nationalen Menschenrechten weitere staatliche Gewährleistungspflichten oder gar subjektive Rechte der Bürger*innen auf sexualbezogene Leistungen ableiten lassen.
Die staatliche Förderung der sexuellen Selbstbestimmung ist kein Zukunfts- szenario, sondern gängige staatliche Praxis: Sexualkunde ist fester Bestandteil der Lehrpläne in den Schulen (hierzu Müller, in diesem Band, S. 237ff.; Tuider 2012). § 2 Schwangerschaftskonfliktgesetz sichert „jeder Frau und jedem Mann“ das Recht zu, sich zum Zwecke der gesundheitlichen Vorsorge und der Vermeidung und Lösung von Schwangerschaftskonflikten in Fragen der Sexualaufklärung, Verhütung und Familienplanung sowie in allen eine Schwangerschaft unmittelbar oder mittelbar berührenden Fragen beraten zu lassen. Gesetzlich Krankenversicherte haben gemäß § 24a Abs. 2 Sozialgesetzbuch V bis zum vollendeten 20. Lebensjahr Anspruch auf Versorgung mit ärztlich verordneten empfängnisverhütenden Mitteln.
Die Verankerung und Verwirklichung positiver Rechte erfordern es, deren Reichweite zu bestimmen. Umfasst das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung auch die kostenlose Behandlung einer erektilen Dysfunktion mit „Viagra“, eine Geschlechtsumwandlung oder die staatliche Finanzierung eines Bordellbesuchs? Welche Formen sexuellen Handelns hat der Staat in welchem Umfang zu fördern? Warum müssen und dürfen die gesetzlichen Krankenkassen nur verheirateten Versicherten eine künstliche Insemination finanzieren (Bundessozialgericht vom 18.11.2014)? Das Sozialrecht liefert viele Beispiele für die Verhaftung der deutschen Rechtsordnung in einem heteronormativen Verständnis von Geschlecht, Sexualität und Familie, dem eine Vielzahl von Bürger*innen nicht entsprechen können und wollen. Der dilemmatische Charakter der Forderung nach einem positiven. Recht auf Sex ist mithin offenkundig: Wer der sexuellen Selbstbestimmung durch subjektive Rechte Geltung verschaffen will, läuft Gefahr, Sexualität damit erneut in ein normatives Korsett zu schnüren.
Julia Zinsmeister

Staatliche Regelungsinteressen: Reproduktion, Ehe und Familie

Frontmatter
„Produktive Sexualität“: Bevölkerungspolitik durch Recht
Zusammenfassung
Der deutsche Diskurs über Bevölkerungspolitik dreht sich im Wesentlichen um die als zu niedrig befundene Geburtenrate, die daraus resultierenden prognostizierten Probleme und die hiervon abgeleitete Notwendigkeit einer aktiven Geburtenförderung durch den Staat. Bevölkerungspolitik ist jedoch keine Staatsaufgabe. Im freiheitlichen Staat ist die Entscheidung den Einzelnen überlassen, ob sie Eltern werden wollen oder nicht. Familienförderung hat dafür zu sorgen, dass die Bedingungen für die Kinder, die es bereits gibt – und deren Eltern – adäquat sind, unzulässig ist es hingegen, Anreize für die Geburt möglichst vieler Kinder zu setzen. Die Demographie-Debatte ist gefährlich, da sie häufig ideologisch gegen emanzipative Politik im Geschlechterverhältnis eingesetzt wird. Familienfördernde Instrumente müssen kritisch daraufh in befragt werden, ob sie gute Sozialpolitik darstellen. Denn eigentlich gleichberechtigungsfreundlich gemeinte Maßnahmen können antiemanzipative Effekte entfalten. Einige Förderungsmittel kommen überproportional den ohnehin relativ wohlhabenden Familien zugute. Im bevölkerungspolitischen Diskurs kommen häufig sexistische, rassistische, ableistische und klassenspezifische Aspekte zusammen, da familienpolitische Maßnahmen diesbezüglich oft selektiv wirken.
Ute Sacksofsky
Eheliche (Rechts-)Pflichten: Ein verborgener Diskurs
Zusammenfassung
Es ist weitgehend ungeklärt, warum bestimmte Paarbeziehungen rechtlich privilegiert werden und wie genau diese Beziehungen heute aussehen müssen. Man muss zunächst einräumen, dass die Ehe und die Lebenspartnerschaft Rechtsinstitute sind, in denen typischerweise auch eine exklusive sexuelle Beziehung angestrebt wird. Entsprechend umfasste § 1353 BGB nach der ursprünglichen Intention des Gesetzgebers wohl sexuelle Pflichten. Die Auslegung der Norm steht aber gesellschaftlichen Veränderungen gegenüber offen. Sexuelle Pflichten müssen heute abgelehnt werden. Als Eingriff in einen inneren Bereich der Persönlichkeit lassen sie sich nicht rechtfertigen. Weder Art. 6 Abs. 1 GG noch die Grundrechte des anderen Ehegatten erfordern solche Pflichten.
Schließlich muss beachtet werden, dass sexuelle Pflichten auch bindenden vertraglichen Absprachen weitgehend entzogen sind. Das führt dazu, dass die Ausübung von Sexualität in der Ehe weitgehend außerrechtlichen Absprachen überlassen bleibt.
Bettina Heiderhoff
Eheschließungsfreiheit im Kampf der Kulturen
Zusammenfassung
Die verfassungsrechtliche Eheschließungsfreiheit sichert insbesondere Frauen die freie Entschließung zur Ehe sowie die Wahl des Partners. Ihr hoher Stellenwert hängt historisch auch am mit der Ehe verbundenen Zugriff auf den weiblichen Körper. Heute ist die Ehe dagegen in allererster Linie Beistandsgemeinschaft; Sexualität ist rechtlich weder auf die Ehe beschränkt noch in ihr einforderbar. Dennoch wird die Sexualität quasi durch die Hintertür wieder rechtlich bedeutsam, wenn sie als Indikator für das Vorliegen einer Scheinehe und damit für die Versagung des Familiennachzugs fungiert, eingebettet in heteronormative Ordnungsvorstellungen und intersektionale Geschlechterstereotype. Umgekehrt steht der Schutz der sexuellen Autonomie im Zentrum des Verbots von Zwangsehen. Neben einer Ergänzung des Strafgesetzbuches ist auch hier der Hauptansatzpunkt der aufenthaltsrechtliche Familiennachzug. Die Maßnahmen der Wahl – Mindestalter und Spracherfordernis – basieren wiederum auf ethnisierten, altersdifferenzierten und schichtspezifischen Geschlechterstereotypen. Sie werfen nicht nur verfassungsrechtliche Zweifel an der Verhältnismäßigkeit auf, auch ihre Stigmatisierungswirkung ist gerade im Kontext rassistisch aufgeladener und vergeschlechtlicher Islamdiskurse für eine echte Autonomiesicherung kontraproduktiv.
Nora Markard

Regulierungsaufgaben I: Deviante Sexualitäten

Frontmatter
Sexual Citizenship
Zum Zusammenhang von Sexualsubjektivität, sexueller Devianz und Bürger*innenrechten
Zusammenfassung
Obwohl der Begriff „Bürger*innenschaft“ in der europäischen Moderne von dem prinzipiellen Gedanken allgemeiner politischer und rechtlicher Teilhabe getragen war, prägten sowohl normative als auch vergeschlechtlichte Vorstellungen den tatsächlichen Status als Bürger bzw. Bürgerin. Die Zuerkennung bürgerlicher Rechte orientierte sich dabei vor allem auch an der Verwirklichung „bürgerlicher“ Tugenden, mit denen insbesondere als deviant eingestuftes sexuelles Verhalten im Widerspruch stand. Der Beitrag analysiert anhand des (historischen) Straftatbestandes der gleichgeschlechtlichen Unzucht in den letzten Jahrzehnten der österreichischen Monarchie, wie sich bürgerliche Rechte und herrschende Sexualnormen zueinander verhielten und welchen Einfluss dies jeweils auf den (staats-)bürgerlichen Status von Frauen und Männern hatte.
Elisabeth Greif
Das Versprechen der Gleichheit für gleichgeschlechtliche Paare
Zusammenfassung
Mit der Einführung der Lebenspartnerschaft hat eine rechtliche Angleichung gleichgeschlechtlicher Paare an die Institution der Ehe begonnen, die nun kurz vor ihrem Abschluss zu stehen scheint. Doch eine Öffnung der Ehe ist nicht in Sicht Argumentativ beruht die Angleichung auf einem Gleichheitskonzept, welches aus der faktischen Gleichheit (Liebe, Fürsorge, Bindungswillen) auf eine rechtliche Gleichheit von Lebenspartnerschaft und Ehe zu schließen versucht. Allerdings handelt es sich dabei um einen reduzierten Diskurs, der wesentliche Fragen wie Reproduktion, Familie, Arbeitsteilung, Gleichberechtigung in der Partnerschaft, Sinn der Ehe sowie vergeschlechtlichte und identitäre Sexualitäten auslässt. Ein Verständnis des Geschlechtsdiskriminierungsverbots als Verbot der Diskriminierung auf Grund des Geschlechts als Erwartung und seine Anwendung in Diskursen um die Gleichheit gleichgeschlechtlicher Paare könnte dagegen das Konflikt- wie revolutionäre Potential dieser Gleichheitskämpfe auch für Fragen der künftigen Regulierung menschlichen Zusammenlebens entfalten.
Ulrike Lembke
Primat des Einverständnisses?
Unerwünschte konsensuelle Sexualitäten
Zusammenfassung
Ein Ziel der großen Strafrechtsreform der 1970er Jahre war der Verzicht auf die Durchsetzung moralischer Standards zugunsten eines durch den Schutz von Rechtsgütern legitimierten Strafrechts. Besonders deutlich wird dieser Wandel im Sexualstrafrecht, das nunmehr die sexuelle Selbstbestimmung schützen sollte. Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung sind Unrecht und in den meisten Fällen auch strafbar. Die einverständliche Wahrnehmung des sexuellen Selbstbestimmungsrechts ist dagegen grundsätzlich von Verfassungs wegen (Art. 2 GG) erlaubt – oder vielleicht doch nicht? Nicht jede Zustimmung zu einem Sexualkontakt wird vom Recht berücksichtigt, nämlich dann nicht, wenn sie nicht als wirksam angesehen wird. Von diesem Problem abgesehen, wirft eine nähere Betrachtung des Inzests, sadomasochistischer Sexualpraktiken oder der Zoophilie die Frage auf, ob unser vorgeblich liberales Strafrecht nicht doch noch gewisse Residuen der Bestrafung bloßer Unmoral enthält.
Joachim Renzikowski
Schutz durch Kontrolle?
Zur Debatte über die Regulierung der Sexarbeit in Deutschland
Zusammenfassung
Die Regulierung der Prostitution in Deutschland hat mit dem Inkrafttreten des Prostitutionsgesetzes im Jahr 2002 einen Paradigmenwechsel vollzogen. Der Vertrag über sexuelle Dienstleistungen gilt seitdem nicht als sittenwidrig, die Bereitstellung angenehmer Arbeitsbedingungen für Sexarbeiter*innen ist nicht mehr strafbar. Andere Ziele des Gesetzes wie die Integration der Sexarbeit in die Sozialversicherung wurden nicht erreicht. Aktuelle Reformbestrebungen deklarieren das Scheitern des bundesdeutschen Modells und fordern einen Politikwechsel hin zur Abschaffung der Prostitution durch das sog. schwedische Modell. Der Beitrag prüft zunächst kritisch die These vom Scheitern des Prostitutionsgesetzes und entfaltet die (feministische) Kontroverse darüber, ob Prostitution ein Beruf oder eine Menschenrechtsverletzung ist. Vor diesem Hintergrund beleuchtet er anschließend die aktuellen Reformdebatten über ein Prostituiertenschutzgesetz in Deutschland. Die Autorin plädiert für einen pragmatischen rechtspolitischen Ansatz, der die Auswirkungen der Regulierung auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Sexarbeiter*innen in den Mittelpunkt der Überlegungen stellt.
Maria Wersig

Regulierungsaufgaben II:Jenseits der Intimität

Frontmatter
Bienen und Blumen im Dreieck
Sexualkundeunterricht zwischen Elternrechten, Kinderrechten und staatlichem Erziehungsauftrag
Zusammenfassung
Der Beitrag untersucht, welche sexualitätsbezogenen Inhalte in staatlichem Pflichtunterricht zulässig sind. Dabei reflektiert er die Rolle von Recht in der Schule als gesellschaftlicher Sozialisations- und Emanzipationsinstanz.
Zunächst werden die zeitgeschichliche Entwicklung und die Rechtsprechung von BVerfG und BVerwG mit dem Gebot der wertbezogenen Zurückhaltung dargestellt. Darauf folgt ein Überblick über die Landesschulgesetze, die sich zwischen einem reproduktionsorientierten Pol und einem selbstbestimmungsorientierten Pol bewegen und damit Geschlechterverhältnisse beeinflussen.
Anhand der schulischen Praxis, klagefreudigen Eltern durch inhaltliche Beschränkungen entgegenzukommen, wird aufgezeigt, dass das Schulrecht die Dreieckskonstellation zwischen Schüler*innen, Eltern und Staat unzureichend bearbeitet und insbesondere Schüler*innenrechte ausblendet. Als notwendige und logisch zwingende verfassungsrechtliche Konkretisierung des Zurückhaltungsgebots wird das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung identifiziert. Das Zurückhaltungsgebot verlangt insofern Wertneutralität in Bezug auf Familienstand und sexuelle Orientierung und Reformen einzelner Landesschulgesetze und der Lehrer*innenausbildung.
Ulrike A. C. Müller
Das Ansehen des Staates
Sexualbezogene Handlungen als Dienstpflichtverletzungen
Zusammenfassung
Das Beamtendisziplinarrecht hat sich in den letzten Jahren nicht nur verfahrensrechtlich, sondern auch inhaltlich stark gewandelt – gerade, was die Ahndung sexualbezogenen Fehlverhaltens angeht. Während es noch in den 1960er Jahren moralisierend zur erzieherischen Wahrung der „äußeren Vorbildlichkeit“ von Beamt*innen eingesetzt wurde, werden „sittliche Verfehlungen“ von Amtsträger*innen heute nur noch dann geahndet, wenn sie das Funktionieren der Verwaltung und das Vertrauen in diese beeinträchtigen. Eine Dienstpflicht, die Lebensführung nach den vorherrschenden Moralanschauungen auszurichten, gibt es nicht mehr. Gravierende Sexualstraftaten führen kraft Gesetzes zum Amtsverlust. Bei weniger gravierenden Straftaten differenziert die Rechtsprechung nach Amtsbezug, Deliktstypus und Strafrahmen, bei strafrechtlich irrelevantem sexualbezogenem Fehlverhalten sind der Amtsbezug und die Umstände des Einzelfalles maßgeblich für die konkrete Sanktion (Maßnahmenbemessung).
Christoph Goos
Sexualität in der Öffentlichkeit
Zwischen Konfrontationsschutz und Teilhabe am öffentlichen Raum
Zusammenfassung
Die Sanktionierung der Erregung öffentlichen Ärgernisses und exhibitionistischer Handlungen, Verbote von Nacktjogging und Live-Sex-Shows sowie Sperrgebietsverordnungen zeigen, dass Sexualität in der Öffentlichkeit eine Grenzüberschreitung darstellt, auf welche das Recht sensibel reagiert. Allerdings erweist sich die zugrunde gelegte Grenze als äußerst unscharf und hält die rechtliche Sanktionierung auf Grundlage eines neu entwickelten Konfrontationsschutzes inklusive unklarer Privatheitskonzepte der Kritik kaum stand. Ordnungsvorstellungen spielen weiterhin eine wesentliche Rolle für die Regulierung des öffentlichen Raumes, während geschlechterpolitische Implikationen der privat-öffentlich-Dichotomie wenig reflektiert und Exklusionen durch geschlechtsspezifische Gewalt, kommerziellen Sexismus sowie heteronorme Bürgerschaft kaum adressiert werden. Staatliche Regulierung des öffentlichen Raumes muss aber darauf gerichtet sein, möglichst vielen Menschen die selbst gestaltete Teilhabe zu ermöglichen, und gegen tradierte Ausschlüsse aktiv tätig werden. Maßstab rechtlicher Antworten auf Sexualität im öffentlichen Raum jenseits des Jugendschutzes sind daher Geschlechtergerechtigkeit, sexuelle Autonomie, Vielfalt und Teilhabe.
Ulrike Lembke

Regulierungsgrenzen:Medienwandel und sexuelle Skripte

Frontmatter
Exponierte Intimität
Rechtliche Grenzen ungewollter Offenbarung
Zusammenfassung
Das Medienrecht schützt die Intimsphäre des Menschen als unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung gegen unerwünschte und unkonsentierte Offenbarungen. Im Kontext der aktuellen oder einer künftigen Regulierung des Intimen im sexuellen Bereich stellt sich die Frage, ob das Recht richtige und ausreichende Reaktionen zeigt, wenn es den Beteiligten individuelle Abwehransprüche zur Verfügung stellt, die insgesamt dabei helfen sollen, die Abgrenzung des Intimen vom Öffentlichen durch die Betroffenen selbst definieren und steuern zu lassen. Die in der Praxis auftretenden Fälle zeigen vermutlich nur eine Spitze des Eisbergs, weil durch die Gerichtspraxis allein nicht absehbar ist, ob und inwieweit die Betroffenen Verletzungen aus Scham vor der Gerichts- oder Medienöffentlichkeit hinnehmen, ohne sich zur Wehr zu setzen. Der Schutz dessen, was die Intimsphäre ausmacht, wird daher zwar im Kern erfasst, aber nicht notwendigerweise auch effektiv reguliert oder regulierbar. Im Zusammenhang mit der vorhandenen Regulierung zeigt sich als Seiteneffekt die Beobachtung, dass bei der gerichtlichen Beurteilung von Verletzungen auch Vorstellungen über Geschlechterrollen und Stereotype erkennbar werden.
Karl-Nikolaus Peifer
Sex sells!?
Rechtliche Grenzen sexualisierter Werbung
Zusammenfassung
Sexualisierte Werbung ist, obwohl im öffentlichen Raum noch immer präsent, nicht häufig Thema juristischer Diskussionen oder Anlass für Rechtsprechung. Der Beitrag gibt einen Überblick über die Normen, die in der Lage sind, sexualisierte Werbung zu erfassen, und stellt die einschlägige Rechtsprechung sowie Diskussionsansätze in der Literatur dar. Einige der Normen, aber auch die Argumentationsmuster der Rechtsprechung und der Literatur gründen auf offenen Rechtsbegriffen wie „Anstößigkeit“ und „Belästigung“, während Sexualisierung grundsätzlich als mittlerweile üblich und gesellschaftlich anerkannt gesehen wird und damit einhergehende Geschlechtsdiskriminierungen nicht erkannt werden. Um diese zunächst sichtbar und dann auch bekämpfbar zu machen, bedarf es einer Fokussierung – nicht auf Anstößiges und negativ von üblichen Darstellungen Abweichendes, sondern auf anhand von Hierarchisierungen erkennbare Diskriminierungen.
Berit Völzmann
Pornographie: Verbot – Regulierung – Freigabe?
Zusammenfassung
Das Zugänglichmachen und Verbreiten einfacher Pornographie unterliegt strafbewehrten Verboten. Die strafrechtlichen Verbote in Bezug auf Pornographie dienten traditionell dem Schutz einer herrschenden Sexualmoral, heute geht es vordergründig um den Schutz Minderjähriger in ihrer ungestörten sexuellen Entwicklung und um den Schutz Erwachsener vor ungewollter Konfrontation mit Pornographie. Der Beitrag zeigt, inwiefern der herrschende strafrechtliche Pornographiebegriff noch immer dem Schutz einer bestimmten Sexualmoral dient und dass er gegen das Gebot strafgesetzlicher Bestimmtheit verstößt. Es werden alternative Begriffsfassungen diskutiert, wobei auch die Impulse der feministischen PorNO- und PorYES-Bewegung einfließen. Darüber hinaus werden die Annahmen zur Gefährlichkeit von Pornographie vor dem Hintergrund jüngerer Medienwirkungs- und Mediennutzungsforschung im Hinblick auf den Kinder-und Jugendschutz hinterfragt. Zudem wird die Strafwürdigkeit der ungewollten Konfrontation Erwachsener mit Pornographie in Frage gestellt, da hier der Schutz vor Belästigungen im Vordergrund steht.
Anja Schmidt
Backmatter
Metadaten
Titel
Regulierungen des Intimen
herausgegeben von
Ulrike Lembke
Copyright-Jahr
2017
Electronic ISBN
978-3-658-11749-8
Print ISBN
978-3-658-11748-1
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-11749-8

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