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2014 | Buch

Spurensuche: Konstruktivistische Theorien der Politik

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Über dieses Buch

Unter dem Sammelbegriff „Konstruktivismus“ finden seit geraumer Zeit Theorieansätze in den Natur- Geistes- und Sozialwissenschaften verstärkt Beachtung, die von dem Credo ausgehen: „Alles was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt.“ Damit wird die tradierte Vorstellung zurückgewiesen, dass Erkenntnisakte die externe Realität widerspiegeln und es einen archimedischen Punkt gibt, von dem aus die Welt gedanklich erfasst werden kann. Die Politikwissenschaft tut sich schwer, diesen Epochenumbruch in seiner Tragweite für das Verständnis des politischen Universums zu explizieren. Dieser Band dient einer ersten Sichtung des Spektrums von sozialwissenschaftlichen Forschungsansätzen, die sich das Label „Konstruktivismus“ zuschreiben oder denen es zugeschrieben wird, und die politiktheoretischer Natur sind bzw. sich für politiktheoretische Analysen fruchtbar machen lassen.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter

Sichtung des konstruktivistischen Terrains

Frontmatter
Auf den Spuren des Konstruktivismus – Varianten konstruktivistischen Forschens und Implikationen für die Politikwissenschaft
Zusammenfassung
Es gibt nicht den Konstruktivismus, sondern vielmehr ein Spektrum an konstruktivistischen Varianten. Dreh- und Angelpunkt der konstruktivistischen Wende, die Anfang der 70er Jahre unterschiedliche natur- sowie geistes- und sozialwissenschaftliche Disziplinen erfasst hat, ist die Erkenntnis, dass alles Wissen beobachterabhängig ist. Es gibt somit keinen archimedischen Punkt mehr, von dem aus die Welt gedanklich als Ganzes erfasst werden kann, sondern nur noch unterschiedliche Welt- und Selbstbeschreibungen. Die Politikwissenschaft hat – im Unterschied zu ihren gesellschaftswissenschaftlichen Nachbardisziplinen – erst verzögert begonnen, die Frage nach Bedingungen und Grenzen der eigenen Erkenntnis unter konstruktivistischen Vorzeichen zu stellen.
Der Beitrag begibt sich auf die Spuren des Konstruktivismus und rekapituliert zunächst ausgewählte philosophische Vorläuferstationen (Kant, Nietzsche, Husserl, Kuhn) konstruktivistischen Denkens. Sodann werden Spielarten des Konstruktivismus im interdisziplinären Diskurs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit ihren jeweils charakteristischen Wissenschaftsverständnissen exemplarisch anhand von Referenzautoren vorgestellt: Erlanger Konstruktivismus (Lorenzen), Sozialkonstruktivismus (Berger/Luckmann), Radikaler Konstruktivismus (Maturana), Operativer Konstruktivismus (Luhmann) sowie Praxisorientierter Konstruktivismus (Knorr-Cetina und Foucault).
Es lässt sich bilanzieren, dass eine konstruktivistisch informierte Erkenntnistheorie tradierte ideengeschichtliche Grenzziehungen und Kategorisierungen in den Sozialwissenschaften ins Wanken bringt. Auf diesem Hintergrund wird abschließend nach Konsequenzen, Mehrwert sowie Grenzen einer konstruktivistischen Reformulierung von politikwissenschaftlichen Fragestellungen und Begrifflichkeiten gefragt.
Renate Martinsen

Exemplarische Vertreter moderner konstruktivistischer Politiktheorien

Frontmatter
Politisierte Systeme – Grenzen der Politik und Entgrenzung des Politischen bei Niklas Luhmann
Zusammenfassung
Der Beitrag verortet die Systemtheorie im konstruktivistischen Theoriefeld und zeichnet die Grundzüge des operativen Konstruktivismus Niklas Luhmanns nach. Im Mittelpunkt stehen jedoch die Grenzen des Politikbegriffs von Luhmann. Der Beitrag geht davon aus, dass gesellschaftliche Teilsysteme im Sinne des operativen Konstruktivismus Niklas Luhmanns nicht nur über Kommunikationen als basale Operation prozessiert und immer wieder in der System/Umwelt-Differenz reaktualisiert werden müssen, sondern dass dieser unabschließbare Prozess der Konstruktion von Systemen selbst höchst umkämpft und mithin politisch ist. Um dieses Phänomen der prinzipiellen Diskursivität von Systemen zu verstehen, klärt der Beitrag die gemeinsamen epistemischen Grundlagen und konstruktivistischen Fluchtlinien von Diskurs- und Systemtheorie. Die Unterscheidung zwischen der Politik und dem Politischen wird im Rahmen der Systemtheorie reformuliert und konkretisiert. In diesem Verständnis sind gesellschaftliche Subsysteme immer auch politisierte Systeme. Sichtbar wird ein Forschungsprogramm, das sich der Untersuchung der systemkonstituierenden Diskurse des Politischen widmet und das politische System als Effekt des Politischen versteht und analysiert.
Tobias Peter
Michel Foucaults Gouvernementalität in konstruktivistischer Perspektive –Ein Essay
Zusammenfassung
Lassen sich nicht nur Foucaults Diskursanalyse, Archäologie und Hermeneutik, sondern auch seine Genealogie konstruktivistisch interpretieren, obgleich sie von Nietzsche herkommend verschiedene Bereiche miteinander verbindet? Auf den ersten Blick scheint dies nicht möglich, wenn man sich bezüglich eines konstruktivistischen Denkstils an der autopoietischen Systemtheorie orientiert. Vor allem Foucaults Studien zur Gouvernementalität zeigen indes, dass in erweiterten Systemzusammenhängen gerade auf den Feldern von Politik, Ökonomie und Bevölkerung ein autopoietischer Ansatz entsteht, der auch eine konstruktivistische Lesart der Genealogie nahelegt. Mit seinen Konzepten von Gouvernementalität und Biopolitik entwickelt Foucault ein Verständnis des Politischen, das sich negativ in den Studien von Leo Strauss über Thomas Hobbes bestätigen lässt und das vor allem Giorgio Agamben mit weitergehenden Studien zur trinitarischen Ökonomie untermauert hat. Gouvernementalität und unsichtbare Hand entwerfen die Welt nach ihren ökonomischen, theologischen und politischen Bildern. In ihrer Orientierung an der Bevölkerung seit Hobbes schafft die Gouvernementalität eine Form des Macht-Wissen-Dispositivs, das für die Politische Philosophie äußerst befruchtend sein dürfte.
Hans-Martin Schönherr-Mann
Auf den Spuren Jacques Derridas: Politische Theorie als textuale Konstruktion
Zusammenfassung
Der Beitrag konzentriert sich auf Derridas Politik der Freundschaft und arbeitet dabei einen Ort für das Politische heraus. Es geht darum, die Funktion einer textualen Konstruktion darzustellen sowie zu zeigen, wie sich mit dem Bezug auf eine solche Konstruktion neue Spuren herausbilden und sich Bedeutung so kontinuierlich fortschreibt.
Das Augenmerk liegt zunächst darauf, eine kurze Übersicht konstruktivistischer Möglichkeiten anzubieten, um darauffolgend ein Verständnis von Text als einen Bezugspunkt für konstruktivistische Herangehensweisen hervorzuheben. Anschließend wird am Beispiel der Politik der Freundschaft gezeigt, wie sich eine textuale Konstruktion herauskristallisiert und wie damit ein Bezug zum Politischen hergestellt werden kann. Die zentrale Funktion kommt hier dem Derrida’schen Verständnis des Begriffs vielleicht zu. In Verbindung mit der Konstruktion der Freundschaft kann anhand dessen der Ort des Politischen bei Derrida näher umschrieben werden. Abschließend soll diese Konstellation als eine methodologische Überlegung für die Politische Theorie dienen.
Benjamin Wilhelm
Das (gegen-)hegemoniale Moment der Demokratie. Die Hegemonietheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe als Theorie der Demokratie
Zusammenfassung
Die Hegemonietheorie von Laclau und Mouffe beschreibt das Soziale als Konkurrenz diskursiver Sinnprojekte um das Selbstverständnis einer Gemeinschaft. Demokratie erscheint dabei als ein strategisches Feld, in dem unterschiedliche Deutungsprojekte um die konkrete Lesart des Demokratischen ringen. Aus einer konstruktivistischen Perspektive kann keine Lesart des Demokratischen für sich selbst einen heraus gehobenen normativen Status reklamieren, sodass allein die diskursive Offenheit für neue Forderungen, Gruppen oder Probleme als Kriterium des Demokratischen bleibt. Einer demokratischen Organisationsform von Gemeinschaft entspricht jene, die den Akt der Selbstkonstruktion nicht (vollständig) negiert, sondern immer sichtbar – und damit offen für die Beteiligung weiterer gesellschaftlicher Gruppen – hält. Entscheidend für eine demokratische Demokratie sind hierbei, so die These des Beitrags, die gegenhegemonialen Momente des historisch entstandenen demokratischen Diskurses. Im vorliegenden Aufsatz wird mit Hilfe der Hegemonietheorie eine konstruktivistisch aufgeklärte und für dynamische Prozesse sensible Theorie der Demokratie entwickelt. Demokratisch wird Demokratie durch die breite und fortwährende diskursive Präsenz kritischer Praxis, Ideen oder Symbole – diese gegenhegemonialen Momente sind analytischer Schwerpunkt des hier entwickelten dynamisch-konstruktivistischen Modells von Demokratie.
Ingmar Hagemann

Ideologie und Wahrheit unter konstruktivistischen Vorzeichen

Frontmatter
Ideologien: Politische Konstruktionen in praktischer Absicht? Überlegungen zum konstruktivistischen Erbe der Ideologieforschung bei Karl Mannheim und Niklas Luhmann
Zusammenfassung
Der Beitrag geht am Beispiel von Karl Mannheims Wissenssoziologie der Frage nach, ob und wie weit Ideologieforschung als Vorläufer konstruktivistischer Überlegungen rekonstruiert werden kann. Motiv für dieses Vorgehen ist die Vermutung, dass seine Ideologietheorie politische Weltanschauungen als Konstruktionen unter machttheoretischen und erkenntnistheoretischen Aspekten thematisiert. Ein Blick auf Niklas Luhmanns Systemtheorie rekonstruiert dann die Behandlung von Ideologien in einer konstruktivistischen Theorie und zeigt, dass sie innerhalb dieser Theorie explizit als Variante von Konstruktion und die Wissenssoziologie als konstruktivistisches Unternehmen verstanden werden. Abschließend dient ein kurzer Hinweis auf Positionen, von denen aus Ideologien einer radikalen Kritik unterzogen wurden bzw. ein Ende der Ideologien behauptet wurde, als Indiz dafür, dass Ideologien auch aus der Perspektive ihrer radikalen Kritiker Konstruktionen in praktischer – nämlich orientierender – Absicht sind.
Wilhelm Hofmann
Wahrheitszumutungen im Feld konstruktivistischer Theorien der Politik: Die Erzählungen von Niklas Luhmann und Michel Foucault im Vergleich
Zusammenfassung
Konstruktivistische Theorien der Politik unterstellen für sich keinen privilegierten Zugang zu außerkommunikativen Wirklichkeiten, der ihnen Halt bieten könnte. Auch diskursintern verzichten sie auf eine vielleicht wissenschaftlich auffindbare oder verfahrensmäßig herzustellende, überwölbende Rationalität. Diskurse reproduzieren ihre eigene Regelhaftigkeit, die vom Standpunkt eines abweichenden Regelsystems inkommensurabel bleibt. Ohne externe Wahrheitskriterien und ohne Einheitspotentiale in Vernunft und Sprache schreiben sich konstruktivistische Theorien der Politik in das diskursive Gewimmel ein. Was aber bedeutet diese Haltlosigkeit für den Status des eigenen Sprechens und der eigenen Wissenschaft? Der vorliegende Beitrag zeigt zwei unterschiedliche Wege auf, wie konstruktivistische Theorien der Politik, die sich in symbolischen Feldern bewegen, sich selbst in diese Felder einschreiben. Luhmann´sche System- und Foucault´sche Diskurstheorie vollziehen diese Operation auf denkbar unterschiedliche Art und Weise. Die abweichende Verortung des eigenen Sprechens mag zunächst wissenschaftstheoretische Setzung sein, zeitigt aber genauso politisch-normative Folgen.
Thorsten Schlee

Normative Facetten konstruktivistischer Politiktheorien im Anschluss an den Erlanger Konstruktivismus und den Radikalen Konstruktivismus

Frontmatter
Konstruktivistische und konstruktive Politische Theorie
Zusammenfassung
Der Beitrag untersucht, inwieweit der Konstruktivismus die erkenntnistheoretischen Grundlagen der politischen Theorie provoziert. Die Analyse konzentriert sich auf den Konstruktionsbegriff und seine unterschiedlichen Verwendungen. Es wird herausgearbeitet, dass aufgrund der Eigenkomplexität der Politischen Theorie verschiedene Konstruktivismen Einfluss ausüben. Durch deren kritische Reflexion lassen sich relevante konstruktivistische Einsichten identifizieren und zu einer konstruktiven Politischen Theorie zusammenfassen.
Heinz Kleger, Jörn Knobloch
Kann Erkenntnistheorie demokratieaffin sein? Das Beispiel des „erkenntnistheoretischen“ Konstruktivismus
Zusammenfassung
In diesem Aufsatz wird der Frage nachgegangen, ob einer erkenntnistheoretischen Positionierung wie dem Konstruktivismus Ernst von Glasersfelds, Paul Watzlawicks und Heinz von Foersters die Eigenschaft zukommen kann, demokratieaffin zu sein. Zur Beantwortung dieser Frage soll zunächst allgemein diskutiert werden, auf welche Weise Erkenntnistheorien und politische Theorien zusammenhängen können. Weiterhin werden geeignete Ansatzpunkte für die Demokratieaffinität auf individueller Ebene eruiert. Der sich hieraus ergebende Rahmen dient dazu, die Demokratieaffinität des „erkenntnistheoretischen“ Konstruktivismus der genannten Autoren zu diskutieren. Dabei wird zunächst sein Potenzial untersucht, angeblich demokratiefeindliche Erkenntnistheorien (namentlich den Realismus) zu untergraben. Anschließend ist zu hinterfragen, welche politiktheoretischen Implikationen sich aus seinen erkenntnistheoretischen Grundannahmen ableiten lassen. Insgesamt ergibt sich dabei ein indifferentes Bild, so dass nicht von einer besonderen Demokratieaffinität des Ansatzes gesprochen werden kann.
Holger Zapf

Theorie als Praxis – Konstruktivistische Fallstudien

Frontmatter
Konstruktivismus und funktionale Analyse – Systemtheoretische Reformulierung des Kausalitätskonzeptes am Beispiel der Klientelismusforschung
Zusammenfassung
Im Unterschied zu anderen Spielarten des Konstruktivismus steht die Systemtheorie im Anschluss an Luhmann für einen soziologisch gewendeten epistemologischen Konstruktivismus, der von der Beobachterabhängigkeit allen Wissens ausgeht und diese These mit einer Theorie sozialer Systeme verbindet. Angesichts des hohen Stellenwerts, den Kausalerklärungen in der Wissenschaft nach wie vor genießen, fragt der Beitrag nach der Relevanz des Konzeptes der Kausalität in der Systemtheorie. Er rekonstruiert die Überlegungen Luhmanns zur funktionalen Analyse, die einen Gegenentwurf zu kausalwissenschaftlichen Methoden darstellen, aber keinen Verzicht auf Vorstellungen von Kausalität beinhalten. Das Beispiel der Klientelismusforschung dient anschließend dazu, funktionalanalytische und kausalwissenschaftliche Beobachtung gegenüberzustellen und herauszuarbeiten, wie die Ansprüche der letzteren aus konstruktivistischer Perspektive zu relativieren sind.
Isabel Kusche
Der dekonstruierte Terrorist: Erkenntnisse und Aporien konstruktivistischer Thematisierung von Politik am Beispiel des islamistischen Terrorismus
Zusammenfassung
Der vorliegende Beitrag diskutiert die Erkenntnispotentiale und Probleme konstruktivistischer Kritik in der Linie Nietzsche-Foucault-Said. Dies geschieht am Beispiel von vier aktuellen Monografien amerikanischer Geistes- und SozialwissenschaftlerInnen, die an diese Linie anknüpfen, um den islamistischen Terrorismus und seine Repräsentation zu thematisieren: Mahmood Mamdanis Good Muslim, Bad Muslim, Jasbir Puars Terrorist Assemblages, Talal Asads On Suicide Bombing und Judith Butlers Frames of War.
Der Beitrag kommt zu einem ambivalenten Ergebnis. Auf der einen Seite werfen die vier AutorInnen wichtige Fragen auf: Mamdani und Puar diskutieren, inwieweit es sich bei gängigen Darstellungen des islamistischen Terrorismus um die projektive Konstruktion eines Gegenbildes handelt; Asad und Butler fragen, inwieweit der normativ aufgeladene Begriff Terrorismus dazu dient, eigene Gewalt zu legitimieren und die Gewalt der anderen zu dämonisieren. Auf der anderen Seite kranken die von den AutorInnen gegebenen Antworten an denselben Problemen, die auch Edward Saids Kritik prägten: Sie neigen zu reduktionistischer Polemik und verwickeln sich sowohl repräsentationstheoretisch als auch normativ in Widersprüche.
Floris Biskamp
Metadaten
Titel
Spurensuche: Konstruktivistische Theorien der Politik
herausgegeben von
Renate Martinsen
Copyright-Jahr
2014
Electronic ISBN
978-3-658-02720-9
Print ISBN
978-3-658-02719-3
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-02720-9