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2023 | OriginalPaper | Buchkapitel

9. Ausgedehnte Gegenwarten – operative und topografische Räume

verfasst von : Anna Bauer

Erschienen in: Form und Vergegenwärtigung

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Bis auf wenige Ausnahmen fokussierte sich die sozialwissenschaftliche Forschung zu Palliativversorgung und Sterbebegleitung bisher überwiegend auf stationäre Kontexte wie Hospize und Krankenhaus- bzw. Palliativstationen. Es scheint plausibel, Organisationen anhand eines konkreten Ortes, eines Gebäudes oder bestimmter Räumlichkeiten zu identifizieren. Es sind dies Orte, in die Forschende eintreten können, in denen sie sich umsehen und beobachten können.

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Fußnoten
1
»Utopie bezeichnet einen Ort, den es nicht gibt. Atopie bezeichnet die Irrelevanz des Ortes, die globale Ortlosigkeit.« (Willke 2001: 13)
 
2
Auf die Funktion des Raumes als Stichwortgeber wurde bereits in Unterabschnitt 7.​3.​2 hingewiesen.
 
3
Hierauf wurde im Kapitel zum Forschungsstand in Abschnitt 3.​5 bereits eingegangen.
 
4
Die Rede von den »ausgedehnten Gegenwarten« findet sich in Die Zeit der Gesellschaft von Armin Nassehi (2008b). Ich komme auf die nähere Bedeutung und den Zusammenhang zum Begriff der Präsenz unten zurück.
 
5
Die analytische Perspektive orientiert sich hier grob an der funktionalistischen Medientheorie, die von Niklas Barth in Gesellschaft als Medialität (2020) entworfen wurde. In kontinuierlichem Sichtkontakt zur Empirie wird hier anhand verschiedener Fallstudien zur Kommunikation in sogenannten »sozialen Medien«, über das Theater oder in Interviews eine Medientheorie entwickelt, die Meiden nicht nur als Substanz oder Dinge versteht, sondern sich für die Performanz von Medien hinsichtlich ihrer kommunikativen Anschlussfähigkeiten interessiert. Es geht um die Frage »wie sich unterschiedliche Medien in Kommunikationsprozesse vermitteln, sich dabei aber auch geradezu widerständig in die Kommunikation einmischen. Meine Analysen zielen damit also auf das Verhältnis von Widerstand und Vermittlung der Medien.« (Barth 2020: 12 f.; Hervorh. i. Orig.)
 
6
Vgl. zur Latenz der Medien bei Fritz Heider, Sybille Krämer und Régis Debray auch ebd.: 71 f.
 
7
Der Begriff des Mediums zeichnet sich durch ein hohes empirisches Auflösungsvermögen aus. Es kann z. B. auch die Bürokratie als Medium gefasst werden: »Mit Nutzlosigkeit, Geistlosigkeit, Interesselosigkeit kann der Unternehmer nichts anfangen, die Bürokratie kann das problemlos, das Management kann das problemlos, und das Proletariat kann das problemlos. [...] [D]ieser Vorteil ist genau jene unerschütterliche krisenfeste ›Routine‹, die ihr als geistlose Mechanik vorgehalten wird. [...] Die administrative Bürokratie bildet ein Medium, das von oben und unten kontrolliert wird und deswegen nur formalistisch (abstrakt, leer, sinnlos) verfasst sein kann.« (Lehmann 2015: 328 f.)
 
8
»Unser modernes, zuweilen romantisch verklärtes Bild vom Sterben in früheren Jahrhunderten spiegelt fast ausschließlich die Welt von Adel und Bürgertum. Zumal in der Epoche der Industrialisierung und des Pauperismus lebten und starben die meisten Menschen aber in sehr ärmlichen Umständen. Sie verbrachten ihre letzten Lebenstage ohne jeden Komfort, in Räumen oder gar Betten oder Strohlagern, die sie mit anderen teilen mussten, – und schlimmstenfalls auf der Straße. Wer nicht krankenversichert war, konnte sich womöglich nicht einmal die nötige Schmerzmittel und sonstigen Arzneien leisten.« (Stolberg 2011: 186)
 
9
Wer sich dafür interessiert, dem sei die umfassende Darstellung von ›Präsenztheorien‹ mit Anwendungsbeispielen von Robert Hermann empfohlen 2018.
 
10
So auch hier: »Keineswegs ist alles, was anwesend ist, eo ipso schon ein Teil des Systems. Vielmehr benutzen einfache Systeme das Selektionsprinzip der Anwesenheit auch, um ihre Umwelt zu differenzieren in Anwesendes und Nichtanwesendes.« (Luhmann 1972: 59; Hervorh. i. Orig.) Auch André Kieserling betont das Auseinanderfallen von Anwesenheit und physischer Präsenz: »Diener zum Beispiel können durch ihre Herren und deren Besucher als abwesend behandelt werden, auch wenn sie sich im selben Zimmer aufhalten, Taxifahrer durch die Interaktion unter den Fahrgästen auch dann, wenn sie unmittelbar vor einem sitzen. Es gibt also Ausgrenzung und Exklusion trotz kontinuierlicher Präsenz. Aber auch der umgekehrte Fall der Inklusion trotz diskontinuierlicher Präsenz ist weit verbreitet: Wer zwischendurch kurz mal austreten muß, der kann in der Interaktion trotzdem als anwesend behandelt werden. [...] Die Systemgrenzen der Interaktion sind also ein Datum weder der Physik noch des Bewußtseins, sondern eine soziale Konstruktion.« (Kieserling 1999: 64 f.; Hervorh. i. Orig.)
 
11
Es ist dieser Vorrang der Wahrnehmung beim Sport, von dem sich Hans Ulrich Gumbrecht in seinem Aufsatz Die Schönheit des Mannschaftsports: American Football im Stadion und im Fernsehen so begeistert zeigt (vgl. Gumbrecht 2012: 261 ff.).
 
12
Ich habe auf die Bedeutung der Wahrnehmung am Beispiel des American Football oben bereits hingewiesen.
 
13
Aus diesem Grund plädiert Gumbrecht dafür, eine Art der »Sinn-Drosselung« zu betreiben (Gumbrecht 1988: 919). Ziel ist es, »flache Diskurse« (ebd.) zu erzeugen und zu einem tieferen Verständnis von Oberflächen und der Materialität der Kommunikation (vgl. Gumbrecht und Pfeiffer 1988) zu kommen.
 
14
Dies ändert sich dann beim Protestantismus, bei dem das Brot und der Wein die Funktion der Bedeutung übernehmen: »Durch Jahrzehnte währende, intensive theologische Diskussionen gelang es der protestantischen Theologie, die Präsenz des Leibs Christi und seines Bluts neu zu bestimmen und in eine Evokation des als ›Bedeutung‹ aufgefaßten Leibs Christi und seines Bluts zu verwandeln. Daher muß das Wort ›ist‹ in dem Satz ›...dies ist mein Leib‹ zunehmend im Sinne von ›dies bedeutet‹ oder ›dies steht für‹ meinen Leib aufgefaßt worden sein.« (Gumbrecht 2004: 47)
 
15
Für eine vollständige Darstellung dieser Oppositionspaare in The Birth to Presence vgl. Hermann 2018
 
16
Robert Hermann stellt die Nähe des Begriffs der Präsenz von Nancy mit dem Begriff der différance von Derrida heraus, der ebenfalls auf Außersprachliches verweist (vgl. ebd.: 99).
 
17
Auf diese Verwobenheit von Präsenz und Performativität macht auch Dieter Mersch aufmerksam: »Praktiken bezeichnen nicht nur etwas Symbolisches, sie müssen auch ›aufgeführt‹ werden. Sie gewinnen dadurch ihre Aktualität, aber auch ihre Einzigartigkeit, ihre unverwechselbare Präsenz. Performativität und Präsenz gehören zusammen: Handlungen werden ›ein-gesetzt‹, sie vollziehen sich, ohne dass schon vorentschieden wäre, was jeweils gesetzt ist, was sich vollzieht. Am Performativen zu betonen wäre folglich seine Ereignishaftigkeit, die Tatsache, dass geschieht. Zwar inhäriert der Begriff, dass Handlungen oder Praktiken intentional vollzogen werden mögen, dass sie Absichten entspringen oder Ziele verfolgen, gleichwohl kommt ihnen qua Setzung eine Singularität zu, die ihrer intentio entgleitet. Der Ausdruck unterstreicht mithin das ›Dass‹ (quod), nicht das ›Was‹ oder ›Wie‹ (quid) des Vollzugs.« (Mersch 2010: 46; Hervorh. i. Orig.)
 
18
Perniola verwendet diese Begriffe in eher kulturkritischer Absicht: »Unser Zeitalter ist ästhetisch, weil alles in ihm Wirkliche vom Brennstempel des Bereits-Gefühlten gebrandmarkt sein muss, weil sich das Fühlbare und das Affektive als etwas bereits Vorbereitetes und Vorgefertigtes aufzwingen, das lediglich hingenommen und wiederholt zu werden braucht.« (Perniola 2009: 36 f.) Während »Ideologie« für das »Bereits-Gedachte« steht, ist die »Sensologie« das »Bereits-Gefühlte« (vgl. ebd.: 22–25).
 
19
»Zum ›guten‹ Sterben gehört schließlich auch die Versorgung und Begleitung des Sterbenden und seiner Angehörigen in ihren jeweiligen lebensweltlichen Bezügen, im Idealfall im eigenen Zuhause: Hier im Zentrum ihrer alltäglichen Lebenswelt, dem Raum der Selbstbestimmung, Individuierung und persönlichen Beziehungen soll auch das Sterben stattfinden und damit als ›eigenes‹ Sterben den normativen und ideellen Ansprüchen entsprechend verwirklicht werden.« (Stadelbacher 2020: 328; Hervorh. i. Orig.)
 
20
»Abgeleitet vom lateinischen Verb producere (›vorführen‹) bedeutet ›Präsenz produzieren‹, Dinge in Reichweite rücken, so dass sie berührt werden können.« (Gumbrecht 2012: 268; Hervorh. i. Orig.)
 
21
Es ist gerade diese Flüchtigkeit die definierende Eigenschaft von Präsenz, die Jean-Luc Nancy so hervorhebt: »To be born is not to have been born, and to have been born. It is the same with all verbs: to think is not yet to have thought, and already to have thought. Thus ›to be born‹ is the verb of all verbs: the ›in the midst of taking place‹ that has neither beginning nor end. The verb without a presence of coming to presence. The unique ›form‹ and the unique ›fundament‹ of being. ›To be‹ is not yet to have been, and already to have been. To be born is the name of being, and it is precisely not a name.« (Nancy 1993: 2) Vergleiche hierzu auch Abschnitt 9.​1.
 
22
Hierzu Luhmann: »Für Raucher ist Krebs ein Risiko, für alle anderen ist er nach wie vor eine Gefahr.« (Luhmann 1990c: 140)
 
23
Falko Müller zieht ebenfalls diesen Vergleich, erweitert die Funktion des Hausbesuchs jedoch noch um die der »Einsatzbesprechung«: »Der Hausbesuch ist damit nicht nur als Äquivalent einer Visite in der ›häuslichen Umgebung‹ zu verstehen. Er erfüllt auch die Funktion einer Einsatzbesprechung zwischen den an der Krankheitsversorgung beteiligten Expert*innen und Lai*innen.« (Müller 2020: 282) In den vorliegenden Daten ergeben sich diese ›Einsatzbesprechungen‹ zwar auch, sie bleiben aber eher zufällig, sind also nicht geplant. In diesem Kapitel wird sich zeigen, dass Hausbesuche ohnehin ein Planungsproblem sind, was durch die Koordination mit anderen Leistungserbringer:innen noch weiter verschärft würde. Aus diesem Grund überrascht der Befund von Müller.
 
24
Den Begriff der »Chrononormativität« prägte Elizabeth Freeman in Bezug auf queere Lebensverläufe (vgl. Freeman 2010). Heute wird der Begriff auch in der soziologischen Alternsforschung verwendet (vgl. Wanka 2020).
 
25
Ein sehr einleuchtendes Beispiel für die Alltäglichkeit von Chrononormativität liefert Niklas Luhmann in seinem klassischen Aufsatz zum Zusammenhang von Zeit und Normen: »Man ißt nicht, wenn man Hunger hat, sondern um 12.30 Uhr.« (Luhmann 1971: 143)
 
26
Diese alltagszeitliche Wahrnehmung chronisch Kranker ergänzt Fischer ferner mit einer auf längerfristige Perspektiven ausgerichteten lebenszeitlichen Wahrnehmung. Diese »schrumpft auf Gegenwart ohne Zeitperspektiven zusammen, damit scheint Lebenszeit in der Alltagszeit aufgehoben zu sein.« (Fischer 1982: 16) Dies deckt sich auch mit den Ergebnissen von Riessman s (2015) Beschreibungen ihrer eigenen Krankheitserfahrungen sowie der Studie von Saake (2008), die zeigt, dass bei chronisch kranken Sterbenden primär der Alltag im Vordergrund steht und längerfristige Überlegungen, z. B. über den Tod, dort keinen Platz finden (vgl. Saake 2008: 250-253).
 
27
Die Darstellung von quasi endloser Verfügbarkeit von Zeit durch Hinsetzen wird auch hier von einer Palliativpflegekraft beschrieben: »Ähm, beim Patienten selber ähm versuchen wir natürlich jedenfalls immer erst mal so ähm zu vermitteln, äh schaue ich auch auf die Zeit, ähm versuche das aber erst mal so zu vermitteln, dass wir keinen Zeitdruck haben. Also, ne? [Wie?] Ja, es ist die, also einmal natürlich, dass wir uns hinsetzen, dass wir reinkommen, uns hinsetzen. Ähm es ist die Art und Weise, wie man kommuniziert so, und ähm dass man versucht, dann wirklich ganz beim Patienten zu sein, äh aufmerksam zu sein und äh, ähm nicht den sozusagen den Eindruck vermittelt, dass man gleich wieder aufm Sprung ist. So, ne? Sondern, dass man wirklich, wenn man beim Patienten äh vor Ort ist, dass man dann auch wirklich da Zuhause ist und jetzt ganz hier ist und hier ähm nur für ihn da ist.« (Jan-Michael Graf, pl081)
 
28
Exakt diese performative Kommunikation des Zeithabens beobachtet auch Stephanie Stadelbacher: »[...] neben der faktisch verfügbaren bzw. zur Verfügung gestellten Zeit, ist vor allem die Darstellung der Verfügbarkeit von Zeit relevantes Privatheitshandeln. Zum ›guten‹ Sterben gehört, dass der Sterbende und auch die Angehörigen die Anwesenheit der Sterbearbeiter als zeitunkritisches Für-sie-Dasein wahrnehmen können. Dabei ist manchmal nur in zweiter Linie relevant, wie viel Zeit tatsächlich aufgewendet wird, sondern wie diese Zeit gerahmt wird, nämlich als persönliche, bedarfs- und bedürfnisorientierte Sozialzeit. Dabei geht es für die Sterbearbeiter in der eigenen Performanz darum, Zeit nicht als begrenzenden Faktor darzustellen und jegliche Ungeduldsäußerungen zu vermeiden [...].« (Stadelbacher 2020: 547 f.; Hervorh. i. Orig.)
 
29
»Es scheint, daß die Einteilung der Zeit die Ordnung der Werte durcheinander gebracht hat.« (Luhmann 1971: 143) und weiter: »So kann sich allein aus Zeitproblemen eine Umstrukturierung der Werteordnung ergeben.« (ebd.: 155) Eine Leistung von Organisationen besteht darin, in der Zeit flexibel mit Werteordnungen umgehen zu können. In dem mal der eine und mal der andere Wert betont wird, ergibt sich die Chance für Kompromisse: »Erst wenn in einem weitgespannten Zeithorizont ein hohes Tempo im Wechsel der Wertpräferenzen erreicht werden kann, ist Toleranz und Kompromißbereitschaft institutionalisierbar; erst dann nämlich wird evident, daß eine momentane Zurückstellung bestimmter Werte kein Bestreiten ihrer Geltung involviert, und ihnen die Chance beläßt, ja verstärkt, sich bei anderer Gelegenheit mit aufgestauter Dringlichkeit und ums so mehr Recht zu Wort zu melden.« (ebd.)
 
30
Wie typisch diese Normverschiebung durch die Knappheit der Zeit in der Medizin ist, illustriert der szenische Einstieg des Aufsatzes Die Performanz des Medizinischen von Irmhild Saake: »Wenn man einen Arzt rufen muss, wird alles andere nebensächlich. Der Arzt, der im Falle eines medizinischen Notfalls herbeieilt, darf sich über sämtliche Konventionen hinwegsetzen, die ansonsten den Alltag begleiten: Schamgrenzen, Höflichkeitsregeln, Statusunterschiede, Verkehrsregeln. [...] Der Notfall bzw. die Rede von Leben und Tod scheint jede weitere Art von Begründungsbedürftigkeit zu suspendieren. Asymmetrien sind also nicht per se ein Problem, sondern nur dann, wenn sie begründungsbedürftig werden bzw. wenn genug Zeit bleibt, um sich Reflexionen zu erlauben. Genau das ist offensichtlich der Fall, wenn das Leben nur mittelbar in Gefahr ist und man noch die Zeit hat, selbständig einen Arzt aufzusuchen.« (Saake 2003: 429; Hervorh. i. Orig.)
 
31
Sehr instruktiv hierzu erneut ein Beispiel aus der Verwaltung, das aber auch auf Organisationen im Allgemeinen zutrifft: »Beamte, die viel Zeit haben, lesen deshalb ihre Bild-Zeitung oder lösen ihre Kreuzworträtsel in einer offenen Schublade, die rasch zugeschoben werden kann, wenn ein Besucher das Zimmer betritt. Und sie tun gut daran, sich zur Sicherheit einige Aktenrückstände aufzuheben, die in Situationen bearbeitet werden können, in denen es nicht möglich ist, Zeit zu haben.« (Luhmann 1971: 156 Fn. 53)
 
32
Stephan Dreßke beschreibt diese betonte Gelassenheit auch für das pflegerisch dominierte Hospiz. Hier herrschen als »Gefühlsregeln ›ruhige Stimmung‹ und ›ruhiges Arbeiten‹« (Dreßke 2005: 55). Vermieden soll die im Krankenhaus übliche »hektische[] Betriebsamkeit« (ebd.).
 
33
Hierin besteht der Grund, warum in diesem Kapitel keine Ärzt:innen zitiert werden (können). Sie wurden nicht gezielt ausgeschlossen, sondern sie sprechen kaum von Telefonaten mit Patient:innen. Ein Grund dafür wäre darin zu sehen, dass Ärzt:innen in der Regel während der telefonischen Rufbereitschaftsdienste eher im Hintergrund bleiben, wohingegen die Pflegekräfte mit den Patient:innen telefonieren und zumeist auch die notfallmäßigen Hausbesuche Nachts- sowie an Sonn- und Feiertagen durchführen.
 
34
Ganz in diesem Sinne: »Jeder kann immer auch anders handeln und mag den Wünschen und Erwartungen entsprechen oder auch nicht - aber nicht als Mitglied einer Organisation« (Luhmann 1997: 829; Hervorh. i. Orig.)
 
35
Im lockeren Anschluss an Pierre Bourdieus Begriff des Habitus könnte man für Routinen analog dazu formulieren, dass diese mit einem »geringeren Aufwand an Absicht« (Bourdieu 1987: 108) auskommen können, d. h. dass das Handeln von individuellen Motivlagen und Begründungsfragen weitgehend entlastet ist.
 
36
Es ist hier vom »Klienten« die Rede, um den Begriff des Patienten zu vermeiden. Etwas Ähnliches geschieht mit der Rede vom »Gast« oder »Bewohner« in stationären Hospizen. Immer geht es darum, einem unterstellten medizinischen Reduktionismus auf das rein Physische zu entgehen und über die Semantik des »Gast«, »Klienten« oder »Bewohners« darauf hinzuweisen, dass der Sterbende immer noch etwas anderes sein kann bzw. mehr als nur seine Physis ist. Ob die Wahl des Begriffs des ›Klienten‹ in der Hospiz- und Palliativarbeit so eine glückliche Wahl darstellt ist fraglich, vor allem da klassische ambulante Pflegedienste ihre zu Pflegenden ebenfalls als ›Klienten‹ bezeichnet.
 
37
Die vorhandenen Lösungen sind das Bereitstellen von Hilfsmitteln oder die Vermittlung weiterer Versorgungsakteur:innen. Hieran wird plausibel, dass die sapv als Organisation entsprechend dem »Garbage Can«-Modell der Organisation (vgl. Cohen, March und Olson 1972) gewissermaßen ein ›Mülleimer‹ ist, in den Lösungen hineingeworfen werden (hier vor allem Kontakte zu Sanitätshäusern und anderen Leistungserbringer:innen), für die dann nach den passenden Problemlagen gesucht wird.
 
38
Die Beschreibung dieser Gegenwart als ›kalt‹ folgt nicht einer kulturkritischen Absicht, nach der die mediale Vermittlung durch das Telefon zu einem Verlust einer als authentischer gedachten ›leiblichen‹ Gegenwart führe. Dass diese Gegenwart kalt sei, rekurriert einzig auf die Bezeichnung Marshall McLuhans des Telefons als cool medium. Die Unterscheidung zwischen hot und cool media lese ich zunächst einmal nur als Heuristik und nicht als Kulturkritik. Ich danke Clemens Albrecht für den Hinweis auf diese Unklarheit.
 
39
»Vous êtes une personne différente dès lors que vous tenez und arme à feu entre vos mains. [...] Si je vous définis par ce que vous avez (l’arme) et par la série d’associations auxquelles vous participez lorsque vous utilisez ce que vous avez (lorsque vous faites feu), alors, vous êtes modifié par l’arme – avec plus ou moins d’intensité, ceci dépendant du poids des autres associations que vous portez en vous.« (Latour 2007b: 189)
 
40
Latour geht es auch nicht allein darum, die Soziologie dafür zu sensibilisieren, dass sie es nicht nur mit Menschen, sondern auch mit Dingen, nicht nur mit Subjekten, auch mit Objekten zu tun hat, sondern erklärtes Ziel ist es, diese beiden Pole aufzulösen, in dem sie nicht mehr als maßgeblich betrachtet werden: »Manche Einteilungen sollte man nie versuchen zu umgehen, zu überschreiten oder dialektisch zu überwinden. Eher sollte man sie ignorieren und sich selbst überlassen, wie ein einstmals wunderschönes Schloß, das nun eine Ruine ist.« (Latour 2007a: 131)
 
41
In diesem Sinne werden auch in der internationalen Literatur Objekte am Lebensende ins Visier genommen: »Objects can thereby become points of reference, bridging different times and environment, elucidating reflections.« (Cleeve u. a. 2018: 745)
 
42
In der ant wird zwischen Mittlern und Zwischengliedern unterschieden. Dabei geht es um die Relation von Input und Output. Mittler »übersetzen, entstellen, modifizieren und transformieren« (Latour 2007a: 70) ihren Input in einer nicht berechenbaren Art und Weise. Im Gegensatz dazu transformieren Zwischenglieder ihren Input immer in denselben Output. Es entsteht so eine Mechanik, die vorhersehbare Ergebnisse produziert.
 
43
Die Aussage eines Palliativpflegers zeigt, wie eindeutig der Tod das Ende der Versorgung markiert: »Aber, an sich, wenn der Patient verstirbt, haben wir nicht so oft noch mit der Familie oder mit dem Ganzen so zu tun, ne? Manchmal noch Medikamente abholen, in die Apotheke bringen, oder Hilfsmittel abholen lassen, dass sie dann nochmal anrufen und sagen ›Können Sie das abholen?‹, aber – genau, ja. Und die sapv endet ja auch mit Eintreten des Todes dann sozusagen, ne?« (pc051-1)
 
44
In einer Studie zum medizinisch assistierten Suizid im US-Bundesstaat Vermont nutzt Mara Buchbinder den Begriff des Skripts (»Scripting«) um auf die theatralische Inszenierungspraxis aufmerksam zu machen, die diese Art des geplanten Sterbens eröffnet: »In Bert’s account of hypothetical death, the theatrical imagery is striking: death is an event that one choreographs, a matter of careful timing. Choosing the right moment to die requires an appreciation for dramatic time. From this perspective, orchestrating the right time for death has not only an ethical but also an aesthetic quality. Bert does not envision himself as being passive at the scene of his death, watching his life unravel. Instead, he is a producer, one with a moral charge to engage and release his audience at appropriate intervals through careful dramaturgical sequencing.« (Buchbinder 2021: 49) Was geschieht, wenn sich die Verwendung von dramaturgischer Metaphorik verselbständigt, zeigt sich an dem Aufsatz The Social Construction of the ›Dying Role‹ and the Hospice Drama von Debra Parker . Die Vorstellung des Geschehens im Hospiz als »Drama« legt den Schluss nahe, dass es am Ende im Augenblick des Sterbens zu einer Art ›magischem‹ Moment kommen müsste, an dem sich alles in Wohlgefallen auflöst.
 
45
palliDOC ist eine speziell auf die ambulante Palliativversorgung zugeschnittene und in der sapv sehr weit verbreitete Dokumentationssoftware des Unternehmens StatConsult Gesellschaft für klinische und Versorgungsforschung mbH. Einige Anbieter von Palliativversorgung verwenden auch das Programm ispc des Unternehmens smart-Q.
 
Metadaten
Titel
Ausgedehnte Gegenwarten – operative und topografische Räume
verfasst von
Anna Bauer
Copyright-Jahr
2023
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-40678-3_9