Heterogene Ausprägungen von Digitalisierung
Die Erhebungen in KODIMA verdeutlichen, dass es die Digitalisierung in der Praxis von Steuerberatungsunternehmen nicht gibt. Im Gegensatz zu den auch in der Steuerberatung verwendeten Digitalisierungsindizes die i. d. R. relativ klar definierten Entwicklungspfade unterstellen, zeigt die Empirie relativ heterogene, im Wesentlichen kanzleispezifische, Vorgehensweisen bei der Umsetzung von Digitalisierung. Dies liegt darin begründet, dass Digitalisierung eine Reihe an Optionen bietet (z. B. papierlose Kanzlei, Automatisierung, Assistenzsysteme, künstliche Intelligenz). Welche Option, inwieweit in den Kanzleien genutzt wird, ist abhängig von strategischen Entscheidungen der Führungskräfte, konkreter davon, welche Ziele mit der Einführung und Nutzung von IKT in den Kanzleien erreicht werden sollen.
Heterogene Ausprägungen von Digitalisierung in den untersuchten Kanzleien Digitalisierung bedeutet für die befragten Führungskräfte und Beschäftigten mehrheitlich die schrittweise Abschaffung von Papier aus der Kanzlei. Insofern ist das am häufigsten genannte Ziel von Digitalisierung die papierlose Kanzlei, unabhängig von Struktur oder Größe. Lediglich in den untersuchten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften werden Assistenzsysteme genutzt, um bspw. ungewöhnliche Buchungsmuster oder Compliance-Verstöße aufzudecken. In den Steuerberatungsgesellschaften und Einzelkanzleien sind Assistenzsysteme aktuell kein standardmäßiger Bestandteil von Arbeitsabläufen. Eine Handvoll Kanzleien experimentiert bei der Belegerfassung mit OCR-Systemen, die jedoch als fehleranfällig empfunden werden, sodass immer wieder Kontrollschleifen notwendig sind. Ein Kontoauszugsmanager findet in allen Kanzleien Anwendung. Dieser Befund entspricht den Ergebnissen der aktuellen STAX-Erhebung, in der die Nutzung digitaler Kontoauszüge die am häufigsten genutzte digitale Anwendung von Einzelkanzleien (63,3 %) und Steuerberatungsgesellschaften (89 %) darstellt [
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Ein weiteres mit der Digitalisierung verknüpftes Ziel, das häufig in den untersuchten Kanzleien genannt wird, ist die Automatisierung von Prozessen. In diesem Kontext ergeben die Erhebungen, dass die Automatisierung von Prozessen, wie bspw. die automatische Belegverbuchung, längst noch nicht als Standardprozedur in den Kanzleien durchgeführt wird. Wenn Automatisierung stattfindet, dann befindet sich diese einer Art ‚Testphase‘, d. h. die Prozesse sind nicht routiniert, vielmehr werden Lerndateien angesammelt, vom System generierte Buchungsvorschläge geprüft und die Technologie sukzessive den strukturellen Gegebenheiten der Kanzleien, und vor allem der Mandatsstruktur, angepasst. Dies erzeugt hohe zeitliche und personelle Aufwendungen. Hinzukommt, dass die Voraussetzung für Automatisierung eine große Datenmenge ist, sodass sich Automatisierung als Prozess erst im Mengengeschäft als sinnvoll, i. e. S. produktivitätssteigernd, erweisen kann. Dabei fällt ins Gewicht, dass es sich bei den Kanzleien im Sample mehrheitlich um Einzelkanzleien handelt, deren Mandanten hauptsächlich Privatpersonen, Selbstständige und KMU sind. Diese Klientel liefert nicht annähernd so hohe und strukturierte Datenmengen wie Großunternehmen. Vielmehr erhalten die untersuchten Kanzleien Daten von vielen unterschiedlich strukturierten Mandaten und in unterschiedlichen Formaten. Wenn Massendaten an die Kanzleien übermittelt werden, handelt es sich dabei im Wesentlichen um Online-Händler. Ob und in welchem Ausmaß die o.g. Ziele papierlose Kanzlei und Automatisierung von Prozessen erreicht werden können, hängt davon ab, wie entsprechende IKT durch die Führungskräfte in bestehende Organisationsstrukturen eingeführt werden und inwieweit sich die Beschäftigten diese zu eigen machen.
Führung
Im Rahmen der Erhebung wurden insgesamt 13 Führungskräfte befragt. Dabei handelte es sich bei den Einzelkanzleien und Steuerberatungsgesellschaften jeweils um Steuerberaterinnen und Steuerberatern. In den drei untersuchten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften waren die befragten Führungskräfte als ausgebildete Steuerberater/innen und Wirtschaftsprüfer/innen doppelt qualifiziert. Der Status Führungskraft basiert bei den befragten Personen auf unterschiedlichen Rollen in der Organisation, die sich allerdings zu drei zentralen Typen zusammenfassen lassen: In den Einzelkanzleien sind die Führungskräfte auch Inhaberinnen und Inhaber; in den Steuerberatungsgesellschaften sind sie Teil eines Führungsteams, das sich aus mehreren Teammitgliedern in Form einer Sozietät zusammensetzt; in den Niederlassungen großer, überregional bis international agierender Steuerberatungsgesellschaften sind die befragten Führungskräfte Leitungen der Niederlassung oder Abteilungsleitungen.
Trotz unterschiedlicher organisationaler Einbindung, haben die Führungskräfte in allen untersuchten Kanzleien große Freiräume in der Ausgestaltung ihres Führungshandelns und der Schaffung von Führungsstrukturen. Die befragten Führungskräfte übernehmen im Binnen- und Außenverhältnis der Kanzleien verschiedene Aufgaben, die sich in der Mehrheit der Fälle auf Repräsentations- und Kontrolltätigkeiten sowie die Koordination von Arbeit in der Kanzlei beziehen. Steuerdeklaratorische Tätigkeiten führen die Führungskräfte nur in wenigen Fällen selber aus. Jahresabschlüsse und Bilanzen erstellen sie, wenn überhaupt, nur für mittlere bis große Mandantenunternehmen.
Im Außenverhältnis von Einzelkanzleien und Niederlassungen repräsentieren die Führungskräfte die Kanzlei, d. h. sie sind als ansprechbar für die Mandanten und befassen sich mit der Gewinnung neuer Mandate. Vermehrt treiben sie die Digitalisierung in den Mandantenunternehmen durch die strategische Ausweitung des Geschäftsfelds in Richtung Beratung bei der Digitalisierung von Geschäftsprozessen und Schnittstellenimplementierung sowie das Angebot entsprechender Soft- und Hardware voran.
Im Binnenverhältnis fallen Koordinationstätigkeiten an: Die Verteilung der Mandate bzw. Aufgaben an die Beschäftigten erfolgt in jeder der untersuchten Kanzleien durch die Führungskraft bzw. durch Mitglieder des Führungsteams (Abteilungs- oder Teamleitung), entweder direktiv oder diskursiv. Die Mehrheit der Führungskräfte erklärt, dass sie ihren Beschäftigten ein Mitspracherecht bei der Aufgabenverteilung einräumen, doch ob und inwieweit letztere davon Gebrauch machen, erweist sich als mitarbeiterspezifisch (abhängig von Alter, Erfahrung, Funktion etc.).
Die Beschäftigten in den Kanzleien betreuen i. d. R. einen festen Stamm an Mandanten, wobei Mandate zum Teil entsprechend bestimmter Tätigkeiten (z. B. Finanz- oder Lohnbuchhaltung, Einkommens- oder Gewerbesteuererklärung etc.) zwischen Beschäftigten gemäß ihren jeweiligen Qualifikationen aufgeteilt werden. In fast allen Kanzleien müssen die Beschäftigten eine mandantenbezogene Zeiterfassung führen. Diese dient einerseits der Abrechnung von Leistungen gegenüber den Mandanten, andererseits wird sie als Planungs- und Leistungskontrollinstrument durch die Führungskräfte benutzt. In den Kanzleien, in denen die Zeiterfassung eingesetzt wird, existieren i. d. R. auch Vorgaben bezüglich des zu erreichenden Anteils produktiver (i. e. S. abrechenbarer) Stunden an der Arbeitszeit. Die Angaben über die Höhe dieses Anteils unterscheiden sich in einigen Kanzleien, je nachdem, ob Führungskräfte oder Beschäftigte befragt werden. Die Höhe der Vorgaben liegt zwischen 60 und 100 %, wobei die Angaben der Beschäftigten über die Leistungserwartungen ihrer Arbeitgeber in der Tendenz höher liegen als die Erwartungen, die von den Führungskräften selbst kommuniziert werden.
Zusätzlich zu gelegentlichen, expliziten Äußerungen der Führungskräfte zum informellen Charakter der Leistungserwartungen kann auch deren unterschiedliche Wahrnehmung als Indiz dafür betrachtet werden, dass diese Erwartungen in einer Reihe von Kanzleien nicht formal kommuniziert werden. Dies bedeutet aber nicht, insbesondere für die Beschäftigten, dass diese Leistungserwartungen weniger wichtig genommen werden. Nach eigenen Aussagen scheut sich ein Großteil der Führungskräfte, die vielfältigen Möglichkeiten, die die IT-gestützte Zeiterfassung und weitere in den Kanzleien eingesetzte Software zur detaillierten Leistungserfassung und Produktivitätskontrolle bieten, umfassend zu nutzen. Als Grund für die Zurückhaltung wird die Gefährdung der Vertrauensbasis mit den Beschäftigten genannt.
Doch vermittelt die Analyse der Interviews in den Kanzleien durchgängig den Eindruck, dass neben den von Führungskräften immer wieder genannten Kriterien von Leistung (fachliche Qualität, Korrektheit und Zuverlässigkeit) der Effizienz in den Arbeitsabläufen von Beschäftigten eine herausragende Rolle beigemessen wird. Beschäftigte, die einen großen Anteil abrechenbarer Stunden nachweisen können, werden besser angesehen. Geradezu spiegelbildlich stehen dem mehrere Berichte von Beschäftigten gegenüber, in denen ein interner Wettbewerb um gute Mandate beschrieben wird. Schließlich rückt diese Fokussierung den erwirtschafteten Umsatz pro Beschäftigtem ins Blickfeld der Führungskraft. Gleichsam verbessert sie die Verhandlungsposition der Beschäftigten bei Entgeltverhandlungen, die sie angesichts fehlender Tarifverträge in der Steuerberatungsbranche führen müssen.
Auf der anderen Seite führt diese Fokussierung auf beiden Seiten zumindest tendenziell zu einer Unterbewertung solcher Tätigkeiten, die nicht abrechenbar sind oder nicht mit unmittelbar positiven Auswirkungen auf die Effizienz der Arbeit einhergehen; dazu gehören ggf. auch Qualifizierungsmaßnahmen, zumindest solche, die nicht als unmittelbar notwendig für die tägliche Aufgabenerledigung angesehen werden. Die weiter oben berichtete Zurückhaltung von Beschäftigten bei der Wahrnehmung IT-bezogener Schulungsangebote kann ggf. aus diesem, in nahezu allen Kanzleien auffindbaren, Anreizsystem erklärt werden.
Weiterhin werden auch die Personalentwicklung, das Vorantreiben der IKT-Nutzung in der Kanzlei sowie die Rolle für IT-bezogene Fragen als typische Aufgaben einer Führungskraft im Binnenverhältnis genannt, allerdings seltener als die oben genannten Koordinationsaufgaben.
Obwohl die Option der Flexibilisierung von Arbeit, i. e. S. ihre Entkopplung von zeitlich und räumlich vorgegebenen Bedingungen, wiederholt hervorgehoben wird und gleichsam als Möglichkeit für Steuerberatungen hervorsticht, durch die Gewährung von Heimarbeit als attraktiverer Arbeitgeber zu erscheinen, zeigen die Fallstudien auf, dass in den meisten Kanzleien die Arbeit im Büro der Standard ist. In der überwiegenden Mehrheit der untersuchten Kanzleien charakterisieren die Führungskräfte ihr Führungshandeln damit, dass es im Kern auf die persönliche Kommunikation in Ko-Präsenz mit den Beschäftigten ausgerichtet ist. Dieses Merkmal impliziert, dass entsprechende Führungskräfte großen Wert auf Ko-Präsenz legen, denn sie bildet die Basis für persönlichen Austausch. Die Klärung inhaltlicher Fragen und formale Abstimmungsprozesse, wie bspw. die fachliche Überprüfung von Steuererklärungen und Jahresabschlüssen, erfolgen im persönlichen Gespräch. In dieses Bild passt auch, dass dieselben Führungskräfte, die persönlichen Austausch forcieren, ihre Arbeit im Homeoffice mit der Möglichkeit des ungestörten Arbeitens an ihrem Ort des Rückzugs charakterisieren. Dieser Rückzug der Führungskraft wird auch seitens der Beschäftigten akzeptiert: Wenn eine Führungskraft nicht anwesend, also nicht in der Kanzlei präsent ist, sondern im Homeoffice, wird sie nur in Ausnahmefällen (telefonisch) kontaktiert.
Beschäftigte, die im Homeoffice arbeiten, fühlen sich hingegen einem größeren Legitimationsdruck ausgesetzt, weil sie ihr Handeln dort nach Regeln und Normen der Kommunikation zu richten haben, welche Führungskräfte auf Basis einer Ko-Präsenz formuliert haben. Hinzukommt, dass Homeoffice in der Mehrzahl der untersuchten Kanzleien keine standardmäßige Option darstellt, vielmehr ist jede Erlaubnis eine Ausnahme und insofern verstehen Beschäftigte sie auch als besonderes Entgegenkommen seitens der Führungskräfte. Heimarbeitsplätze sind i. d. R. technisch auch schlechter ausgestattet als die in der Kanzlei.
Hinsichtlich der Entwicklung von persönlichen und fachlichen Potenzialen der Beschäftigten bleibt zu konstatieren, dass diese von den befragten Führungskräften nur selten thematisiert werden. Wenn Entwicklungsmöglichkeiten gesehen bzw. aktiv gefördert werden, dann sind es solche, die auf klassische Entwicklungen in der Steuerberatung abzielen. Andere Entwicklungspfade, wie bspw. in Richtung IT- oder Organisationsmanagement oder Beratung, werden selten adressiert, was insofern bemerkenswert ist, als dass eine steigende Bedeutung vereinbarer Tätigkeiten mit Auswirkungen auf die Qualifikationsanforderungen sowohl in der Literatur antizipiert als auch von den Führungskräften selbst beschrieben wird.