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Open Access 2023 | OriginalPaper | Buchkapitel

6. Datenbasierte Geschäftsmodellansätze für Versicherungsunternehmen

verfasst von : Nadine Gatzert, Susanne Knorre, Horst Müller-Peters, Fred Wagner, Theresa Jost

Erschienen in: Big Data in der Mobilität

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

In Kap. 6 werden die Auswirkungen der Erkenntnisse aus den vorangegangenen Kapiteln auf die Versicherungswirtschaft betrachtet, und es werden Implikationen für Kfz-Versicherer abgeleitet. Nach einer Darstellung der Ausgangslage der Versicherungswirtschaft mit Blick auf Big Data (Abschn. 6.1) werden Einsatzmöglichkeiten entlang der Wertschöpfungslette von Versicherungsunternehmen aufgezeigt (Abschn. 6.2). Dabei wird auch untersucht, welcher Nutzen entsteht bzw. welche Mehrwerte den Kunden auf Basis von Big Data angeboten werden können. Anschließend wird die Rolle der Kfz-Versicherung in der Lebenswelt Mobilität und in entstehenden Ökosystemen analysiert (Abschn. 6.3): Optionen der Positionierung von Kfz-Versicherern werden untersucht und es werden Voraussetzungen sowie Chancen und Hürden aufgezeigt.

6.1 Ausgangslage: Big Data in der Versicherungswirtschaft

Seit jeher basiert das Geschäftsmodell „Versicherung“ auf Daten; denn tragfähig ist es nur dann, wenn über das versicherte Risiko möglichst viele relevante Informationen vom Versicherungsunternehmen genutzt werden können und so die Informationsnachteile gegenüber dem Versicherungskunden zu maßgeblichen Teilen überwunden werden.
Daten bilden den Ausgangspunkt für die Einschätzung von Risiken und damit die Vorhersage von Schäden und stellen die Grundlage für die Ausgestaltung des Versicherungsschutzes sowie der Ermittlung der Prämien dar (Arumugam und Bhargavi 2019, S. 8). Insbesondere die Anforderungen an den Risikoprüfungsprozess führen dazu, dass zahlreiche Informationen über den Kunden und seine Lebenssituation erfasst und verarbeitet werden müssen. Je nachdem, welche Sparte oder welcher Zweig betrachtet wird, liegen Daten mit hohem Persönlichkeitsbezug vor. Dies ist insbesondere in der Personenversicherung der Fall, in der Informationen bspw. auch zum Gesundheitszustand des Versicherten vorliegen. Aber auch der Abschluss einer Sachversicherung erfordert Angaben zur Wohnsituation (Hausratversicherung, Wohngebäudeversicherung) oder zur Ausstattung mit Gütern (Kfz-Versicherung, Elektronik-Versicherung). Zahlreiche personenbezogene Daten müssen zudem allein schon erhoben und verarbeitet werden, um die vertragliche Beziehung zu regeln (Adresse, Geburtsdatum, Kontoverbindung etc.). Der vergleichsweise große Kundenbestand sorgt damit für eine umfangreiche Datengrundlage von Versicherungsunternehmen.
Der verfügbare „Datenschatz“ wurde von der Versicherungswirtschaft in der Vergangenheit allerdings nur punktuell und im Wesentlichen für aktuarielle Zwecke eingesetzt (BaFin 2018, S. 95). Die Daten wurden nur zu geringen Teilen strukturiert erfasst, die technischen Möglichkeiten zur Datenanalyse sind vielfach noch ungenutzt, und zu guter Letzt erschweren auch regulatorische Rahmenbedingungen die Verarbeitung (Eucon 2021, S. 18 ff.). Neben den in Kap. 4 dargestellten rechtlichen, technischen und organisatorischen Rahmenbedingungen und Voraussetzungen ergeben sich zusätzliche branchenspezifische Hürden, wie bspw. das Spartentrennungsgebot (§ 8, Abs. 4 VAG), oder spezielle Selbstverpflichtungen, wie u. a. der Code of Conduct.
Obwohl Versicherer gewissermaßen prädestiniert sind, ihr weitgehend datengetriebenes Geschäftsmodell zu digitalisieren, konnten sie sich diesbezüglich in den vergangenen Jahren nicht als Vorreiter positionieren (Eling und Lehmann 2018, S. 359). Mittlerweile hat die Versicherungswirtschaft die Dringlichkeit der Transformation, und insbesondere auch das Potenzial von Big Data und Data-Analytics-Lösungen, allerdings erkannt. Ein knappes Viertel der Versicherer schätzt ihren Analytics-Reifegrad zwischenzeitlich sogar bereits als weit vorangeschritten ein; ebenso viele Unternehmen stehen hier jedoch noch ganz am Anfang und haben keine oder kaum Erfahrungen sammeln können (EY 2021, S. 7). Einsatzmöglichkeiten ergeben sich nahezu entlang der gesamten Wertschöpfungskette. So können die bereits vorliegenden, historischen Daten in einem höheren Detaillierungsgrad analysiert werden und neue Folgerungen ermöglichen, wenn sie verknüpft und potenzielle Zusammenhänge hergestellt und überprüft werden. Gleichzeitig lassen sich Szenarien modellieren, die treffsichere Aussagen über die Zukunft ermöglichen (Arumugam und Bhargavi 2019, S. 8). Um die Daten jedoch nutzen zu können, müssen noch einige Herausforderungen bewältigt werden. Für Versicherer bestehen Herausforderungen zum einen darin, dass sie zu zahlreichen Daten von Anfang an gar keinen Zugang haben (Unternehmen wie Google und Amazon sind hier deutlich besser aufgestellt, weil sie bspw. durch das Suchverhalten stets über alle aktuellen Wünsche und Sorgen Bescheid wissen und über die Auswertung der Warenkörbe sämtliche persönlichen Bedürfnisse und Vorlieben der Kunden kennen) sowie zum anderen darin, dass die Daten, die ihnen vorliegen, oft unstrukturiert, unvollständig oder fehlerhaft sind (Kaiser et al. 2019). Zwar werden die technischen Systeme sich weiterentwickeln und damit auch immer besser mit unstrukturierten oder lückenhaften Datensätzen zurechtkommen (Kaiser et al. 2019), aber der Zugang zu den Daten wird auch in Zukunft den kritischen Erfolgsfaktor darstellen. Dabei ist es nicht zwangsläufig erforderlich, die Daten über die eigene Kundenschnittstelle selbst zu erheben. Alternativ können Daten auch von externen Datenlieferanten bezogen werden (Kaiser et al. 2019). Beide Varianten erfordern jedoch die Bereitschaft der Kunden, ihre Daten bereitzustellen, und deren Einwilligung, dass diese von den Versicherungsunternehmen genutzt werden dürfen. Diese Bereitschaft ist immer dann gegeben – dies bestätigen zahlreiche verschiedene Studien – wenn entsprechende Gegenleistungen erwartet werden dürfen und der Datenempfänger bekannt und vertrauenswürdig ist (GDMA 2022). Die Ausgangslage für Versicherungsunternehmen ist in diesem Zusammenhang gar nicht schlecht, denn in Hinblick auf einen vertrauensvollen Umgang mit sensiblen Daten genießen sie ein vergleichsweise hohes Ansehen (Bafin 2018, S. 98).1 So sind laut einer Befragung des Beratungsunternehmens Ernst & Young rund 70 % der Versicherungskunden bereit, ihre Daten mit dem Versicherer zu teilen. Andere Untersuchungen – die diese Aussage stützen – analysieren zudem die Unterschiede verschiedener Kundengruppen hinsichtlich ihrer Bereitwilligkeit zur Datenfreigabe. Die Ergebnisse unterstreichen die intuitive Annahme zur Bedeutung eines grundsätzlichen Vertrauensverhältnisses: die höchste Bereitschaft zeigt sich – bei der nach Vertriebskanälen geclusterten Untersuchung – in den Fällen einer persönlichen Beziehung zu einem Versicherungsvermittler (Auer und Dröge 2021, S. 74). Die Rolle von Vertrauen wird auch in zahlreichen weiteren Studien und Befragungen, auch im Kontext anderer Branchen, herausgestellt (siehe dazu z. B. auch GDMA 2022).
Es lässt sich also schlussfolgern, dass Vertrauen die Grundvoraussetzung für die Frei- und Weitergabe von Daten darstellt und der Aufbau eines entsprechenden Vertrauensverhältnisses auch in der digitalen Welt unabdingbar ist. Im zweiten Schritt ist darüber hinaus eine für den Kunden als adäquat wahrgenommene Gegenleistung erforderlich. Wie hoch die Mehrwerte für die Bereitstellung der Daten ausfallen müssen, ist jedoch unterschiedlich und hängt nicht nur von Persönlichkeitsmerkmalen der Kunden ab. So müssen Gegenleistungen bspw. umso höher sein, je sensibler die Daten sind, und auch die subjektive Wahrnehmung der potenziellen Gefahren einer missbräuchlichen Verwendung durch die Datenempfänger spielt eine Rolle. Ebenso könnte sich durch Beobachtungen anderer Märkte, wie z. B. Japan, schlussfolgern lassen, dass mit einer höheren Technologie-Durchdringung Konditionierungseffekte eintreten; Kunden müssen sich also gewissermaßen erst langsam an das Thema Data-Analytics gewöhnen.
Im Bereich der Kfz-Versicherung ergibt sich darüber hinaus jedoch eine besondere Situation, die in den vorangegangenen Kapiteln bereits anklang und für Versicherungsunternehmen beeinträchtigend und herausfordernd wirkt. Geprägt ist diese Situation durch die Rolle der Automobilbranche. Wie in Kap. 2 bereits dargestellt, verfügen die Automobilhersteller nicht nur über einen exponierten Zugang zum Kunden, sondern sie bekommen über die Fahrzeugsensorik auch Zugang zu dessen Mobilitäts- und Fahrverhalten. Sie befinden sich damit in einer glücklichen Ausgangssituation, die ihnen die Positionierung auf dem Mobilitätsmarkt erleichtert. Es ist daher gewissermaßen verständlich, dass das von der Bundesregierung vorgeschlagene Konzept eines Daten-Treuhänders bei den Automobilherstellern auf Kritik stößt. Idee des Modells ist eine neutrale Stelle, die zum einen die Hoheit der Kunden über ihre Fahrzeug-/Mobilitätsdaten sicherstellen soll und zum anderen einen standardisierten Zugang bereitstellt, der Behörden, Werkstätten, Versicherern und anderen Dienstleistern Datenzugang ermöglicht (Wenig 2022). Die unterschiedlichen Interessenlagen erschweren die Lösungsfindung aktuell noch; gleichwohl sich verschiedene Kooperationen und Plattformen parallel dazu bereits gebildet haben (siehe dazu Abschn. 4.​2), ist eine einheitliche Lösung zum Data-Sharing im Mobilitätsbereich bislang noch nicht gefunden und die Versicherungswirtschaft ist auf die Kooperationsbereitschaft der Automobilhersteller angewiesen. Gelingt es allerdings, Zugang zu den umfangreichen Fahrzeug- (und auch weiteren mobilitätsbezogenen) Daten zu erlangen, lässt sich das Geschäftsmodell der Kfz-Versicherung vielfältig erweitern. (Datenbasierte) Zusatzleistungen könnten in die Versicherungsprodukte integriert werden und sich durch die Wahrnehmung als zusätzliches Kaufkriterium auf die Nachfrage und die Kundenloyalität auswirken sowie dabei helfen, neue Kundengruppen zu erschließen (Auer und Dröge 2021, S. 74; Paik et al. 2017, S. 81).

6.2 Anknüpfungspunkte entlang der Wertschöpfungskette

6.2.1 Tarifierung

In der klassischen Tarifierung der Kfz-Versicherung wurden und werden bisher statische Tarifmerkmale genutzt, um Risiken gleicher Ausprägung zusammenzufassen. Dadurch werden kleinere und homogenere Kollektive gebildet, die einen ähnlichen Schadenerwartungswert aufweisen. Bei den sich daraus ergebenden Tarifen handelt es sich somit immer um Verallgemeinerungen des (reduzierten) Kollektivs, die auf den einzelnen Versicherungsnehmer übertragen werden. Die tatsächlichen Ursachen und Umstände von Unfällen und Schäden werden hingegen nicht berücksichtigt (Arumugam und Bhargavi 2019, S. 8; Paik et al. 2017, S. 76 f.). Gleichzeitig basieren die herangezogenen Merkmale auf den Angaben, die durch den Versicherungsnehmer übermittelt werden. Es besteht daher grundsätzlich die Gefahr von fehlerhaften Angaben, bspw. in Hinblick auf die jährliche Fahrleistung.
Anders ist das bei Telematik-Tarifen: im Rahmen von Telematik-Tarifen werden Daten zum individuellen Fahrverhalten des Versicherungsnehmers erfasst, das Ableitungen zum Fahrstil und damit auch zum Unfall- und Schadenrisiko erlaubt. Diese Informationen können genutzt werden, um eine risikoadäquate Tarifierung durchzuführen. Während die erste Generation der Telematik-Tarife lediglich die zurückgelegte Strecke sowie die Dauer und Zeit der Fahrt berücksichtigte („Pay-As-You-Drive“) werden im Rahmen von „Pay-How-You-Drive“ mittlerweile zahlreiche weitere Informationen zum Fahrverhalten und -stil des Versicherungsnehmers einbezogen und die Tarifierung wird immer individueller und risikogerechter. Gleichzeitig werden dabei Informationsasymmetrien weiter reduziert, und auch die Gefahr von fehlerhaften Angaben durch den Versicherungsnehmer wird deutlich eingedämmt (Eling und Lehmann 2018, S. 367; Paik et al. 2017, S. 78).
In der konkreten Pricing-Ausgestaltung gibt es die Möglichkeiten der Festlegung einer anfänglichen hohen Prämie, die im Zuge der Vertragslauzeit über Rabatte oder Boni dynamisch angepasst bzw. reduziert wird. Alternativ besteht die Option, das Fahrverhalten erst am Ende des Jahres auszuwerten und auf dieser Basis eine adjustierte Prämie für die darauffolgende Periode zu bestimmen bzw. die Prämie auch rückwirkend noch einmal anzupassen (Paik et al. 2017, S. 77).2 Gemeinsam ist den aktuell am Markt bestehenden Policen, dass bei risikoarmem Fahren lediglich ein Bonus gewährt wird; ein Malus bei „schlechtem“ Fahren hingegen ist nicht vorgesehen.
Für die Risikobewertung herangezogen werden in erster Linie GPS- sowie Sensor/Gyro-3 und Beschleunigungsdaten. Gerade die Geschwindigkeit – die bei Überschreiten des Tempolimits zu den häufigsten Unfallursachen zählt – sowie das Fahrverhalten in Kurven, beim Beschleunigen oder Bremsen erlauben Ableitungen zur Sicherheit der Fahrweise. So lassen eine erhöhte Geschwindigkeit in Kurven oder ein häufiges schnelles Beschleunigen und hartes Bremsen auf einen aggressiveren Fahrstil schließen, der die Unfallwahrscheinlichkeit deutlich erhöht. Darüber hinaus können auch Zeitpunkt und Strecke der Fahrt sowie die parallele Nutzung des Smartphones in die Fahrverhaltens-Analyse einfließen. Schließlich unterliegen Fahrten bei Dunkelheit, im Berufs- und Stadtverkehr einem höheren Unfallrisiko. Bei den genannten Faktoren handelt es sich um Merkmale, die ohnehin bereits vielfach (z. B. durch die Autohersteller) erhoben werden und auch schon heute in verschiedenen am Markt angebotenen Telematik-Tarifen Berücksichtigung finden. Generiert wird der Großteil der Daten durch das Fahrzeug – zumindest vorausgesetzt, es verfügt über den erforderlichen technischen Standard. Damit geht einher, dass Versicherungsunternehmen zunächst keinen Zugang haben. Entsprechend lassen sich diese Daten durch den Versicherer nicht „einfach so“ erheben und für die Tarifierung nutzen. Der Versicherungsnehmer muss sich folglich ganz bewusst und aktiv für einen Telematik-Tarif entscheiden, und Versicherer und Versicherungsnehmer haben den entsprechenden Datenzugang einzurichten. Ermöglicht und eingerichtet werden kann der Datenzugang über verschiedene Wege: Zum einen kann ein elektronisches Gerät installiert werden, das entweder selbst Daten aufzeichnet (Black box) oder Zugriff auf das Netzwerk des Fahrzeugs erhält (Dongle). Zum anderen werden Smartphone-basierte Lösungen angeboten, die entweder über die im Smartphone verbauten Sensoren (Beschleunigungssensor, Gyrosensoren, Magnetometer)4 oder aber mittels GPS die verschiedenen Daten bereitstellen können. Des Weiteren können auch Smartphones mit dem Fahrzeugnetzwerk verbunden werden und so Daten aus dem Fahrzeug verarbeiten bzw. weitergeben. Da bei der Nutzung des Smartphones kein zusätzliches Gerät benötigt und verbaut werden muss, sind die Kosten und die Komplexität für den Kunden geringer – und die Convenience höher. Für den Versicherer sind Verwendung und Einsatz des Smartphones allerdings mit verschiedenen Herausforderungen verbunden, bspw. durch die unzuverlässige Kopplung mit dem Fahrzeug oder die bestehende Hardwareheterogenität. Am fortschrittlichsten ist derzeit die Verwendung eines Beacon, das ist ein kleiner Funksender, der an der Windschutzscheibe angebracht wird und die Fahrdaten aufzeichnet. Er kann mit dem Smartphone gekoppelt werden und somit regelmäßig alle gesammelten Daten übermitteln. Der Beacon kombiniert den Vorteil der Smartphone-Aufzeichnung, nämlich dass die Verwaltung von mehreren Nutzern möglich ist, mit dem Vorteil der verbauten Systeme – ohne dabei jedoch deren Nachteile aufzuweisen.
Da die Fahrverhaltensdaten alleine noch keine ausreichenden Rückschlüsse auf das Unfallrisiko und vor allem die Prognose des Schadenbedarfs erlauben, müssen die Daten mit zahlreichen verschiedenen kontextuellen Informationen angereichert werden. Zuvorderst stellen die vor Ort geltenden Verkehrsvorschriften, insbesondere die Geschwindigkeitsbegrenzungen, sowie die aktuelle Verkehrssituation Auskünfte dar, die eine Einordnung der gewonnenen Fahrzeugdaten erlauben. Denn nur durch zusätzliche Verkehrs- und Infrastrukturdaten lassen sich plötzliches Bremsen (Ampel springt um, Stauende, o. ä.), auffallend langsames Fahren (stockender Verkehr) u.v.m. erklären. Ebenso ist bspw. eine Geschwindigkeitsüberschreitung von 10 km/h unterschiedlich zu bewerten, je nachdem ob sie auf einer Ausfallstraße oder in der Stadt begangen wird – auch wenn in beiden Fällen 50 km/h vorgeschrieben sind. Auf Basis all dieser Informationen lässt sich ein individueller Score ermitteln, der – ggf. in Kombination mit herkömmlichen Tarifmerkmalen – für die Ermittlung der Fahrsicherheit und damit des Unfallrisikos herangezogen werden kann. In Kombination mit historischen Schadendaten lassen sich dann Schadenbedarfe ableiten. Die Übersetzung der durch das Fahrzeug bzw. die Black box oder das Smartphone erzeugten Rohdaten in individuelle Schadeneintrittswahrscheinlichkeiten und Prognosen zur individuellen Schadenhöhe stellen Stand heute ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal der Versicherungswirtschaft dar und erschweren nach wie vor den Eintritt in den Versicherungsmarkt für Akteure anderer Branchen.
Je mehr Daten zur Verfügung stehen und je granularer diese ausgewertet werden können, desto genauer können Risiken eingeschätzt und Schadenbedarfe ermittelt werden. Für Versicherungsunternehmen ergeben sich dadurch Vorteile, da Entscheidungsgrundlagen verbessert und Schadenkosten treffsicherer kalkuliert werden können (EIOPA 2019, S. 19). In der Zukunft könnte auch die Möglichkeit genutzt werden, neben den klassischen Merkmalen, wie dem Geschwindigkeits-, Beschleunigungs- und Bremsverhalten, weitere Faktoren heranzuziehen, die ebenfalls durch das Fahrzeug oder anderweitig erhoben werden. Zu denken ist bspw. an das Müdigkeits- und Aufmerksamkeitslevel, das in modernen Fahrzeugen heute bereits standardmäßig erfasst wird, sowie an weitere psychologische, physiologische oder emotionale Faktoren. Bspw. könnten durch die Kopplung der Smart Watch auch Stress, Angst und Aufregung erkannt werden oder der Alkoholpegel sowie der allgemeine Gesundheitszustand könnten Eingang in die Tarifierungsmodelle finden. Ebenso werden – spartenübergreifend – immer mal wieder Pricingstrategien diskutiert, die nicht allein kostenbasiert sind, sondern die kollektive oder sogar individuelle Zahlungsbereitschaft einbeziehen (siehe dazu z. B. Jahnert et al. 2020, S. 35). In anderen Ländern, wie bspw. China, werden schon heute weitere personenbezogene Daten genutzt. So bietet die Ant Group einen Kfz-Tarif an, der neben Fahrzeugdaten auch die Kreditbonität, die Konsumfreudigkeit und die Berufswahl berücksichtigt (Krüger 2020).
Vom Versicherungsnehmer hingegen wird der Einbezug von Faktoren, die sich gar nicht oder nur schwer durch ihn selbst steuern lassen, oftmals als unfair bewertet (DAV 2021, S. 16). Darüber hinaus wächst mit der Zunahme der erhobenen Daten dessen Sorge vor missbräuchlicher Verwendung (Stichwort „gläserner Bürger“), und eine Schlechterstellung durch den Versicherer wird befürchtet. Es liegt damit auf der Hand, dass mit einer steigenden Anzahl an Tarifierungsmerkmalen – insbesondere, wenn es sich um schwer beeinflussbare sowie sensible personenbezogene Daten handelt – der Nutzen und die Mehrwerte für den Kunden steigen müssen, damit sie ihre Daten freigeben.5 Bei heutiger Ausgestaltung der Datenerhebung zeigen jedoch immerhin 63 % der Kunden Interesse an der Nutzung von Telematik-Tarifen (Auer und Dröge 2021, S. 73 f.). Insbesondere für Versicherungsnehmer, die bei der klassischen Tarifierung bspw. aufgrund ihres Alters Risikoaufschläge zahlen müssen, sind derartige Tarife oft attraktiv. Die tatsächliche Nachfrage, die sich in der Marktdurchdringung widerspiegelt, ist mit unter 5 % jedoch noch äußerst moderat. Was grundsätzlich gut zu dem Kundenwunsch nach Individualität passt, findet in der Praxis folglich bislang noch wenig Anklang. Gründe für die geringe Nachfrage könnten neben Datenschutzbedenken möglicherweise auch in einer als kompliziert wahrgenommenen Vertragsgestaltung sowie – gerade in Zielgruppen höheren Alters – einer mangelnden Technologieakzeptanz liegen.
Neben Kosteneinsparungen und individuellen Mehrwertdiensten, die aufgrund der Datenerfassung und -analyse sowie u. a. der Verknüpfung mit bspw. dem Smartphone angeboten werden können, besteht ein weiterer Nutzen für den Kunden in einem besseren Verständnis seines Fahrverhalten. Die ohnehin stattfindende Bewertung kann dem Versicherungsnehmer in regelmäßigem Feedback sowie Ad-hoc-Benachrichtigungen gespiegelt werden und ihm dabei helfen, sein Fahrverhalten zu verbessern. Die dabei stattfindende Einbeziehung des Kunden führt parallel dazu, dass er eine verbesserte Kostenkontrolle über seine Prämien erhält und diese aktiv mitgestalten kann (EIOPA 2019, S. 19 f.). Dieser Ansatz wird auch als „Manage-How-You-Drive“ bezeichnet. Neben der reinen Fahrsicherheit können hier noch weitere Faktoren und Ziele Berücksichtigung finden, so z. B. der Aspekt der Nachhaltigkeit, der schon heute von einigen Versicherern ebenfalls in die Bewertung einfließt und entsprechend rabattiert wird.
Aufgrund der Vorteile, die sich bei der Inanspruchnahme von Telematik-Tarifen für gute bzw. sichere Fahrer ergeben, dürften sich darin perspektivisch die „guten Risiken“ sammeln. In den klassischen Tarifen verblieben somit überwiegend riskantere Fahrer, da diese eine geringere Bereitschaft zur Datenweitergabe aufweisen und bei den Telematik-Tarifen keine Preisvorteile realisieren können. In der Folge besteht das Risiko einer Negativ-Selektion; vor diesem Hintergrund erfahren Telematik-Tarife immer wieder den Vorwurf der Diskriminierung und Entsolidarisierung (siehe dazu aber gegensätzlich Müller-Peters und Wagner 2017).

6.2.2 Schadenmanagement

Im Jahr 2021 ereigneten sich 2.314.938 polizeilich erfasste Unfälle auf deutschen Straßen und damit wieder etwas mehr als in 2020, als der Verkehr – und damit auch die Verkehrsunfälle – aufgrund der Corona-Pandemie deutlich zurückgingen (Statistisches Bundesamt 2022). Für die Versicherungswirtschaft ergaben sich im Jahr 2020 alleine in der Kfz-Versicherung rund 8 Mio. Schäden, die die Kfz-Versicherer rund 22 Mrd. Euro kosteten (GDV 2021). Damit machen die Schäden der Kraftfahrtversicherung fast die Hälfte aller Schäden der Schaden-/Unfallversicherung aus; entsprechend groß ist die Relevanz. Gleichzeitig ergeben sich aus dem hohen Schadenaufkommen allerdings auch bedeutende Optimierungs- und Einsparpotenziale. Von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die zunehmende Technologisierung der Fahrzeuge und speziell die zahlreichen verbauten Sensoren, die in großem Umfang Fahrzeug- und Fahrverhaltensdaten erfassen und überwachen und in der Folge automatisiert und in Echtzeit Schäden und Fehler erkennen und vermeiden helfen können. In Abschn. 4.​1 wurde bereits erläutert, dass die teure verbaute Technik in den Schadenfällen zu steigenden Schadenkosten führt, gleichzeitig aber die mit ihr erreichte Schadenprävention zu einer Reduzierung der Schadeneintrittswahrscheinlichkeiten führt.
Des Weiteren ergeben sich erhebliche Potenziale in Hinblick auf die Kfz-Schadenregulierung, die im Vergleich mit anderen Wertschöpfungsaktivitäten, ebenso wie im Vergleich mit anderen Versicherungszweigen, bereits recht weit vorangeschritten ist. Durch Automatisierung der einzelnen Schritte im Schadenregulierungsprozess auf Basis einer standardisierten Verarbeitung der entsprechenden Daten lassen sich zum einen Kosteneinsparungen auf Seiten der Versicherer realisieren, zum anderen können die Abläufe für den Kunden schneller, komfortabler und transparenter gestaltet werden. Ausschlaggebend ist dies vor allem aufgrund der hohen Bedeutung des Schadenfalls für den Kunden. Häufig auch als „Moment of Truth“ bezeichnet, kennzeichnen der Schadenfall und der daraus folgende Kontakt zum Versicherer den entscheidenden Moment der Kundenbeziehung. Für den Versicherungsnehmer, der sich aufgrund des Schadenfalls in einer (zumindest erstmal emotionalen) Ausnahmesituation befindet und Hilfe benötigt, wird genau in diesem Augenblick die Dienstleistung Versicherung (die ansonsten abstrakt und theoretisch bleibt) erlebbar. Hinzu kommt, dass die Beziehung zwischen Versicherungsunternehmen und Versicherungsnehmer typischerweise nur eine sehr geringe Anzahl an Kontaktpunkten aufweist – der Schadenfall also oftmals die nahezu einzige Möglichkeit ist, die Kundenbeziehung aktiv zu gestalten. Die Bedeutung für die Kundenzufriedenheit liegt folglich auf der Hand. Dies bestätigen auch zahlreiche Studien und Befragungen, die der Effizienz des Schadenmanagements eine deutlich höhere Bedeutung beimessen als bspw. der Tarifierung oder den Produkten (Auer und Dröge 2021, S. 73), und umständliche und papierhafte Prozesse als einen der größten Schmerzpunkte für den Kunden hervorheben (Krüger 2018).
Eine weitere Besonderheit des Schadenmanagements ergibt sich aus den verschiedenen Parteien, die klassischerweise an der Schadenregulierung beteiligt sind (und die im Zuge der Digitalisierung – Stichwort Ökosysteme – sogar eher noch mehr werden): Der Schaden wird – bei entsprechender Schwere – entweder manuell durch einen Unfallbeteiligten/Zeugen oder automatisiert (eCall) an die Rettungsleitstelle übermittelt, die – wenn erforderlich – einen Rettungswagen zur Unfallstelle schickt. Parallel – in der Regel innerhalb einer Woche (§ 7 ABK) – ist zudem der Versicherer zu informieren, und der Unfallhergang ist erneut zu schildern. Auf Seiten des Versicherers erfolgen die Schadenzuteilung (d. h. die Zuordnung zur betreffenden Schadenart und zur Abteilung bzw. zum Bereich, die/der für die Bearbeitung zuständig ist) sowie die formelle Deckungsprüfung. Sofern es sich um einen Versicherungsfall handelt, kann durch den Versicherer zusätzlich ein Gutachter beauftragt werden, der in Abstimmung mit dem Versicherungsnehmer einen Vor-Ort-Termin zur Einschätzung des Schadens vereinbart. Anschließend wird als weitere Partei die Kfz-Werkstatt hinzugezogen. Bei deren Auswahl kommt die Konfliktsituation zwischen Automobilhersteller und Kfz-Versicherer zum Tragen, denn während Automobilhersteller den Kunden gerne in die markengebundenen Vertragswerkstätten routen wollen, arbeiten Versicherer in der Regel mit freien Werkstätten zusammen, in die Kunden mit Werkstattbindung ihre Fahrzeuge zur Reparatur bringen müssen. Die anschließende Abrechnung kann – bspw. für den Fall der direkten Beauftragung einer Partnerwerkstatt durch den Versicherer – direkt zwischen Werkstatt und Versicherungsunternehmen erfolgen oder aber weitere Schritte für den Kunden nach sich ziehen. Dieser Prozess stellt sich für den Kunden oft beschwerlich dar und ist nicht selten auch mit einer Einschränkung seines Mobilitätsverhaltens verbunden.6 Die im Fahrzeug entstehenden Daten und deren automatisierte Auswertung könnten dazu genutzt werden, die Abläufe deutlich schneller und auch weniger fehleranfällig (Stichwort Versicherungsbetrug) sowie günstiger zu gestalten. Die Schadenmeldung käme nicht wie heute über zahlreiche unterschiedliche Kanäle und Medien (Telefon, App, E-Mail, …) zum Versicherer, sondern würde direkt vom Fahrzeug übermittelt – mit der Folge, dass für beide Parteien Effizienzvorteile entstehen (Bocken et al. 2021, S. 52). Der Unfallhergang ließe sich ebenso durch die verbaute Dashcam nachvollziehen, die Schadeneinschätzung bräuchte keinen zwischengeschalteten Gutachter, sondern würde sich direkt aus der Auswertung der durch die Sensoren erfassten Daten ergeben, die mit Fotoaufnahmen von Seiten des Fahrers ergänzt werden könnten (Bocken et al. 2021, S. 51). Zu guter Letzt würde eine automatisierte Dokumentenerkennung und -verarbeitung, ggf. in Kombination mit einem sog. Natural Language Processing, die Kommunikation zwischen Versicherer, Werkstatt und Kunden erheblich verschlanken und papierhafte Prozesse obsolet machen. Bereits heute haben einige Versicherer einzelne oder mehrere der genannten Aspekte implementiert; insbesondere in der Betrugserkennung, aber auch in der Schadenclusterung oder der Prüfung von Rechnungseingängen (EIOPA 2019, S. 25).
Die skizzierten Abläufe sind jedoch an unterschiedliche Voraussetzung geknüpft: Zunächst muss über Kooperationen mit Automobilherstellern oder über eine eigene Schnittstelle für Telematik-Lösungen der sichere Zugang zu den Fahrzeugdaten vorliegen. Allein die Verfügbarkeit von Daten stellt allerdings noch keine Lösung dar – wie die aktuelle Situation der Versicherer zeigt. Vielfach liegen Schadendaten zwar vor, sie sind aber unstrukturiert, historische Daten liegen zum Teil nicht einmal in einer Form vor, die sich technisch integrieren oder auswerten ließe. Daraus ergibt sich das Erfordernis, dass die Schadenregulierungsprozesse vorzugsweise End-To-End digitalisiert sind. Gleichzeitig sind einschlägige technische Möglichkeiten und Fähigkeiten nicht nur der Datenauswertung, sondern auch des Datenaustauschs zwischen allen beteiligten Parteien erforderlich. Zu guter Letzt bedarf es der Bereitschaft der Kunden zur Unterstützung der Datenteilungs- und -verarbeitungsprozesse sowie des zugehörigen Kundenvertrauens in den sorgsamen Umgang mit den Daten, die noch nicht in allen Kundengruppen vorhanden sind. Bzgl. aller genannten Voraussetzungen bestehen Stand heute noch Herausforderungen, die es seitens der Versicherer zu lösen gilt; sei es durch die Partizipation an mobilitätsbezogenen Data-Sharing-Plattformen wie Caruso, um die Daten zu erlangen, durch die konsequente Digitalisierung der Unternehmensprozesse, durch den Wechsel in eine Cloud-Umgebung oder durch die enge Begleitung und Konditionierung des Kunden, um dessen Bereitschaft zu erhöhen. Dass dies erfolgreich sein kann, zeigen Beispiele aus anderen Branchen, in denen Kunden bereits heute deutlich freizügiger bzw. ohne dezidiert darüber nachzudenken ihre Daten preisgeben, bspw. in den sozialen Medien bei der Nutzung von Shopping-Apps, die nicht nur den Standort, das Kaufverhalten etc. auswerten können, sondern in der Regel auch Zugriff auf das weitere Browserverhalten abfragen.
Einfache Schäden, die schnell reguliert sind (Bagatellschäden, z. B. Glasbruch), können so bereits heute in Echtzeit übermittelt werden. Nach und nach wird dies auch für komplexere Schäden möglich sein.7 Die Schäden würden automatisiert klassifiziert und in einer übergreifenden Server-Cloud mit den Daten von Millionen anderen Schäden abgeglichen, um Reparaturkosten KI-gestützt abzuschätzen. Gleichzeitig könnten durch die (bspw. cloud-basierte) Anbindung der Werkstätten alle Daten direkt an diese übermittelt werden und mithilfe bspw. einer Datensynchronisation der Kalender passende Termine in der Werkstatt vorgeschlagen werden. Im Ergebnis wären innerhalb weniger Minuten nach dem Schaden sämtliche Prozessschritte erledigt und der Versicherungsnehmer könnte sich wieder um andere Dinge kümmern (Krüger 2020). Je weiter vorangeschritten die Datenanalyseverfahren und je intelligenter die automatisierten datenbasierten Entscheidungen sind, desto eher können auch komplexere Schäden derart bearbeitet werden (Kaiser et al. 2019). Zur Einordnung und Entscheidungsunterstützung könnten KI-gestützte Modelle eingesetzt werden, die zunächst entscheiden, welche Fälle automatisiert durchlaufen können und welche einer manuellen Prüfung unterzogen werden sollten. Durch den hohen Anteil von Kleinst-/Klein- und Standardschäden könnte allein hierdurch die gesamte Bearbeitungszeit für Schäden beim Versicherungsunternehmen um 80 % reduziert werden (Krüger 2019). Weitere Optimierungen ergäben sich durch selbstlernende Systeme, die ihre Entscheidungen mit Kontext-Daten (neben der Tageszeit, Wetterdaten oder dem Start- und Zielort kann das bspw. auch die Beziehung der Unfallbeteiligten sein) anreichern und nicht mehr nur nach durch den von Menschen vorgegebenen Regeln arbeiten. Sind die dadurch entstehenden Erleichterungen und Annehmlichkeiten für den Kunden groß genug, ist es durchaus möglich, dass er hierfür auch bereit ist, die entsprechenden Daten an den Versicherer preiszugeben (Auer and Dröge 2021, S. 73).

6.2.3 Vertrieb und Kundenkommunikation

In keinem anderen Versicherungszweig ist die Bedeutung des Online-Vertriebs so hoch wie in der Kfz-Versicherung: knapp ein Viertel aller Verträge wurden im Jahr 2021 direkt über die Webseite des Versicherers, über Vergleichsportale oder andere Apps/Online-Angebote abgeschlossen. Das entspricht rund 10 Prozentpunkten mehr als in anderen Zweigen der Schaden-/Unfallversicherung und ist dreimal so viel wie in der Privaten Krankenversicherung bzw. siebenmal so viel wie in der Lebensversicherung (GDV 2021). Gründe hierfür liegen nicht zuletzt in einer vergleichsweise geringen Komplexität der Kraftfahrtversicherung, die auch den Einsatz digitaler Kommunikationskanäle nahelegt – gerade auch vor dem Hintergrund, dass das oben genannte Viertel der Versicherungsnehmer eine gewisse Affinität zu Digitalisierungsthemen aufweist und Interesse an einer digitalen Kommunikation zeigt.
Während es für die „einfache/klassische“ digitale Kommunikation zunächst keiner spezifischen Daten bzw. Datenanalyse-Tools bedarf, gewinnen diese für neuere Methoden zunehmend an Relevanz. So basieren bspw. Chatbots, die Kundenanfragen automatisiert 24/7 beantworten können und so dem Kundenwunsch nach Flexibilität und jederzeitiger Erreichbarkeit nachkommen, nahezu vollständig auf Big Data. Aber auch abseits des Einsatzes von Chatbots ergeben sich durch die Datennutzung und -auswertung zahlreiche Ansatzpunkte, die Customer Experience zu verbessern. Beispielsweise bieten nahezu alle Versicherungsunternehmen eine Vielzahl unterschiedlicher Kommunikationskanäle an: So können Anfragen zumeist sowohl per Telefon, per E-Mail, per Chat, per App, per Brief, per Fax oder persönlich über den Vermittler gestellt werden. Hierbei ist davon auszugehen, dass jeder Kunde über eine individuelle Präferenz verfügt, wann er mit welchem Anliegen welchen Kanal nutzen möchte. Diese Präferenz zu antizipieren und diesen Kanal auch andersherum proaktiv bei der Kontaktaufnahme durch den Versicherer zu nutzen, stellt eine vergleichsweise simple Möglichkeit dar, Verhaltens- und Präferenzdaten zur Verbesserung der Customer Journey einzusetzen. Nichtsdestotrotz wird diese Möglichkeit bislang nur von wenigen Versicherern genutzt – der Grund liegt erneut darin, dass die Daten nicht strukturiert vorliegen und daher nicht systematisch ausgewertet werden können. In der Folge werden Potenziale zur Steigerung der Kundenzufriedenheit nicht ausgeschöpft. Das Gleiche gilt für Präferenzen zur Art der Ansprache (z. B. duzen oder siezen), durch wen und zu welcher Tageszeit der Kontakt erfolgen soll bis hin zu den Inhalten oder konkreten Formulierungen. Auch diese Informationen können aus der (historischen) Kundenkommunikation abgeleitet werden, und mittels Natural Language Processing (NLP), Spracherkennung und Machine Learning können sowohl text- als auch sprachbasierte Inhalte verstanden und Intentionen und Emotionen entschlüsselt werden. Dabei handelt es sich jedoch gewissermaßen um die Königsdisziplin, für die neben einer riesigen Datenmenge auch spezifisches Know-how vonnöten sind. Für Versicherungsunternehmen, deren Kernkompetenz in anderen Bereichen liegt, werden diese Anwendungen wohl nur in Kooperation mit anderen Unternehmen zu erschließen sein. Heute bereits vielfach umgesetzt und branchenübergreifend längst Standard ist hingegen die datenbasierte Effizienzsteigerung einzelner Kontaktpunkte und Prozessschritte, bspw. durch das automatische Befüllen von Datenfeldern in Dokumenten, wenn die entsprechenden Daten schon bekannt sind, oder die Online-Identifizierung via Gesichtserkennung (Krüger 2020). Hierfür kooperieren Versicherungsunternehmen häufig mit Technologieanbietern oder Start-ups.8
Gleichzeitig können Informationen über den Kunden, speziell Daten zu seinem Verhalten und seinen Präferenzen, genutzt werden, um (neue) Vertriebspotenziale zu erschließen. Je mehr und je detailliertere Informationen über den Kunden vorliegen, desto granularer lassen sich Zielgruppen einteilen. In der Folge können personalisierte Kampagnen entwickelt werden, und es kann datenbasiert eine Zuordnung zu einem für den Versicherungsnehmer passenden Vermittler erfolgen (EIOPA 2019, S. 21). Aber auch Standortdaten, Bewegungsmuster oder Informationen aus den sozialen Medien können Aufschluss über Kontaktanlässe geben. Hierzu gehören Informationen über den beabsichtigten Kauf oder Verkauf eines Fahrzeugs, über Familienzuwachs oder das Überschreiten der Landesgrenze mit dem Kraftfahrzeug. Würden diese Kundendaten systematisch analysiert und die abgeleiteten Kontaktanlässe an den Vermittler weitergeleitet, ergäben sich zudem Cross- und Up-Selling-Potenziale (Kaiser et al. 2019). Angereichert mit Daten zu Aktivitäten und zum Verhalten in der Vergangenheit, könnten dem Vermittler Next-Best-Offer-Vorschläge unterbreitet werden, die sich nicht nur positiv auf den Absatz des Versicherers, sondern auch auf die Customer Experience auswirken und die Kundenbeziehung intensivieren könnten (EIOPA 2019, S. 21). Je nach Komplexität sowie Präferenz des Kunden könnten Produktvorschläge ebenso direkt an Kunden geleitet werden, bspw. per Push-Notification. Auch hier scheitert es in der Praxis mittlerweile weniger an den theoretischen technischen Fähigkeiten, sondern am Zugang zu den Daten und deren strukturierter Erfassung.
Zu guter Letzt ermöglicht Big Data deutlich verbesserte Markt-, Wettbewerbs- und Reputationsanalysen sowie die schnellere und effektivere Auswertung von Kampagnen und Kommunikationsaktivitäten. Ergänzt durch die Auswertung von Kontextdaten lassen sich zudem gesellschaftliche Trends erkennen und analysieren. Darauf aufbauend lässt sich nicht nur die Kundenansprache verbessern, auch Ableitungen für die Weiterentwicklung des eigenen Geschäftsmodells sind möglich.

6.2.4 Produktgestaltung

Durch immer mehr Daten, die Personen in ihrem täglichen Leben hinterlassen, entstehen immer detailliertere Personenprofile (siehe dazu Kap. 2): Mit Sensoren, Social Media, Internettracking sowie Mobilitäts- und Shoppingapps u.v.m. lassen sich Lebensereignisse, Vorlieben und Interessen, nachgefragte Produkte und Dienstleistungen sowie Aktivitäten und Pläne nachverfolgen. Diese Informationen können einzeln ausgewertet oder miteinander verknüpft werden und erlauben Aussagen auch zu Kundenbedürfnissen und -wünschen, (künftigem) Verhalten sowie konkreten Produktpräferenzen. Neben einer gezielteren Ansprache von (potenziellen) Kunden (siehe dazu auch Abschn. 6.2.3) haben Unternehmen sämtlicher Branchen, so auch Versicherungsunternehmen, dadurch die Chance, ihr Produktportfolio entsprechend anzupassen und ihren Kunden individualisierte Produkte anzubieten. Gleichzeitig verändert sich durch das Vorhandensein entsprechender Daten sowie deren Auswertungsmöglichkeiten der Produktentwicklungsprozess (EIOPA 2019, S. 18). So können bereits in der ersten Phase der Produktentwicklung, der Ideenfindung, Data-Analytics-Verfahren eingesetzt werden, um Kundenbedarfe zu identifizieren, die anschließend den Ausgangspunkt für die weitere Produktentwicklung darstellen. Darüber hinaus lassen sich deutlich granularere Zielgruppen definieren, und die Marktakzeptanz neuer Produkte kann deutlich schneller eruiert werden (EIOPA 2019, S. 18).
In Bezug auf Produkte und Dienstleistungen haben sich die Anforderungen der Kunden – nicht zuletzt aufgrund der Digitalisierung – deutlich verändert und sind vor allem merklich gestiegen. Mit Blick auf die Versicherungsbranche lassen sich im Wesentlichen drei Anforderungen identifizieren: Individualität, Flexibilität sowie Convenience. Alle drei Anforderungen sind zudem vor dem Hintergrund des Wunsches nach einer möglichst umfassenden Komplettlösung zu sehen.
Das Thema der Individualität steht schon lange im Fokus der Versicherungsproduktentwicklung. So werden in einigen Versicherungszweigen bereits sogenannte Baukastensysteme angeboten, bei denen der Kunde sich eine Police aus einzelnen Bauteilen nach seinen Wünschen zusammenstellen kann. Während dies in anderen Branchen schon lange Usus ist (bspw. können beim Autokauf der Motor, die Innenausstattung, die Farbe des Fahrzeugs etc. einzeln ausgewählt werden), ziehen die Versicherer allerdings nur langsam nach.9 Der Anklang beim Kunden ist jedoch hoch: bereits im Jahr 2013 zeigten knapp 60 % der Kunden grundsätzliches Interesse an derartigen Tarifen (Towers Watson 2013). Diese Zahl passt zu den Ergebnissen der Befragung, die in Kap. 5 vorgestellt wurde. So findet knapp die Hälfte der Befragten Telematik-Tarife in der Kfz-Versicherung „(sehr) gut und interessant für mich“, ein weiteres Drittel antwortete zumindest mit „teils/teils“. Die Umsetzung in der Versicherungswirtschaft offenbart jedoch ein häufig auftretendes Problem: durch immer neue Bausteine, singuläre Zusatzprodukte, vielfältige Erweiterungen und Modifikationen sieht sich der Kunde einem undurchsichtigen Tarif-Dschungel gegenüber. Die höhere Individualität und Flexibilität gehen somit leider häufig mit einer immer weiter steigenden Komplexität einher, die auch zu zahlreichen Doppelversicherungen führen kann. So wird das Fahrrad bspw. mit einer Fahrradversicherung umfassend abgesichert, gleichzeitig ist aber auch Schutz in der Hausratversicherung enthalten, und auch in der Reiseversicherung ist das Fahrrad über die Reisegepäckversicherung gedeckt. Darüber hinaus wurden die Versicherungen nicht selten bei unterschiedlichen Versicherern abgeschlossen– was Doppelversicherungen zusätzlich begünstigt. Viele Kunden haben hierfür (zumindest unterbewusst) ein Gefühl und kaum einer ist überzeugt, den richtigen Versicherungsschutz (nicht zu viel, nicht zu wenig) abgeschlossen zu haben.
Hinzu kommt, dass die Produktwelt der Versicherer nach Versicherungssparten und -zweigen gegliedert ist und diese nicht flexibel der Lebensrealität der Kunden entsprechen. Beides belastet die Kundenbeziehung und kann daher nicht als finale Lösung angesehen werden. Stattdessen bietet es sich an, die Produkte an den Lebenswelten oder bestimmten Lebensabschnitten der Kunden auszurichten. Hierfür müssten die Versicherer – statt wie bisher immer wieder kleine Anpassungen, Erweiterungen und Modifikationen vorzunehmen – ihr Produktangebot einmal (mehr oder weniger) auf den Kopf stellen. Im Ergebnis stünde eine Mobilitätsversicherung, die die Absicherung sämtlicher Mobilitätsaktivitäten umfasst und bei der der Kunde dynamisch auswählen könnte, ob für das Automobil eine Vollkaskoversicherung inkludiert sein soll, das Fahrrad einen Schutz benötigt, ein Selbstbeteiligungs-Ausschluss beim Carsharing benötigt wird oder auch eine Ticketversicherung für die nächste Reise mit der Deutschen Bahn enthalten ist. Wichtig wäre, vor allem um Doppelversicherungen und Intransparenz zu vermeiden, dass alles aus einer Hand käme bzw. zumindest sämtliche Daten und Informationen geteilt würden. Werden all diese (am Markt bestehenden) Produkte zusammengeführt und damit einhergehend sämtliche Mobilitätsdaten gebündelt, ließen sich sogenannte Usage Based Insurances realisieren. Dabei handelt es sich um Produkte, bei denen sich Risikobewertung und Deckungsumfang aus dem (laufenden) Tracking von Kundenverhalten und Umweltbedingungen ergeben (Eling und Lehmann 2018, S. 373). Ermöglicht würde dies durch die Kombination aus Telematikdaten mit anderen Daten, wie z. B. Daten öffentlicher Verkehrssysteme oder Smartphone-Daten (Fastenrath und Keller 2016, S. 19). Mittels automatisierter Datenanalyse ließe sich ein vollständiges Bild des Mobilitätsverhaltens des Kunden ableiten, ihm könnten situationsabhängige Optionen und Lösungen vorgeschlagen und innovative Mehrwertleistungen angeboten werden.
Convenient wäre es für den Kunden immer dann, wenn er keinem großen zeitlichen oder mentalen Aufwand ausgesetzt wird (Convenience als Minimum an Zeit und Mühe (Brown 1990, S. 53 ff.)). Sein Aufwand wird zunächst dadurch reduziert, dass er sich ohne detaillierte Prüfung darauf verlassen kann, dass das Angebot zu seiner individuellen Situation passt – entsprechend wichtig ist eine zuverlässige Datenauswertung und Übersetzung der Anforderungen in das entsprechende Produktangebot. Zudem muss die Integration des jeweiligen Bausteins schnell und komfortabel möglich sein (Hinweise per Push-Notification, Hinzu- und Abwählen per Drag&Drop, Abschluss ohne zusätzliche Unterlagen und Erfordernis von Unterschriften etc.) und sich überschneidungsfrei in die Gesamtabsicherung eingliedern. Die Unterlagen, die jedoch auch zukünftig gebraucht werden, können ebenso mithilfe von Data-Analytics und KI optimiert werden, um so für den individuellen Kunden besonders verständlich und ansprechend zu sein (Kaiser et al. 2019).
Um die Convenience zu steigern, könnte der Kunde bspw. bei Überschreiten der Landesgrenze per Push-Benachrichtigung (z. B. über das Navi) gefragt werden, ob er einen zusätzlichen Auslandsschutz abschließen möchte, er könnte beim Freischalten des Carsharing-Fahrzeugs Informationen zum Versicherungsschutz erhalten oder beim Ausleihen eines Rollers eine Unfallversicherung angeboten bekommen. Verifiziert würde der Abschluss ganz einfach per Smartphone oder durch Gesichtserkennung mittels der Fahrzeug-Dashcam. Ebenso wäre es möglich, bei einer Müdigkeitserkennung durch das Fahrzeug einen Gutschein für einen Kaffee an der nächsten Raststätte auszugeben oder den Fahrer für seinen CO2-sparenden Fahrstil mit einer E-Scooter-Freifahrt zu belohnen. All das stellt unmittelbare Mehrwerte für den Kunden dar, die sich durch den Zugang und die Auswertung der Mobilitätsdaten realisieren lassen. Welche Mehrwerte für den Kunden besonders attraktiv sind und ihn motivieren, seine Daten dem Versicherer zur Verfügung zu stellen, dürfte individuell unterschiedlich sein, ließe sich aber mittels smarter Datenanalyse herausfinden.
Es ergeben sich damit Tausende verschiedene Produkte, die jedoch aus einer Hand kommen sollten und für den Kunden bequem zum Zeitpunkt des Bedarfs integriert werden können. Damit ergäbe sich eine vollständig dynamische Produktgestaltung und -landschaft, die die individuelle und aktuelle Situation des Kunden erfasst und flexibel auf sie reagiert. Dass personalisierte, kurzfristig hinzuwählbare Versicherungsleistungen goutiert würden, bestätigen immerhin 63 % der Kunden (Auer und Dröge 2021, S. 73 f.).

6.3 Die Rolle der (Kfz-)Versicherung in der Lebenswelt Mobilität

Zunächst sei angemerkt: in den nächsten Jahren ist nicht davon auszugehen, dass sämtliche Angebote durch Ökosysteme bereitgestellt werden und alle Unternehmen zwangsläufig eine feste Rolle darin finden müssen. Zwar lässt sich schon heute eine deutliche Entwicklungstendenz in Richtung von Plattformen und Ökosystemen beobachten. Allerdings können sogenannte „Pipeline-Geschäftsmodelle“ von Unternehmen, die weiterhin ihre singulären Produkte und Dienstleistungen anbieten, auch künftig rentabel sein. Darüber hinaus entstehen jedoch erhebliche neue Marktchancen, wenn (heute schon vorhandene) Datenschätze genutzt werden. Da die Potenziale der Datenanalysen am besten ausgeschöpft werden können, wenn die Erhebung und Auswertung geteilt erfolgen, wird die Partizipation an Data-Sharing-Plattformen in zahlreichen Bereichen zum Schlüsselfaktor. Gleichzeitig ergeben sich neue Positionierungsmöglichkeiten, wenn entweder an einem bestehenden Ökosystem teilgenommen oder aber der Aufbau eines eigenen Ökosystems verfolgt wird. Diese Ökosysteme wiederum basieren ebenfalls auf der geteilten Datennutzung bzw. werden durch diese ermöglicht. Die konkrete Entscheidung für eine Positionierung in dieser neuen Marktumgebung muss jedes Unternehmen für sich selbst treffen; eine pauschale Handlungsempfehlung soll an dieser Stelle nicht vorgenommen werden und wird ohnehin auch nicht möglich sein.
Zu erwarten ist auch, dass es je Lebenswelt – wie in der Lebenswelt Mobilität – nicht nur ein einziges Ökosystem geben kann und wird. Dies ginge mit einer übermäßigen Marktmacht einher, die in der in Deutschland vorherrschenden Markt- und Gesellschaftsordnung nicht gewünscht sein dürfte. Außerdem wird der Wettbewerb das (hoffentlich) verhindern. Entsprechend ist anzunehmen, dass sich mehrere Ökosysteme unterschiedlicher Größe bilden werden, die verschiedene Schwerpunkte setzen und nebeneinander am Markt bestehen können. Daraus ergibt sich gleichermaßen, dass einzelne Akteure auch mehrere Rollen innehaben können. So könnte ein Unternehmen zum einen sein eigenes Ökosystem aufbauen, indem es als Orchestrator agiert, und gleichzeitig in einem anderen Ökosystem Zulieferer sein. Es ist daher davon auszugehen, dass nicht für jede Branche oder jedes Unternehmen eine grundsätzliche Entscheidung zu treffen ist, welche Rolle künftig übernommen werden soll. Darüber hinaus können die theoretisch abgrenzbaren Rollen in der Praxis ohnehin auch nicht immer trennscharf voneinander abgegrenzt werden.
Nichtsdestotrotz werden sich Unternehmen entscheiden müssen, wie sie sich grundsätzlich am Markt positionieren wollen, welche Rollen sie sich vorstellen können und welche Zielstellungen damit verfolgt werden. Hierbei sind einerseits die Anforderungen zu berücksichtigen, die an die verschiedenen Ökosystemrollen gestellt werden, und es ist andererseits zu eruieren, welche spezifischen Kompetenzen dafür benötigt werden und wie diese qua Geschäftsmodell und -ausrichtung erfüllt werden können.
Am schnellsten lässt sich diese Frage für den Plattformbetreiber beantworten. Ihm obliegt die Aufgabe, die technische Infrastruktur bereitzustellen sowie zu betreiben und die teilnehmenden Akteure auf der digitalen Plattform miteinander zu verknüpfen. In der Regel werden hierfür u. a. eine Cloud-Infrastruktur, Schnittstellen und Kompetenzen im Bereich der Datenerhebung sowie insbesondere der (automatisierten) Datenanalyse benötigt. Regelmäßig ist der Plattformbetreiber dafür zuständig, die generierten Daten systematisch zu erheben, zu strukturieren und in Echtzeit auszuwerten. Gewissermaßen ist der Plattformbetreiber damit ebenfalls ein bedeutender Zulieferer, da ihm die Big-Data-Analysen obliegen, er das Kundenverständnis vertieft und damit zu einer verbesserten Leistungszusammenstellung beiträgt (Bahrs et al. 2017, S. 9). Die betreffenden Aufgaben können von IT- und Softwareunternehmen am besten erfüllt werden. Sehr wohl können der Betrieb der Plattform und die Analyse der Daten auch durch verschiedene Unternehmen erfolgen. Da diese Rolle für Versicherungsunternehmen hingegen nicht naheliegend ist, wird an dieser Stelle keine weiterführende Betrachtung vorgenommen.
Sehr wohl infrage kommen für Versicherungsunternehmen allerdings grundsätzlich die Rollen als Zulieferer sowie als Orchestrator von (Teil-)Ökosystemen. Zulieferer müssen vor allem aus Sicht des Orchestrators attraktiv sein, der in der Regel entscheidet, welche Anbieter Eingang in das Ökosystem finden. Hierfür ist zunächst festzulegen, welche Produkte und Dienstleitungen integriert werden sollen – was wiederum primär davon abhängt, womit am besten die Bedürfnisse der Kunden befriedigt und deren Wünschen und Anforderungen entsprochen werden können. Gleichzeitig erhöhen auch die durch das Unternehmen beigesteuerten Daten die Attraktivität des Zulieferers erheblich. Nach der Auswahl der zu berücksichtigenden Einzelleistungen umfasst der nächste Schritt die Entscheidung, welche Unternehmen als deren Erbringer konkret in das Ökosystem aufgenommen werden. Zwar werden sich die individuellen Auswahlkriterien deutlich voneinander unterscheiden; die wichtigsten Voraussetzungen dürften jedoch stets zum einen die inhaltliche Passfähigkeit sein (wie gut ergänzt das jeweilige Geschäftsmodell die Gesamtlösung und welche individuellen Mehrwerte werden beigesteuert) und zum anderen in der technischen Kompatibilität begründet sein (wie flexibel lassen sich Systeme auf der Plattform integrieren). Die Digitalfähigkeit der Unternehmen ist für alle Beteiligten eines Ökosystems von herausragender Bedeutung; sie steht auch dann im Fokus, wenn „nur“ die Rolle des Zulieferers ausgefüllt werden soll. Als weitere typische Anforderungen an Zulieferer können gelten: ein „guter Name“, d. h. eine vertrauensvolle Marke (soweit das Ökosystem in Hinblick auf die Zulieferer keinen „White-Label-Ansatz“ verfolgt), ferner attraktive Kundenbeziehungen, die eingebracht werden können, und damit die Anreicherung des Ökosystems mit Kunden sowie deren weiterführenden Daten. Versicherungsunternehmen verfügen per se über zahlreiche Daten, die zwar noch nicht immer strukturiert vorliegen (siehe dazu Abschn. 6.1), die aber von anderen Akteuren in dieser Art bislang nicht erfasst wurden. Zwar werden sich die Anforderungen an das Produkt „Kfz-Versicherung“ aufgrund der in den vorherigen Kapiteln dargestellten Entwicklungen in den kommenden Jahren weiter verändern; in jedem Fall werden jedoch weiterhin Risiken bestehen, deren Deckung es bedarf. Entsprechend werden Versicherungsunternehmen in vielen Ökosystemen einen wichtigen Baustein darstellen. Aufgrund der Komplexität des Geschäftsmodells und der zusätzlichen regulatorischen Markteintrittsbarrieren ist auch davon auszugehen, dass Versicherungsunternehmen einen festen Platz in Ökosystemen rund um die Mobilität einnehmen und zumindest als Zulieferer in das Gesamtangebot integriert werden müssen.
Orchestratoren haben die Aufgabe, das Ökosystem zu steuern und zu gestalten. Bei ihnen läuft gewissermaßen alles zusammen: sie übernehmen die Koordination der Zulieferer und Partner und sie entscheiden über die Ausrichtung und Gestaltung des Ökosystems sowie dessen Gesamtangebot. Hierfür benötigen sie sämtliche verfügbare Informationen über das Verhalten sowie die Wünsche und Präferenzen der Kunden. Es ist daher naheliegend, dass auch die Daten(auswertungen) beim Orchestrator zusammenlaufen und diese (in Zusammenarbeit mit den Zulieferern) von ihm in Leistungen übersetzt werden. Gleichzeitig besetzt der Orchestrator die Kundenschnittstelle und ist somit das „Gesicht“ des Ökosystems. Aus den genannten Aufgaben lässt sich ableiten, woraus sich eine gute Ausgangslage für den Orchestrator ergibt: verfügt das Unternehmen über ein recht breites Angebot additiver B2C-Produkte und Lösungen (z. B. Google oder Amazon), ergibt sich bereits ein Grundgerüst für eine Rund-um-Lösung, das einfacher angereichert und schneller komplettiert werden kann. Dabei ist es zweitrangig, ob die Angebote von dem Unternehmen selbst bereitgestellt oder durch bereits bestehende Kooperationspartner eingebracht werden. Insbesondere wenn es sich um das eigene Leistungsportfolio handelt, ergibt sich daraus regelmäßig eine umfassende und stabile Kundenschnittstelle. Neben der Kundenschnittstelle allein sind die Art der Kundenbeziehung, die zur Verfügung stehenden Daten und das Image des Unternehmens von hoher Bedeutung.
Die Art der Kundenbeziehung kann idealtypisch diskret oder kontinuierlich ausgeprägt sein. Während diskrete Beziehungen durch unstetige Einzeltransaktionen geprägt sind, zeichnen sich kontinuierliche Beziehungen durch einen längerfristigen Zeithorizont aus, innerhalb dessen aufeinanderfolgende Transaktionen zu einer evolutorischen Entwicklung der Kundenbeziehung führen. In einer Marktumgebung, die durch einen starken Service-Gedanken geprägt ist, lässt sich beobachten, dass zahlreiche Akteure – deren Geschäftsmodell unter Umständen eigentlich eher auf diskrete Beziehungen ausgelegt ist – bemüht sind, kontinuierliche Beziehungen durchzusetzen. So erfordert bspw. das Ausleihen eines E-Scooters das Herunterladen einer App sowie die Anmeldung bei dem entsprechenden Anbieter, Unternehmen wie Sixt versuchen über Bonus-Programme, die Kunden an sich zu binden, und Automobilhersteller fokussieren schon seit Jahren in besonderem Maße den Aftermarket. Die Motive und Hintergründe liegen auf der Hand: es kommt zu einer größeren Anzahl an Transaktionen und Kontaktpunkten, die Beziehungsdauer wird tendenziell verlängert und die Beziehungsintensität steigt (siehe dazu ausführlich Jost 2021, S. 22 f.). Bei komplikationsarmem Verlauf der Kontaktpunkte ergibt sich zudem eine positive Korrelation mit der Kundenzufriedenheit sowie daraus folgend mit der Kundenloyalität und der (freiwilligen) Kundenbindung. Da loyale Kunden c. p. rentabler sind, ist nachvollziehbar, dass langfristige, kontinuierliche Beziehungen gegenüber diskreten Beziehungen – bei denen die Kunden immer wieder neu „gewonnen“ werden müssen – präferiert werden.
Zu guter Letzt spielt das Thema Vertrauen eine ausschlaggebende Rolle, das einen der wichtigsten Erfolgsfaktoren im Dienstleistungsgeschäft sowie damit auch für die Orchestratoren von service-orientierten Ökosystemen darstellt. Vertrauen entsteht durch die wiederkehrende Erfüllung von Erwartungen. Somit ergibt sich auch durch jeden Kontaktpunkt und jede Transaktion die Chance, Vertrauen aufzubauen resp. zu festigen. Neben dem Vertrauen in die Leistungsbereitschaft des Orchestrators ist auch das Vertrauen in die gewissenhafte Auswahl der weiteren Ökosystem-Partner sowie der sorgfältige Umgang mit den Kundendaten und den Anforderungen des Datenschutzes ausschlaggebend. Wenn alle diese Voraussetzungen und die Kundenerwartungen erfüllt sind, liegt auch eine gute Ausgangslage vor, um über die Kundenbeziehungen wiederum neue und weitergehende Kundendaten für das Ökosystem zu generieren.
Folgende Merkmale begünstigen also die Positionierung als Orchestrator bzw. erleichtern die Etablierung eines Ökosystems:
(1)
Breite des (eigenen oder durch Kooperationen entstehenden) Produktangebots;
 
(2)
Besitz der Kundenschnittstelle, ggf. mit starker Marke, sowie
 
(3)
eine vertrauensvolle Kundenbeziehung mit möglichst hoher Beziehungsintensität;
 
(4)
Datenausstattung und Digitalkompetenz.
 
Zu (1): Das Geschäftsmodell von Versicherungsunternehmen besteht in der kollektiven Übernahme von Risiken gegen Zahlung von Prämien. Die übernommenen Risiken können ganz unterschiedliche Lebenswelten betreffen, wodurch sich – gerade bei Versicherungsunternehmen, die alle Sparten abdecken – eine erhebliche Breite des Produktangebots ergibt. Gleichzeitig sind Versicherungsunternehmen seit einigen Jahren bemüht, ihr Leistungsangebot zu erweitern und Zusatzservices zu integrieren (speziell Assistance-Leistungen). Aufgrund des Verbots versicherungsfremder Geschäfte (§ 15 VAG) werden hierbei regelmäßig Kooperationen und Partnerschaften eingegangen. Im Bereich der Kfz-Versicherung betrifft dies bspw. Autovermietungen, die bei einem Unfall die dadurch eingeschränkte Mobilität des Kunden wiederherstellen sollen. Auch das Aufkommen von Start-ups hat in den vergangenen Jahren zu deutlich mehr Kooperationen in der Versicherungswirtschaft geführt. So haben in der letzten Zeit immer mehr Versicherer durch InsurTechs bereitgestellte, oft technologiebasierte Lösungen in die eigenen Prozesse und Angebote integriert.
Zu (2): Versicherungsunternehmen richten sich mit ihrem Produktangebot – anders als bspw. Automobilzulieferer – direkt an den Endkunden. Auch wenn regelmäßig Versicherungsvermittler zwischengeschaltet sind, kann das Versicherungsgeschäft als Grundlage einer direkten Kundenbeziehung eingestuft werden, da es im Namen und für Rechnung des Versicherers abgeschlossen wird. Auch ist hierbei die Marke für den Kunden präsent. Die Kundenschnittstelle ist also vorhanden. Allerdings ließ sich in den vergangenen Jahren eher ein Rückgang als ein Zugewinn der Kundenschnittstelle beobachten. Konkurrenz um die Kundenschnittelle kommt vor allem von plattformbasierten Geschäftsmodellen wie Check24, die neben der Übernahme des reinen Vertragsabschlusses auch weitere Serviceangebote integrieren und so auch selbst kontinuierliche Beziehungen aufbauen und pflegen (gerade im Bereich der Kfz-Versicherungen, die besonders häufig über Vergleichsplattformen abgeschlossen werden). Ebenso gehen durch die in Abschn. 4.​1 genannten Mobilitätstrends Kundenschnittstellen verloren. So führt die Verschiebung vom „Eigentum“ zur „geteilten Nutzung“ von Fahrzeugen dazu, dass die Schnittstelle des Versicherers zum Kunden nur noch zum Sharing-Anbieter, nicht mehr aber zu den Endkunden besteht. Die Nutzer der Angebote wissen dann in der Regel gar nicht mehr, welches Unternehmen für die Risikoabsicherung zuständig ist, und der Beziehungsaufbau für Versicherer wird deutlich erschwert. Darüber hinaus haben im Bereich der Kfz-Versicherung vielfach auch die Automobilhersteller die Kundenschnittstelle besetzt, indem die Kfz-Versicherung direkt beim Autokauf aus einer Hand angeboten wird. In Sachen Kundenschnittstelle haben die Versicherer daher zuletzt eher verloren als gewonnen und sich teilweise eher in Richtung Zulieferer wiedergefunden.
Zu (3): Die Kundenbeziehung bei Versicherern ist eindeutig als kontinuierlich und langfristig zu klassifizieren. Hintergründe sind der ausgeprägte Dienstleistungscharakter sowie die Versicherungsdauer, die zwar in der Schaden-/Unfallversicherung – so auch in der Kfz-Versicherung – formal immer nur einjährig ist, aber sich mangels Kündigung regelmäßig automatisch verlängert. Durch die charakteristischen Merkmale des Versicherungsprodukts und der Kundenbeziehung (Immaterialität, Abstraktheit, Informationsasymmetrien, Langfristigkeit etc.) ergibt sich ein per se hoher Vertrauensbedarf, der beziehungsstärkend wirkt und sich tendenziell positiv auf die Intensität der Kundenbeziehung auswirkt. Gleichzeitig liegen der Geschäftsbeziehung vertragliche Beziehungen zugrunde, die wiederum (unter Umständen auch unfreiwillige) Kundenbindungen bewirken. Um einer unfreiwilligen Kundenbindung entgegenzuwirken, die sich in der Versicherungswirtschaft in der Regel durch die Mindestvertragslaufzeiten von einem Jahr zeigt (s.o.), haben einige Unternehmen bereits Anpassungen vorgenommen. So sind Kfz-Versicherungen bei Anbietern wie Friday (Tochterunternehmen der Baloise) oder freeyou (Tochterunternehmen der DEVK) jederzeit monatlich kündbar.
Nachteilig wirkt für die Versicherungsbranche, dass sie allgemein unter einem weniger guten Image leidet, das sich insbesondere aus dem schlechten Image der Berufsgruppe der Versicherungsvermittler speist, jedoch auch durch das Produktimage bekräftigt wird. Das Markenimage der Unternehmen (ebenso wie das Image des individuellen Vermittlers) sind zwar oft neutral oder sogar gut, können den Gesamteindruck vieler Kunden jedoch nicht ausgleichen.
Zu (4): Versicherungsunternehmen sind regelmäßig mit einer Fülle an Daten ausgestattet, über die andere Ökosystempartner nicht verfügen. Die Digitalkompetenz der Versicherungsunternehmen lässt sich zu guter Letzt aber nicht pauschal bewerten. Der einstige (zutreffende) Vorwurf an die Branche, die Digitalisierung verschlafen zu haben, ist heute nicht mehr pauschal zutreffend. Viele Versicherer haben sich in den vergangenen Jahren gänzlich neu aufgestellt, kontinuierlich an ihrer Digitalkompetenz gearbeitet und bspw. ganze Data-Analytics-Abteilungen aufgebaut – und ihre Geschäftsmodelle in Richtung eines Ökosystem-Fits entwickelt.
Die vorangegangene Betrachtung zeigt, dass die (Kfz-)Versicherungswirtschaft einige Merkmale erfüllt, welche die Positionierung als Orchestrator begünstigen. Zu eruieren ist in diesem Sinne, wie das konkrete Leistungsangebot ausgestaltet werden soll bzw. welche Bereiche ein solches Ökosystem abdecken könnte. Eher unwahrscheinlich ist es bspw., dass sich ein einzelner Kfz-Versicherer ein komplettes Ökosystem rund um die Bereitstellung von Mobilität aufbaut, wie es bspw. Mercedes oder aber – auf regionaler Ebene – der Hamburger Verkehrsverbund (siehe das Beispiel oben) anstreben – dafür ist das Kerngeschäft „Versicherung“ zu weit entfernt, und die einzelnen Unternehmen sind zu klein. Viel eher scheint es also sinnvoll, passende Partner rund um die Versicherungsleistung zu integrieren und so ein Ökosystem rund um das Thema der „Mobilitätsabsicherung“ aufzubauen. Anbieter wie die Baloise oder die HUK-COBURG haben sich in den vergangenen Jahren bereits in diese Richtung entwickelt. So hat die Baloise schon heute ein umfassendes Portfolio an Ventures (eigene Start-ups oder junge Unternehmen, in die der Versicherer investiert hat), mit denen das Thema Mobilität ganzheitlich weitergedacht und -entwickelt werden soll. Dazu gehören u. a. die dänische Carsharing-Plattform, die private Autovermietung, shareable Leasing und Ridesharing ermöglicht, der Parkplatz-Finder Parcandi, aboDeinauto und ein One-Stop-Shop-Dienstleister für Flottenwartungsdienste (Bâloise 2022). Die HUK-COBURG vermittelt für ihre Kunden Servicearbeiten rund um das Auto, begleitet mit der HUK-COBURG Autowelt den Auto-An- und -Verkauf und bietet ein AutoAbo an, das neben der Versicherung auch die Zulassung, die Abführung der Kfz-Steuern sowie Wartung und Verschleißreparaturen übernimmt (HUK-COBURG 2022).
Darüber hinaus kommen auch Kooperationen zwischen Versicherungsunternehmen in Betracht, um mehr Marktanteile und damit eine größere Marktmacht zu bündeln. Eine spannende Entwicklung stellt in diesem Zusammenhang die Neugründung von onpier dar, das gemeinsam von den drei Versicherern HUK-COBURG, HDI und LVM ins Leben gerufen wurde und als branchenoffene B2B2C-Plattform für versicherungsfremde Services fungieren soll (onpier 2022). Zunächst steht der Auto-Ankauf im Fokus, weitere Services sollen jedoch folgen. Darüber hinaus ist mit onpier auch geplant, neben der „Mobilität“ weitere Lebenswelten zu besetzen. Damit könnte die Versicherungswirtschaft ihren Vorteil ausspielen, dass über die verschiedenen Versicherungssparten und -zweige hinweg mehrere Lebenswelten bespielt werden. Gelingt dieser Schritt, käme die Orchestrator-Rolle in einer Art Querschnitts-Ökosystem in Betracht, das Absicherungsthemen (und Lösungen darüber hinaus) für verschiedene Bereiche und Lebenswelten der Kunden abdeckt.

6.4 Fazit

Die Digitalisierung und die zunehmende Etablierung von Big Data verändern Geschäftsmodelle und Märkte. Sämtliche Branchen und Akteure müssen ihre Wertschöpfungsaktivitäten neu konfigurieren und ihre Angebote sowie die eigene Positionierung überdenken. Hierfür ist einerseits zu hinterfragen, (1) welche Bedürfnisse heutige Kunden haben und mit welchen konkreten Anforderungen diese verbunden sind, (2) wie Daten genutzt werden, um Kundenbedürfnisse zu analysieren und Produkte und Prozesse zu verbessern, (3) welcher Kooperationen es bedarf, um Kundenbedürfnisse umfassend befriedigen zu können und (4) ob eine Positionierung im Rahmen der sich entwickelnden Ökosysteme sinnvoll ist – und wenn ja, in welcher Rolle.
Wie auch alle anderen Akteure, sehen sich Versicherungsunternehmen diesen Fragen konfrontiert. Ihr Geschäftsmodell basiert seit jeher auf Daten – deren Strukturierung und umfassendere Erhebung und Analyse jedoch bei vielen Unternehmen erst seit einigen Jahren auf der Agenda steht.
Forciert durch die Technologisierung der Automobilbranche und der umfangreichen Daten, die in Fahrzeugen generiert werden (und auch für Versicherungsunternehmen neue Geschäftspotenziale eröffnen), hat sich die Kfz-Versicherung als Vorreiter der Assekuranz in Sachen Big Data und Data Analytics hervorgetan. Der hierbei wichtigste Treiber ist die Tarifierung, wofür sich der Kfz-Versicherer die genannten Fahrzeugdaten zu Nutze machen kann. Mittels u. a. GPS- und Bewegungsdaten des Autos, die mit Umgebungs- und Umweltdaten angereichert werden, können Aussagen über das spezifische Fahrverhalten des Nutzers abgeleitet werden. Dadurch können das individuelle Risiko – konkret in Bezug auf die Unfallwahrscheinlichkeit – ermittelt und die Prämie risikogerechter errechnet werden. Zahlreiche Versicherer bieten entsprechende Telematik-Tarife schon heute an – allerdings mit bis dato geringem Erfolg. So scheinen die für die Preisgabe der Daten erforderlichen Mehrwerte (die sich in der Regel nur in Form von Prämienreduzierungen niederschlagen), bisher nicht auszureichen bzw. werden durch Datenschutzbedenken, Misstrauen oder reiner Trägheit der Kunden überkompensiert.
Für Versicherer stellt sich daher die Frage, welche zusätzlichen Mehrwerte sie (aus den Daten) für ihre Kunden generieren können, welche Leistungsangebote hierfür zu integrieren sind und mit welchen Unternehmen kooperiert werden sollte. Auch für Versicherungsunternehmen stellt sich daher die Frage, ob und wie sie sich in den entstehenden Ökosystemen positionieren wollen. Die am Markt zu beobachtenden Eintrittsstrategien gehen dabei auseinander: ein Teil der Unternehmen scheint sich mit der Zulieferer-Rolle gut arrangieren zu können. Für sie sind u. a. die maximale Prozesseffizienz sowie eine optimale Anbindung an entsprechende Schnittstellen entscheidende Erfolgsfaktoren.
Bei einigen anderen Versicherungsunternehmen befindet sich auch die Rolle des Orchestrators – die im Kontext der Ökosysteme auf den ersten Blick attraktiver erscheint – im Blickfeld. Durch die sukzessive Ausweitung des eigenen Geschäftsmodells, die Anbindung verschiedener Partnerunternehmen und den Aufbau von Data-Analytics-Kompetenzen schaffen sie die Grundlage, auch eigene Ökosysteme zu etablieren. Auch wenn davon auszugehen ist, dass einzelne Versicherer für ein umfassendes Mobilitätsökosystem zu klein sind – durch den Zusammenschluss mehrerer Versicherer oder die Besetzung von Teilbereichen der Mobilität ist die Orchestrator-Rolle durchaus vorstellbar.
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Fußnoten
1
Versicherer nutzen bereits seit jeher sensible, personenbezogene Daten ihrer Kunden – besonders in der Lebens- und Krankenversicherung; die Kunden sind daran gewöhnt und haben kaum schlechte Erfahrungen damit gemacht.
 
2
Vorstellbar ist auch ein vollständig dynamisches Pricing, bei dem sich die Prämie in Echtzeit an das Fahrverhalten des Kunden anpasst (Jahnert et al. 2020, S. 35).
 
3
Gyrodaten enthalten Informationen zu Drehbewegungen.
 
4
Auch: Gaußmeter. Sensor zur Messung magnetischer Flussdichten. Diese unterstützen bspw. die Signale der Beschleunigungssensoren für eine exaktere Lagebestimmung.
 
5
Bei gleichzeitiger Sicherstellung des Datenschutzes.
 
6
Zwischen Unfall und abgeschlossener Reparatur vergeht Zeit und viele Policen sehen keine (kostenfreie) Bereitstellung eines Ersatzwagens bzw. anderer Mobilitätsangebote vor.
 
7
Den Grundstein hierfür legt der seit 2018 für Neuwagen verpflichtende eCall, der bei einem (schweren) Unfall über Mobilfunk und Satellitenortung die 112 benachrichtigt und sämtliche relevante Unfalldaten an die Rettungsleitstelle übermittelt.
 
8
Ein Beispiel ist das Start-up Nect, das eine Lösung zur vollautomatisierten Online-Identifizierung anbietet und bei Versicherern wie der Barmenia, der RheinLand und der R+V zum Einsatz kommt.
 
9
Veränderungen der Produktlandschaft erfordert umfassende IT-Umstellungen, die oft nur unter großen Anstrengungen und hohem Zeitbedarf realisierbar sind.
 
Literatur
Zurück zum Zitat Auer T, Dröge H (2021) MehralsnureinTarif. Wie man Telematik-Kunden mit Mehrwerten statt Prämien begeistert. Versicherungswirtschaft 4(2021):72–75 Auer T, Dröge H (2021) MehralsnureinTarif. Wie man Telematik-Kunden mit Mehrwerten statt Prämien begeistert. Versicherungswirtschaft 4(2021):72–75
Zurück zum Zitat Bocken R, Kellner R, Koppenfels P (2021) Jede Sekunde zählt. Versicherungswirtschaft 3(2021):50–53 Bocken R, Kellner R, Koppenfels P (2021) Jede Sekunde zählt. Versicherungswirtschaft 3(2021):50–53
Zurück zum Zitat Jost T (2021) Kundenbeziehungsmanagement in der Versicherungswirtschaft. Ein Perspektivwechsel vor dem Hintergrund der Digitalisierung und der Entwicklung von Ökosystemen. Dissertation, Universität Leipzig Jost T (2021) Kundenbeziehungsmanagement in der Versicherungswirtschaft. Ein Perspektivwechsel vor dem Hintergrund der Digitalisierung und der Entwicklung von Ökosystemen. Dissertation, Universität Leipzig
Zurück zum Zitat Krüger S (2019) Schöne, smarte Schadenwelt. Versicherungswirtschaft 5(2019):46 Krüger S (2019) Schöne, smarte Schadenwelt. Versicherungswirtschaft 5(2019):46
Zurück zum Zitat Müller-Peters H, Wagner F (2017) Geschäft oder Gewissen? Vom Auszug der Versicherung aus der Solidargemeinschaft. Goslar Institut, Goslar Müller-Peters H, Wagner F (2017) Geschäft oder Gewissen? Vom Auszug der Versicherung aus der Solidargemeinschaft. Goslar Institut, Goslar
Zurück zum Zitat Paik S, Schmid C, Uhlenberg JH (2017) Telematik in der Tarifierung von Kfz-Versicherungen – das Modell der Zukunft? Der Aktuar 02(2017):76–82 Paik S, Schmid C, Uhlenberg JH (2017) Telematik in der Tarifierung von Kfz-Versicherungen – das Modell der Zukunft? Der Aktuar 02(2017):76–82
Metadaten
Titel
Datenbasierte Geschäftsmodellansätze für Versicherungsunternehmen
verfasst von
Nadine Gatzert
Susanne Knorre
Horst Müller-Peters
Fred Wagner
Theresa Jost
Copyright-Jahr
2023
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-40511-3_6

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