Wenn man nach einem Ausdruck suchte, der die Natur des Berlusconismus heute am besten zusammenfassen könnte, so müsste man von „demokratischem Populismus“ sprechen. Der Ausdruck – historisch keineswegs ein Original – ist freilich in diesem Fall weniger allgemein zu verstehen, als er normalerweise verwendet wird. Beginnen wir mit dem Begriff „popolo/Volk“, der hier genau im Sinne von „popolo-degli-elettori/Wahlvolk“ zu verstehen ist: die Mehrheit der Wähler verkörpert automatisch „den souveränen demos“, der sogar die Verfassung nach seinem Willen gestalten kann. Jeder Wahl – charakterisiert in ihren kommunikativ-medialen Aspekten von typisch plebiszitären Zügen, mit einer Art Hyper-Personalisierung und dem Verfall der Politik zum Spektakel – wird ein virtuell verfassungsgebender Charakter zugeschrieben. Hinter Wahlversprechen wie „Veränderung“ und „Innovation“ wird der Verzicht auf das klassische Verständnis der Verfassung als Gleichgewicht und Gewaltenteilung im prinzipiellen Einverständnis der gegnerischen politischen Kräfte versteckt. „Demokratisch“ bleibt nur der Wahlmechanismus, dessen Ergebnis ein radikal angewandtes spoils system zu rechtfertigen scheint (bei dem der Gewinner die Verteilung der Posten bestimmt). Die andere Komponente dieses demokratischen Populismus ist die mediale Beziehung zwischen den Wählern und dem leader, dem charismatische Eigenschaften zugeschrieben werden. (Derzeit stammen die emphatischen Huldigungen an den leader – seien sie spontan, naiv oder gesteuert – noch weitgehend aus dem Bereich der italienischen Subkultur). Sicherlich schwindet die Zentralität der parlamentarischen Mediation, auch wenn natürlich die Rolle der parlamentarischen Vertretung nie offiziell negiert wird. Doch die Abgeordneten der Forza Italia spielen beispielsweise eher die Rolle von Vertretern des leaders (auf den sie sich im Wahlkampf ausdrücklich beziehen). Inzwischen hat Berlusconi die Forza Italia aufgelöst und eine neue politische Gruppierung geschaffen: „Popolo della Libertà“, die auch die „Alleanza Nazionale“ einschließt. Der neue Verband, obwohl er nur allzu deutlich das Konzept „Volk“ („popolo“) heraufbeschwört, hat nichts mit einem „Partito Popolare“ (Volkspartei) traditionellen Zuschnitts zu tun. Noch weniger hat er mit der alten Democrazia Cristiana zu tun, die heute von vielen als Modell neu bewertet wird. Dem „Popolo della Libertà“ fehlt nicht nur die Organisationsstruktur einer traditionellen Massenpartei, auch ihre soziale Basis (das Volk) ist grundlegend anders. Das Wahl-Volk ist im Verhältnis zu der Klassenunterteilung der traditionellen Gesellschaft und ihrer parteipolitischen Interessenprojektionen sozial entstrukturiert. Das Phänomen ist bekannt: die soziale Schichtung ist – ohne ihre grundlegend klassenspezifischen Eigenschaften zu verlieren – sehr komplex geworden, und zwar wegen der unterschiedlichen Einkommensquellen und Arbeitspositionen, wegen der Vielfalt an Lebens- und Konsumstilen, wegen der verbreiteten sozialen Selbstperzeption als freischwebendes Individuum. Es ist kein Zufall, dass Berlusconi nie von „sozialen Klassen“ spricht, sondern – ganz politically correct – von „erfolgreichen/weniger erfolgreichen Bürgern“, von „Privilegierten/ Unterprivilegierten“, die unteren Klassen bestehen aus denjenigen, die „zurück geblieben“ sind. Die soziale Homogenität entsteht nur in der (vorgeblichen) Unmittelbarkeit der Beziehung leader-Wähler. Bei genauerem Hinsehen sieht man jedoch, dass die gesamte direkte Beziehung zwischen leader und Wahlvolk nicht mehr als eine – vornehmlich mediale – Fiktion ist.
Es gibt auch in präsidentiellen Regierungssystemen (amerikanischer oder französischer Spielart) eine direkte Beziehung zwischen Wählern und leader, die unter Umständen populistische Züge annehmen kann, nur fehlt im Falle des Berlusconismus die eigentlich präsidentielle Legitimation. Berlusconi als charismatische Person möchte die Machtfülle und die institutionelle Rolle eines (amerikanischen oder französischen) Präsidenten besitzen. In diesem Sinn kann man von einem informellen oder schleichenden Präsidentialismus sprechen, der – im Namen seines Wählervolkes – die existente Verfassungsordnung bedroht. Um die italienische Anomalie zu erklären, sprach und spricht man gerne von einer Trennung, wenn nicht gar von einer Entfremdung, zwischen dem „politischen System“ („ineffizient“ und „inadäquat“) und der „Zivilgesellschaft“ (vermutlich „aktiv“ und „dynamisch“). Unter diesem Blickwinkel appellieren viele Linke an die italienische „Zivilgesellschaft“, sich Berlusconi entgegenzustellen. Das aber ist eine naive Fehleinschätzung. Der Berlusconismus ist ja selbst Ausdruck der italienischen „Zivilgesellschaft“. Oder, wenn man will, könnte man auch von einer Verirrung der Zivilgesellschaft in ihrem Inneren sprechen, auf die der Berlusconismus eine Antwort sucht. Man darf jedenfalls nicht vergessen, dass viele soziale Pathologien (endemische Komplizenschaft weiter sozialer Kreise mit Mafia und Camorra, ein ganz allgemeines Fehlen von Gemeinsinn und Staatssinn, asoziales Verhalten und latenter Rassismus) nicht von außen kommen, sondern aus dem Inneren der Zivilgesellschaft. Es hat also keinen Sinn, „die Zivilgesellschaft“ und das „politische System“ antagonistisch einander gegenüber zu stellen, als ob es sich um zwei Pole oder autonome Größen handele. Ein Großteil der Mitglieder der linken politischen Kultur fällt diesem Missverständnis anheim. Ihnen kann man vorhalten, was sie seit Jahren wiederholen, dass die italienische „Zivilgesellschaft“ eine „menschennahe“ Politik fordere, politische leader erwarte, die keine „Spielbälle von Palastintrigen“ sind, sondern zu großen Entscheidungen fähig, die das politische System vereinfachen und den innerparteilichen Streitigkeiten ein Ende bereiten. Und Berlusconi verkündet heute, genau diese Kriterien zu erfüllen. Seine Antworten mögen die falschen sein, aber man kommt nicht gegen sie an, indem man eine idealisierte „Zivilgesellschaft“ imaginiert, die es gar nicht gibt. Wenn man eine passendere und realistischere Vorstellung der Zivilgesellschaft hat, verstanden als Zusammenspiel von sozialen Vereinigungen, Gruppen und Bewegungen, die Ressourcen wie Vertrauen, Kommunikations- und Teilnahmefähigkeit aktivieren, und gleichzeitig eine oft untereinander zerstrittene Interessen- und Rechtspluralität vertreten, die Autonomie vom Staat verlangen, aber zusammen seinen Schutz brauchen – dann wird das Bild vielschichtiger und nicht mehr so einfach zu handhaben. Niemand kann das Monopol der Interpretation der Anliegen der „Zivilgesellschaft“ für sich einklagen, denn die Anliegen der Zivilgesellschaft sind so heterogen wie ihre Zusammensetzung.