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2008 | Buch

Der Bürger in der Streitbaren Demokratie

Über die normativen Grundlagen Politischer Bildung

verfasst von: Armin Scherb

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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Über dieses Buch

Der thematische Zusammenhang der vorliegenden Schrift stellt sich über die - gebnisse meiner verfassungshermeneutischen Untersuchung zur Entstehung der Streitbaren Demokratie in der Verfassungsgebung der Jahre 1945-1949 her (D- sertation von 1987). Von besonderer Relevanz sind dabei die Diskussion über das Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit in einer pluralistischen Gese- schaft, für deren Verfassung ein hoher Legitimationsdruck entsteht, wenn sie - stimmte Teile für unabänderbar erklärt. Die Erörterung dieses Legitimationsp- blems aus verfassungsgenetischer und aus verfassungsrechtlicher Sicht bildet die Grundlage für die Konkretisierung eines Beurteilungsmaßstabs, der eine normative Richtschnur und ein Instrument zur kritischen Beurteilung sowohl der politischen Praxis als auch der Praxis politischer Bildung darstellt. In der Politikwissenschaft, die die politische Praxis nicht nur beschreibend und analysierend begleitet, sondern als normative Wissenschaft sich um die Res ger- dae stets auch einordnend und beurteilend zu kümmern hat, dient dieser Maßstab zur Evaluation der politischen Praxis. Indem die Politikwissenschaft im Lichte des aus der verfassungshermeneutischen Bedeutung der Streitbaren Demokratie ableitbaren Verhältnisses von Demokratieschutz und Freiheit die Reichweiten und Grenzen politischer Toleranz in einer freiheitlich-pluralistischen Demokratie näher bestimmt, kann sie der Praxis überdies Hinweise auf einen verfassungskonformen Umgang mit extremistischen Bestrebungen geben.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
1.. Die Bedeutung der Streitbaren Demokratie als Maßstab
Auszug
Für eine Verfassungsinterpretation sind nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts neben dem reinen Verfassungstext v.a. die hinter den kodifizierten Regelungen stehenden Argumentationen und Kontroversen von Bedeutung.2 Die in den Verhandlungen der Verfassungsgebenden Versammlungen in den Ländern und später im Parlamentarischen Rat geführten Diskussionen stellen deshalb ein wichtiges Interpretationskriterium für die Beurteilung der praktischen Umsetzung des Verfassungsprinzips der Streitbaren Demokratie dar.
2.. Legitimationsprobleme der Streitbaren Demokratie
Auszug
Wie den verfassungshistorischen Überlegungen zu entnehmen ist, stehen Freiheit und Streitbarkeit in einem Spannungsverhältnis, das den Geltungsanspruch der Streitbaren Demokratie unter einen starken Legitimations- und Begründungsdruck setzt. Während sich prinzipielle Geltungszweifel vor allem auf die Frage nach der Legitimation unabänderbarer Verfassungsteile beziehen, richten sich anwendungsbezogene Geltungszweifel auf die Absicherung dieser unabänderbaren Verfassungsteile durch die Bestimmungen der Abwehrbereitschaft und deren praktisch-politische Umsetzung.
3.. Streitbare Demokratie und politische Praxis
Auszug
Nach einer kontrovers geführten Diskussion hatte sich im Herbst 2000 bei den antragsberechtigten Staatsorganen die Auffassung durchgesetzt, dass die Voraussetzungen für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit der NPD gegeben sind. Die Bundesregierung hat deshalb Ende Januar 2001 einen Verbotsantrag beim Bundesverfassungsgericht gestellt. Bundestag und Bundesrat haben sich diesem Antrag angeschlossen. Nach geltendem Recht kann eine Partei auf Antrag von Bundestag, Bundesrat und/oder Bundesregierung vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt werden. Die Feststellungsentscheidung des Gerichts führt automatisch zum Verbot. Dabei stellt sich zunächst die Frage, wann eine Partei als verfassungswidrig gelten kann. Artikel 21 gibt hier die Auskunft, dass eine Partei verfassungsfeindliche Ziele („darauf ausgehen“) verfolgen muss. Solche Ziele liegen vor, wenn sich eine Partei gegen die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ richtet. Im Verbots-Urteil gegen die Sozialistische Reichspartei von 1952 hat das Bundesverfassungsgericht diese Ordnung wie folgt definiert:
„Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.“66
4.. Das Bürgerleitbild der Streitbaren Demokratie
Auszug
Wenn die Streitbare Demokratie als normatives Konzept bei der Verteilung der Demokratieschutzaufgaben in erster Linie den Bürger berücksichtigen soll, dann setzt das Konzept bereits den demokratiekompetenten Bürger voraus. Insofern muss politische Bildung eintauchen in den in dem sogenannten Böckenförde-Theorem andeuteten Bedingungszirkel, wonach die freiheitliche Demokratie die Grundlagen ihrer eigenen Existenz von Staats wegen eigentlich gar nicht besorgen kann, aber zu ihrem Überleben darauf angewiesen ist, dass die Staatsbürger — zumindest zu einem gewissen Grad — Demokraten sind.
5.. Die Streitbare Demokratie als Réligion civile?
Auszug
Die Streitbare Demokratie erhebt einen Selbstbehauptungsanspruch, der auf der Ebene der Länderverfassungen vielfach in Erziehungszielen als Aufforderung zur Entwicklung habitueller Demokratiekompetenz formuliert wurde. 124 Habituelle Demokratiekompetenz umschreibt dabei die Erwartung an die Einstellungen und persönlichen Werthaltungen der Bürger sowie an ein diesen Werthaltungen entsprechendes äußeres Verhalten. („Bürger sollen Demokraten sein und Demokratie leben!“) Für die Politische Bildung sind dabei zwei Fragerichtungen zu berücksichtigen, die bereits Rousseau in seinen Vorstellungen von einer Réligion civile umrissen hat. Die erste Fragerichtung erscheint in der folgenden Formulierung: „Die Dogmen der bürgerlichen Religion müssen einfach, gering an Zahl und klar ausgedrückt sein, ohne Erklärungen und ohne Erläuterungen.“ 125 Hierbei geht es erstens darum, den Wertbezug Politischer Bildung, der eingangs als Spannungsverhältnis von Freiheit und Bindung begründet wurde, zu substanziieren. Zu beantworten ist dabei die Frage, welche ethischen Minima des Zusammenlebens in einer pluralistischen Gesellschaft mit dem Spannungsverhältnis von Freiheit und Bindung in Einklang gebracht werden können. Die zweite Richtung erscheint in der Formulierung:
„Es gibt daher ein rein bürgerliches Glaubensbekenntnis, dessen Artikel festzusetzen dem Souverän zukommt, nicht regelrecht als Dogmen einer Religion, sondern als Gesinnung des Miteinander, ohne die es unmöglich ist ein guter Bürger und ein treuer Untertan zu sein. Ohne jemanden dazu verpflichten zu können, sie zu glauben, kann er jeden aus dem Staat verbannen, der sie nicht glaubt; er kann ihn nicht als Gottlosen verbannen, sondern als einen, der sich dem Miteinander widersetzt und unfähig ist, die Gesetze und die Gerechtigkeit ernstlich zu lieben.“.
6.. Streitbare Demokratie und Demokratieerziehung
Auszug
Verstand sich Politikwissenschaft nach 1945 normativ als Demokratiewissenschaft, so gilt dieser normative Bezug für die Politische Bildung umso mehr. Deshalb ist Demokratie-Lernen eine zentrale Aufgabe der Politischen Bildung. Um den Verdacht zu vermeiden, dass es sich dabei um eine technologische Werteübertragung, mithin um einen Prozess des Hinerziehens auf etwas Vorgegebenes handelt, ist die Politische Bildung bei der Formulierung von Kompetenzmodellen auf die Förderung von reflexiver Urteilskompetenz als Konzept der Selbsterziehung ausgewichen. 216 Pate für diese Art und Weise ein normatives Konzept des Demokratie- Lernens zu konstruieren,217 steht vor allem der amerikanische Pragmatismus. Im Rekurs auf die Erziehungsphilosophie von John Dewey hatten die Amerikaner nach dem zweiten Weltkrieg versucht, mit ihrer Re-education-Politik, „Demokratie als Lebensform“ zu etablieren, um Deutschland auf den demokratischen Weg zurück zu bringen. In den 1950er Jahren hat Friedrich Oetinger Deweys Vorstellungen von der gelebten Demokratie aufgegriffen und für sein eigenes Konzept der Partnerschaftserziehung fruchtbar gemacht. Eine eher verdeckte Rezeption hat in der Folgezeit den Pragmatismus aus dem Augenmerk entfernt. Erst Walter Gagels Hinweis, dass der Pragmatismus in verschiedenen konzeptionellen Entwürfen von Schmiederer bis Sutor als verborgene Bezugstheorie wirksam war218, hat dazu geführt, dass die zuerst in den Erziehungswissenschaften initiierte Wiederbelebung des Pragmatismus auch in der Politischen Bildung angekommen ist. Dabei hat vor allem mit Jürgen Oelkers Neuedition von John Deweys „Democray and Education“, eine Welle der Dewey-Rezeption begonnen, in deren Kontext auch in der Politischen Bildung wieder intensiv die Frage nach der Bedeutung von erfahrener Demokratie für die Entwicklung demokratischer Einstellungen und Verhaltensweisen thematisiert wird.
7.. Streitbare Demokratie und didaktische Praxis
Auszug
Da der freiheitliche Staat auf sozial-moralischen Ressourcen beruht, die er nicht von Staats wegen generieren kann (Böckenförde-Theorem)303, ist jeder Versuch, vorab feststehende Inhalte im Sinne einer Wertevermittlung zu übertragen, auszuschließen. Andererseits ist eine lediglich auf individuelle Selbstbestimmung begründete Demokratieerziehung ständig dem Risiko beliebiger Ergebnisse ausgesetzt. Eine angemessene Begegnung mit der Bipolarität einer Vorgabe von Inhalten einerseits und subjektivistischer Selbstbestimmung andererseits bietet das Konzept der Förderung reflexiver Urteilskompetenz. Dieses Konzept berücksichtigt einerseits die subjektiv-biografischen Eingangsvoraussetzungen bei den Lernenden, setzt aber andererseits auch auf die objektivierende Wirkung einer kategorialen Selbst-Kontrolle durch rationale politische Urteilsbildung. Demokratieerziehung kann demnach nur im Spannungsverhältnis von Selbstbestimmung und normativer Bindung konstituiert werden.
Backmatter
Metadaten
Titel
Der Bürger in der Streitbaren Demokratie
verfasst von
Armin Scherb
Copyright-Jahr
2008
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-531-91133-5
Print ISBN
978-3-531-16074-0
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-531-91133-5