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2018 | Buch

Der Genozid an den ArmenierInnen

Beiträge zur wissenschaftlichen Aufarbeitung eines historischen Verbrechens gegen die Menschlichkeit

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Über dieses Buch

Dieser inter- und multidisziplinäre Band bietet einen Querschnitt durch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem über hundert Jahre zurückliegenden Armenier-Genozid, der bis heute von den türkischen Nachfolgeregierungen offiziell geleugnet wird. Beiträge aus unterschiedlichen Disziplinen weisen auf spezifische Probleme hin, die mit der Aufarbeitung dieses Genozids zusammenhängen: Beginnend mit einem (rechts-)historischen Teil über das Verbrechen sowie dessen zeitgenössische Bewertung, hin zu den direkten und indirekten psychologischen Folgen des Verbrechens bis heute, sowie moralphilosophische und rechtliche Fragestellungen in Bezug auf die Leugnung des Genozids.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
Kriegsverbrechen – Verbrechen gegen die Menschlichkeit – Völkermord? Zeitgenössische Völkerrechtler und die Deportation der christlichen Minderheiten in Anatolien während des Ersten Weltkrieges
Zusammenfassung
Beim Thema Schuld und Verantwortung lassen sich Emotionen nicht immer einfach zurückstellen. Das gilt auch für Wissenschaftler wie die Völkerrechtler des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die sich während des Ersten Weltkrieges mit den Makroverbrechen an den christlichen Minderheiten in Anatolien während des Ersten Weltkrieges konfrontiert sahen. Der politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Kontext, in welchem sie aktiv waren, prägte ihre Haltung und ihre wissenschaftlichen Thesen entscheidend mit. Die „language of rights“, die Opfern eine Stimme geben sollte (Mahmood Mamdani), war daher schon in dieser Zeit auch eine „language of power“. Entsprechend waren die Diskussionen über die damals noch wesentlich weniger präzis gefassten Begriffe und Tatbestände der Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord Teil der damals globalen Auseinandersetzung um die Gestaltung der Zukunft der Ahndung von internationalen Makroverbrechen im Krieg. Die Tatsache, dass der Vorschlag von Gustave Moynier, 1864–1910 Präsident des IKRK, von 1872 für die Schaffung eines Internationalen Strafgerichtshofes keine Umsetzung gefunden hatte, spielte dabei eine nicht unwesentliche Rolle, wie der vorliegende, historisch ausgerichtete Beitrag zu zeigen versucht.
Daniel Marc Segesser
Assimilating Armenians, 1915–1917
Abstract
The Ottoman government targeted the empire’s Armenian communities with a series of policies aimed at destroying the population. In the process perpetrators annihilated about eighty percent of the victims. For a variety of reasons, some Armenians were able to stay behind as the authorities deemed their qualifications indispensable. Others, mostly Protestants and Catholics, remained behind for political reasons. Yet, almost all of those who escaped deportation had to become at least officially Muslim. Still, the authorities continued treating these converts as Armenians showing that their motives were not religious but political. Once deportations had started, Ottoman authorities had to cope with a large number of abandoned or abducted Armenian children. The assistance rendered was, however, insignificant. Few Armenian children received any form of government support. In general, Ottoman government policies became reactive following the initial deportation orders. Detailed prior planning had been absent and hastily adopted improvised measures became contentious issues. The ruling Committee of Union and Progress was by no means united about policies with a more moderate faction offering determined resistance. While in other areas almost all deportees were massacred, a large number of Armenian deportees was able to survive within the region under the control of the Ottoman Fourth Army.
Hilmar Kaiser
Diskrepanzen, Erfolge und Desiderate in der wissenschaftlichen, juristischen und gesellschaftlichen Aufarbeitung von Genozid-‚Altfällen‘: Eine komparative Analyse
Zusammenfassung
In meinem Beitrag beziehe ich mich auf Völker die im 19. und 20. Jahrhundert vor der Verabschiedung der UN-Genozidkonvention begangen wurden und die hier versuchsweise typologisiert werden. Der Schwerpunkt liegt auf dem Gean den ArmenierInnen des Osmanischen Reiches. Angesichts der bei diesen Altfällen bisher weitgefehlenden juristischen Bewertung durch nationale oder internationale Gerichtshöfe/Tribunale werden legislative Körperschaften – in der Regel Parlamente – und wissenschaftliche Forschung zu ersatzweisen Austragungsorten für Anerkennung bzw. Verurteilung. Die Errungenschaften in diesen Bereichen sind mit Hinblick auf die Fallbeispiele bemerkenswert ungleich. Bisher erzielten der sowjetische/ukraiHolodomor sowie der Genozid an den osmanischen ArmenierInnen die größte Aufmerksamkeit bei nationalen und internationalen gesetzgebenden Körperschaften. In einer kurzen Übersicht über den gegenwärtigen Forschungsstand weise ich auf einige methodische Mängel hin, namentlich auf willkürliche Definitionen von Genozid und seiner Synonyme. Als minder erforschte Fragestellungen werden der bisher fehlende Vergleich des genozidalen Modus Operandi im Fall der ArmenierInnen sowie der Herero und Nama benannt, ferner die wechselseitigen Bevölkerungspolitiken im Osmanischen und Russischen Reich, Genderaspekte im osmanischen Genozid an ChristInnen sowie die Frage der deutschen Mitschuld am Genozid an den ArmenierInnen.
Tessa Hofmann
Modern Germany and the Annihilation of the Ottoman Armenians: A Note on the Political Avowal of Shame and Guilt
Abstract
Many German historians are surprised to see how much attention the long neglected Armenian genocide has received in the news since 2015. A plethora of articles and public events was accompanied by attempts of no less than three of four constitutional bodies—the German government, the parliament, and the president—to come to grips with the question of how to understand the German role in the killing of far more than a million Armenians. Whereas Germany’s President Gauck spoke of ‘genocide’ in April 2015 and said that Germany must acknowledge its own guilt, the government routinely avoids this word and prefers to characterise Germany’s role as shameful, but not necessarily wrongful. I use this rather complex texture of official positions as an opportunity to raise some questions concerning official avowals of collective shame and guilt by political bodies.
Michael Schefczyk
Die Schuld der Väter (er)tragen wir (nicht): Das unheimliche Erbe und seine Folgen
Zusammenfassung
In der Folge der vom Nationalsozialismus begangenen Verbrechen vor und während des Zweiten Weltkrieges und insbesondere des Holocaust zeigten sich die Spuren der Vergangenheit nicht nur bei den Nachkommen der Verfolgten und Überlebenden, sondern nach und nach immer deutlicher bei den Kindern und Enkeln und inzwischen auch Großenkeln der TäterInnen und Mitläufer. Wichtige Informationen hierzu entstammen zum einen den veröffentlichten psychotherapeutischen Fallgeschichten, die das Leiden, die Irritationen, lange Zeit abgewehrten oder indirekt spürbaren Schuld- und Schamgefühle dieser Nachkommen dokumentieren. Zum andern wurden zahlreiche autobiografische Texte und Familienrecherchen veröffentlicht, in welchen sich die Nachkommen der Täter/innen mit der Vergangenheit und Schuld jener auseinandersetzen. Ausgehend von diesen Erkenntnissen reflektiert die Autorin, welche Bedeutung es für die heute lebenden Nachkommen in der türkischen Gesellschaft hat und haben kann, dass der vor hundert Jahren erfolgte Völkermord an den ArmenierInnen bis heute nicht offen diskutiert und verarbeitet werden darf, sondern noch immer einem Tabu unterliegt. Die gewaltsame Unterdrückung dieser Auseinandersetzung wird dabei als Fortsetzung der Geschichte im Dienste der Schuldabwehr verstanden. Deren Folge ist jedoch nicht das gewünschte Verschwinden der Erinnerung, sondern die Prolongierung von Schuld und Scham.
Angela Moré
Menschenwürdeverletzung der Nachfahren durch Genozidleugnung
Zusammenfassung
Beim eingeschränkten Fokus auf (historische) Wahrheit und dem Hervorbringen von „Beweisen“ im Kontext der türkischen Leugnung des Genozids an den ArmenierInnen wurde einem wesentlichen ethischen Problem bisher keine sonderliche Beachtung geschenkt: Dass innerhalb dieser sozial situierten, kooperativen Praxis der Etablierung von Wissen über die historischen Tatsachen – also darüber, was passiert ist und wie diese Geschehnisse zu interpretieren sind – Ungerechtigkeiten im Hinblick darauf entstehen können, wen man als glaubwürdige epistemische Akteure anerkennt. Gemäss dieser Überlegung soll dieser Beitrag zeigen, inwiefern Nachfahren von Genozidopfern durch institutionalisierte Genozidleugnung einer erneuten Dehumanisierung zum Opfer fallen, nämlich der epistemischen Ungerechtigkeit. Diese besagt, dass den Nachfahren der Opfergruppe die Glaubwürdigkeit und damit epistemische Autorität auf der Grundlage ihrer sozialen Zugehörigkeit abgesprochen wird. In diesem Sinne kann die Genozidleugnung als eine fortgesetzte Unterdrückung und Delegitimierung der Opfergruppe, respektive Herabwürdigung ihrer Mitglieder verstanden werden, diesmal im Gewand einer Aberkennung ihrer essentiellen menschlichen Fähigkeit, Wissen zu generieren und weiterzugeben, sowie ihre Unrechtserfahrungen sich und andern intelligibel zu machen.
Melanie Altanian
Über den Bruch des Konsenses: Der Fall Perinçek, der armenische Völkermord und internationales Strafrecht
Zusammenfassung
Das hundertste Gedenkjahr des Völkermords an den ArmenierInnen ist auch das Jahr, in welchem das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 17. Dezember 2013 zum Fall Doğu Perinçek v. Switzerland durch die zweite Instanz, die Große Kammer des EGMR überprüft wurde. Wir werden uns hier auf eines der Argumente des EGMR konzentrieren, welches dem Schweizer Entscheid widerspricht, nämlich das problematische Argument des Fehlens eines „allgemeinen Konsenses“ im Hinblick auf den Völkermord an den Armeniern von 1915. Ziel dieses Beitrags ist es, Licht auf die Paradoxien und Konsequenzen eines solchen Arguments zu werfen – ein Argument, das bemerkenswerter Weise eine historische Sichtweise und insbesondere einen Blick auf die Geschichte des internationalen Strafrechts erfordert.
Sévane Garibian
Metadaten
Titel
Der Genozid an den ArmenierInnen
herausgegeben von
Mag. Melanie Altanian
Copyright-Jahr
2018
Electronic ISBN
978-3-658-20453-2
Print ISBN
978-3-658-20452-5
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20453-2

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