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Open Access 2023 | OriginalPaper | Buchkapitel

Die sozial-ökologische Transformation wird auch ein Demokratisierungsprozess sein oder scheitern. Eine Einleitung

verfasst von : Jupp Legrand, Benedikt Linden, Hans-Jürgen Arlt

Erschienen in: Transformation und Emanzipation

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Die Frage nach der Zukunft der gesellschaftlichen Arbeit stellt sich achtsamen Beobachter:innen in der multiplen Krisenkonstellation am Beginn des 21. Jahrhunderts so dringlich und grundsätzlich, dass es verwundert, wie groß die öffentliche Bereitschaft zu sein scheint, sie auf der Agenda nachrangig einzuordnen und sich mit Hoffnungen auf Künstliche Intelligenz, algorithmische Antworten und Ausflüge ins Universum zu beruhigen. Ins Auge zu fassen gilt es das „magische Dreieck“ aus Arbeit, Zivilgesellschaft und Politik, innerhalb dessen gesellschaftliche Evolution ihren Weg findet. Die Arbeit und die sozialen sowie ökonomischen Formen, in welchen sie organisiert wird, die Zivilgesellschaft und die Art und Weise, in der sie das Persönliche, das Familiäre und das Allgemeine zueinander in Beziehung setzt, die Politik und ihre Fähigkeit, über kollektive Verbindlichkeiten zu entscheiden – dass diese Drei über alle Divergenzen und Kontroversen hinaus eine demokratisch-emanzipatorische Grundrichtung eint, darauf käme es an.
Kein irdisches Lebewesen – nicht einmal die aus der Bibel bekannte Lilie auf dem Feld – kann einfach so vor sich hinleben. Je nach körperlicher Konstitution und den Umständen seiner Umwelt muss es mehr oder weniger dafür tun, am Leben zu bleiben; kurz, sich versorgen. Ist es dazu aus eigener Kraft nicht in der Lage, ist es darauf angewiesen, von anderen versorgt zu werden. Versorgung lässt sich als die elementare Funktion der Arbeit bestimmen. Von einem solchen Grundverständnis hat sich die moderne Arbeitsdebatte jedoch weit entfernt, wenngleich feministische Beiträge (vgl. Prätorius 2015) immer wieder daran erinnern.
Die Notwendigkeit, sich zu versorgen oder versorgt zu werden, beruht auf einem Bedarf, mindestens auf Grundbedürfnissen. Um den Bedarf zu befriedigen, wird erstens eine Leistung erbracht, zweitens wird das Erzeugnis dieser Leistung konsumiert, es wird gebraucht und dabei verbraucht. Nach dem Verbrauch entsteht neuer Bedarf, wieder folgen Leistung und Konsum. Sprachlich hat sich durchgesetzt, die Leistung und nur die Leistung als Arbeit zu bezeichnen. Aber wichtige ökonomische wie auch soziale Zusammenhänge treten klarer hervor, wenn man sich den elementaren Dreiklang aus Bedarf, Leistung und Gebrauch vor Augen hält, um den Sinn der Arbeit zu begreifen.
Zum Beispiel bekommt der einfache Gedanke Plausibilität, dass die Arbeitstätigkeit ruhen lassen kann, wer sich versorgt fühlt, vorübergehend nichts braucht – eine Gedanke, den die moderne Arbeitsgesellschaft nicht aufkommen lassen möchte, obwohl ihre Produktivkräfte ihn nahelegen. Und man sieht, wie sich die Verlockung aufdrängt, die Leistungen anderen aufzubürden, während man selbst sich auf den Konsum konzentriert oder Tätigkeiten ausübt, die nicht dem Unterhalt, sondern beispielsweise der Unterhaltung dienen. Unter der Maxime „ora et labora“ ist es dem europäischen Adel ein ganzes Mittelalter lang gelungen, eine solche „Arbeitsteilung“ als Gottes Wille im herrschenden Weltbild zu verankern. Die aufbrechende Moderne hat Arbeitsleistungen teilweise mit Gewalt erzwungen, sie hat sich der Sklaverei bedient. Naheliegend sind schließlich auch die Fragen, wer darüber entscheidet, welcher Bedarf Arbeitsleistungen auslöst, wie Arbeitsleistungen organisiert werden und wie der Zugriff auf Produkte und Dienste geregelt ist.

Wirtschaft erhebt sich zum Befehlshaber der Arbeit

Ihre überragende Bedeutung für die Moderne hat die Arbeit auf Umwegen erlangt, nämlich über Geldwirtschaft und Individualisierung. Arbeit zu bewirtschaften, Vorräte anzulegen, mit weniger Leistung mehr Gebrauchsmöglichkeiten zu schaffen, Arbeit zu rationalisieren, also die Produktivität zu steigern, ist eine alte Idee, die in der Landwirtschaft praktisch wurde. Den großen Sprung von einer optimierenden, aber untergeordneten Rolle zum Befehlshaber der Arbeit schafft die Wirtschaft erst im 19. Jahrhundert. In der Folge gilt fast alle Aufmerksamkeit den bezahlten Arbeitsleistungen, während unbezahlte ein Schattendasein führen. Die Ökonomisierung der Arbeit wird vom Kapitalismus auf die Spitze getrieben, weil er überhaupt nur noch solche Arbeitsleistungen anzupacken bereit ist, welche auf die Fragen, was kostet es und was bringt es, die Antworten „relativ wenig“ und „wahrscheinlich relativ viel“ parat halten. Bedarf, der nicht hinreichend zahlungsfähig ist, interessiert Kapitalist:innen nicht, der Staat oder wohltätige Organisationen sind hier aufgerufen.
Ökonomisierung bewirkt den überragenden gesellschaftlichen Bedeutungszuwachs der Arbeit nicht alleine. Hinzu kommt ein Individualisierungsprozess, der die Integrations- und Determinationskraft des Familienzusammenhangs deutlich reduziert. Im Zuge der Individualisierung werden bezahlte Arbeitsleistungen sowie finanzierbares Konsumverhalten zunächst für den einzelnen Mann, inzwischen auch für die einzelne Frau zu zentralen, selbst zu verantwortenden sozialen und sinnstiftenden Praktiken. Die gesellschaftliche Verortung und die sozialen Existenzvoraussetzungen werden jetzt weniger von der Familienzugehörigkeit bestimmt, sondern stärker von der individuellen Karriere, die wiederum eng gekoppelt ist an den Status der Erwerbsfähigkeit, die ihrerseits insbesondere an Bildungs-, Aus- und Weiterbildungsvoraussetzungen gebunden ist. Lebensphasen, die aus Alters-, Gesundheits- oder Arbeitsmarktgründen individuelle Leistungen einschränken oder verhindern, führen für Viele in soziale Existenzprobleme, für die in unterschiedlichen Ausmaßen sozialstaatliche Lösungen durchgesetzt wurden. Ein weiteres zentrales Merkmal dieser Form der Arbeitsorganisation ist, dass die vorherrschende gesellschaftliche Selbstdarstellung einen direkten Kausalzusammenhang behauptet zwischen der individuellen Leistungsbereitschaft und -fähigkeit einerseits, dem persönlichen Geldeinkommen und zahlungspflichtigen Konsummöglichkeiten der Einzelnen andererseits.

Auffällige Verdrängungsbereitschaft

Niemand mit intakten Sinnen und einem funktionierenden Gedächtnis wird in Abrede stellen, dass die gesellschaftliche Organisation der Arbeit, wie sie sich im Zuge der industriellen Revolution etablierte und via Globalisierung und Digitalisierung expandierte, die Lebensmöglichkeiten vieler Menschen wesentlich verbessert hat. Niemand mit einem Minimum an sozialer und ökologischer Sensibilität kann bestreiten, dass die quantitativen und qualitativen Zuwächse an Leistung und Konsum auf eine Weise erreicht wurden und werden,
  • die Vorteile und Wohlstandsgewinne, Nachteile und Verelendungsgefahren höchst ungleich verteilt,
  • die Arbeitskräfte ausbeutet, deren Gesundheit, letztlich deren Leben beschädigt
  • und in der natürlichen Umwelt Zerstörungen anrichtet, die inzwischen das pflanzliche, tierische und menschliche Leben auf dem Planeten elementar bedrohen.
Die Frage nach der Zukunft der gesellschaftlichen Arbeit stellt sich dem/der achtsamen Beobachter:in am Beginn des 21. Jahrhunderts so dringlich und grundsätzlich, dass es verwundert, wie groß die öffentliche Bereitschaft zu sein scheint, sie auf der Agenda nachrangig einzuordnen und sich mit Hoffnungen auf Künstliche Intelligenz, algorithmische Antworten und Ausflüge ins Universum zu beruhigen. Ein entscheidender Grund für die auffällige Verdrängungsbereitschaft dürfte sein, dass die Entscheidungsträger:innen in Wirtschaft und Politik weitgehend auf der Seite der Nutznießer:innen der heutigen Arbeits- und Wirtschaftsweise versammelt sind, während sich die schlimmen Folgen von Krisen und Katastrophen vor allem auf der Seite der Ohnmächtigen ausbreiten.

Ein enges Regelwerk

In dieser multiplen Krisenkonstellation stellt sich umso dringlicher die Anschlussfrage nach Funktion und Leistungsfähigkeit der Politik. Politische Reden, besonders die feierlichen, vermitteln oft den Eindruck, dass dem politischen Personal gar nicht bewusst ist, wie sehr die Berufung auf Freiheit und Demokratie einer Absage an ungebremste staatliche Machtansprüche gleichkommt; wie wenig sie von der Machtentfaltung übrig lassen, die vormoderne Staatlichkeit mit Glanz und Gloria und weit ausholenden Herrschaftsgesten für sich reklamieren konnte. Moderne Politik mit dem Staat als Zentrum und der Regierung als Spitze ist im Namen von Freiheit und Demokratie strukturellen Voraussetzungen unterworfen, die ihre Entscheidungs- und Handlungsspielräume in ein enges Regelwerk einbinden.
Dieses Regelwerk, das mit der Gewaltenteilung beginnt, über die Spaltung der Spitze in Regierung und Opposition, die Kontrolle durch die öffentliche Meinung und die Abhängigkeit vom Wählervotum bis hin zu den unveräußerlichen Grund- und Menschenrechten reicht und dabei auch die Tarifautonomie umfasst, nimmt dem Staat keineswegs die Möglichkeit, in gesellschaftliche Entwicklungen einzugreifen: Sowohl mit ihrer Kompetenz, Recht zu setzen, als auch mit ihrer Möglichkeit, Steuern zu erheben und Steuergelder zu verteilen, können Staaten Einfluss nehmen und gestalten. Aber es sind Eingriffe, die ihre Rückkopplungseffekte mitdenken und damit rechnen müssen, dass die übrige Gesellschaft aus politischen Entscheidungen ihre eigenen Schlüsse zieht.
Im Namen von Freiheit und Demokratie reflektieren Organisationen und Personen im Wirtschafts- und Finanzsystem, in Wissenschaft, Öffentlichkeit und Kunst, im Bildungssystem, im Sport und in den Familien ihren Umgang mit und ihre Konsequenzen aus den politischen Entscheidungen. Orientiert an ihren je spezifischen Interessen und an ihren Vorstellungen vom Allgemeinwohl (im schlechtesten Fall auch unter Missachtung jeglichen Allgemeinwohls) reagieren sie gegebenenfalls mit Kritik und Protesten, machen sich auf die Suche nach Schlupflöchern und Ausweichgelegenheiten, erheben Klage, rufen zur Abwahl der Regierung auf.
Ein markantes, aber oft verkanntes gesellschaftliches Strukturmerkmal der fortgeschrittenen Moderne ist dieser Umstand: Die Politik selbst hat zwar im Staat ein Zentrum und in der Regierung eine Spitze, aber sie bildet (anders als vormoderne Herrschaftsformen) weder Zentrum noch Spitze der Gesellschaft, sondern ist nur ein Funktionsfeld neben anderen; ein wichtiges, ein unverzichtbares mit ganz besonderen Aufgaben und Leistungen, aber kein darüber stehendes, alles bestimmendes, sondern ein eingebettetes, interdependentes. Politik hat die Gesellschaft als ganze im Blick, aber nicht von oben. Sie hat nur ihre politische Perspektive, so wie andere Funktionsfelder ihren je eigenen – wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, massenmedialen – Blickwinkel haben und dabei auf ihre Weise ebenfalls die Gesellschaft als ganze beobachten.

Entscheidungsmöglichkeit als praktizierte Freiheit

Dieser begrifflich-politische Paradigmenwechsel weg von einer Herrschafts- hin zu einer Governance-Perspektive dürfte der Wegweiser für das aktuelle und künftige Politikverständnis sein. Deutlich wird aus dieser Perspektive, wie sehr der frühere IG Metall Vorsitzende Otto Brenner (1907–1972) auf der Höhe der Zeit war, als er Demokratisierung eben nicht nur für die Politik eingefordert hat, sondern auch für andere Funktionsfelder, allen voran die Wirtschaft. Gerade wenn es zutrifft, dass moderne Politik nicht allmächtig ist (sich zu Allmacht nur im Modus des Staatsterrors aufschwingen kann), kommt es sehr darauf an, dass sich demokratische Verhältnisse auch auf anderen gesellschaftlichen Feldern entwickeln; alleine auf weiter Flur steht demokratische Politik auf wackeligen Beinen.
Eine „demokratische Wirtschaftsführung“ sollte im Verständnis Otto Brenners zur „Aneignung eines größeren Freiheitsspielraumes“ (Brenner 1997, S. 80) beitragen. Auch für ihn gehörten Demokratie und Freiheit zusammen. Aus dem Wertehimmel heruntergeholt und praktisch gewendet, sozusagen in den Werktagen verankert, bedeutet Freiheit die Möglichkeit sich zu entscheiden; beziehungsweise, wenn andere mitbetroffen und mitbeteiligt sind, mitzuentscheiden. Alternativen zu haben, zwischen Optionen wählen zu können, dazu nein zu sagen, dort zuzustimmen: das charakterisiert den Freiheitsraum. Der Sinn der Gleichheit, den die bürgerliche Revolution meinte, war nie Gleichmacherei, uniformiertes Grau, einheitliches Denken, konformes Sprechen, kommandiertes Handeln, sondern gleiche Freiheiten – die jede:r für sich, aber nicht ohne Blick für die anderen nutzt.
Blickt man unter dieser Perspektive der einzelnen individuellen und organisationalen Entscheidungsspielräume auf die Gegenwartsgesellschaft, dann sind – bei allen Übergängen und Schattierungen, die das Bild entschärfen – die Polarisierungen skandalös. Trotz aller Mittellagen mit einem relativ auskömmlichen, zeitweise durchaus entspannten, alles in allem guten Leben weisen die Sozialstatistiken gesellschaftliche Brüche auf, deren Ränder nicht nur außerhalb der Reichweite, sondern weit außerhalb der Sichtweite der Beteiligten auseinanderklaffen. Auf der einen Seite ballen sich private, global aufgestellte Akkumulationen von Geld und Macht, die selbst gegenüber Staaten mit einem wirksamen Erpressungspotential aufwarten können. Auf der anderen Seite schleppen sich selbst in den reichsten Ländern Millionen von Menschen von einem prekären Job in den nächsten und versuchen, auf den Resterampen der Konsummärkte das Nötigste zusammen zu kratzen. Sie können politische Sonntagsreden über Freiheit nur als Hohn- und Spottgesänge erleben.
Die gesellschaftliche Ordnung der Arbeit ist zweifelsfrei ein entscheidender Hebel dafür, die Freiheitsverhältnisse in die Richtung größerer Gleichheit zu transformieren. Diese Transformation wird auch ein Demokratisierungsprozess sein oder sie wird im Sand eines verwüsteten Planeten stecken bleiben.
„Freiheit heißt, nicht kommandiert zu werden. Freiheit heißt, seine Stimme erheben zu können und gehört zu werden. Freiheit des Einzelnen heißt, dass jeder Einzelne gleich viel wert ist. Freiheit heißt aber auch, nicht nur die theoretische Freiheit zu haben, sich auszuprobieren, sondern auch über die Ressourcen zu verfügen, die das praktisch ermöglichen. Und dazu gehören Freiräume genauso wie die Sicherheit, nicht ins Bodenlose zu fallen, wenn man bei diesen Versuchen scheitert – in anderen Worten; die Freiheit, seinen eigenen Weg finden und gehen zu können.“ (Misik 2012, S. 60).

Verschiebungen zwischen dem Politischen und dem Privaten

Andreas Reckwitz (2017) hat seine Theorie der „Gesellschaft der Singularitäten“ auf Verschiebungen der sozialen Logik des Allgemeinen und des Besonderen gegründet. Man bekommt es eine Stufe konkreter, wenn man die Verschiebungen zwischen dem Politischen und dem Privaten ins Auge fasst. Der Konflikt zwischen Rechts und Links hat sich stets auch darum gedreht, das Private privat sein und in Ruhe zu lassen oder das Private als politisch auszuflaggen. Die Krisenanfälligkeit der globalisierten Moderne, die sich spätestens mit der Weltwirtschaftskrise 1929 im öffentlichen Bewusstsein verankerte, mit Kriegen, Massenarbeitslosigkeit und Hungersnöten laufend aktualisierte und im 21. Jahrhundert mit der Finanz-, Euro-, Flüchtlings-, Corona- und Klimakrise verallgegenwärtigte, hat die Grenzen zwischen dem Privaten und dem Politischen jederzeit in Frage gestellt. Krisen sorgen für Turbulenzen sowohl im Privaten als auch im Politischen und sie strapazieren das Spannungsverhältnis zwischen beiden; Kriege zerstören alles, automatisch auch soziale Trennungslinien.
In der westlichen Moderne hat sich ein Verhältnis zwischen dem Politischen und dem Privaten herausgebildet, in dem zwar auch das (individuelle und organisierte) Private auf seine Gemeinwohlverträglichkeit hin beobachtet wird, aber zuvörderst hat sich die Politik gegenüber den Privatinteressen zu rechtfertigen. Gerade die Wahlstimme gründet zusammen mit der Gleichheit der Wählenden auf dem Recht der freien, nichts und niemandem verantwortlichen Meinung. Nichts verpflichtet Bürger:innen, über ihr Privatinteresse hinauszudenken und für ihre Wahlentscheidung mehr zu berücksichtigen als ihr persönliches Wohlergehen. Aber zugleich ist klar, dass die bürgerliche Selbständigkeit um ihre Abhängigkeit von selbständigen Anderen weiß und deshalb „eine, wenn auch in kleiner Münze ausgezahlte Gemeinwohlorientierung“ (Habermas 2021, S. 481) einschließen muss, die sich zuvörderst in zivilgesellschaftlichen Engagements gerade auch auf lokaler und regionaler Ebene zeigt.
In jeder Zweierbeziehung existiert ein Drittes, nämlich das beide Betreffende; wird es vernachlässigt oder von einer Seite okkupiert, leidet die Beziehung. Vergleichbares trifft auf die Gesellschaft zu: Das alle Betreffende bedarf – über die Anerkennung der einzelnen Betroffenen (Personen wie Organisationen) hinaus – der Beachtung und der besonderen Berücksichtigung. Im Dauerstreit zwischen Markt und Staat spiegelt sich die Verkennung dieser Sachlage. Prototyp des Marktstrategen ist der homo oeconomicus; Amartya Sen (2020) nennt ihn einen rationalen Dummkopf.
In der Coronakrise trat das Konfliktpotential zwischen den persönlichen und organisationalen Freiheiten einerseits und den Notwendigkeiten eines gesamtgesellschaftlich operierenden Regierungshandelns andererseits dramatisch hervor. Sie steht exemplarisch „für ein besonders starkes Theater einer echauffierten Gesellschaft, die die Dinge persönlich nimmt, wenn sie nicht in den Kram passen. Die Kontroversen rutschen ab.“ (Schulz 2022, S. 8).

Arbeit, Zivilgesellschaft, Politik

Die Idee der individuellen und organisationalen Selbstbestimmung ist eine politische Idee; sie findet ihren gesellschaftlichen Ausdruck als Freiheit der Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, der Meinungs- und Medienfreiheit etc. Die Möglichkeiten, allen Personen Einfluss auf die kollektiv bindenden Entscheidungen der Politik zu garantieren, sowie für Personen und Organisationen Freiräume für eigene Entscheidungen zu schaffen, wurden politisch durchgesetzt.
Allerdings mit der historischen Pointe, dass in Organisationen, insbesondere in Wirtschaftsorganisationen, die Freiheiten und demokratischen Rechte der Personen wenig zur Geltung kommen, um die Effizienzvorteile der Hierarchie nutzen zu können. Die organisationale Entscheidungsfreiheit wirtschaftlicher Organisationen gründet sich auf Eigentum, konzentriert sich an der Spitze und verursacht Unterordnung, wenn nicht Unterdrückung, sofern nicht Mitbestimmungsrechte realisiert werden konnten. Freiheit und Demokratie können sich entfalten, solange keine Instanzen auftreten, die die ganze Wahrheit für sich beanspruchen und in hierarchischer, fundamentalistischer oder diktatorischer Manier durchsetzen wollen. Nur Freiheit und Demokratie garantieren die Chance, „in grundsätzlich unwägbaren Umständen sein Leben gleichwohl aus eigener Kraft und Orientierung zu führen“ (Seel 2002, S. 279).
Werden die aufgezeigten Argumentationslinien zusammengeführt, skizzieren sie das „magische Dreieck“ aus Arbeit, Zivilgesellschaft und Politik, innerhalb dessen gesellschaftliche Evolution ihren Weg findet. Die Arbeit und die Formen, in welchen sie organisiert wird, die Zivilgesellschaft und die Art und Weise, in der sie das Private und das Allgemeine zueinander in Beziehung setzt, die Politik und ihre Fähigkeit, über kollektive Verbindlichkeiten zu entscheiden – dass diese Drei über alle Konflikte hinaus eine demokratisch-emanzipatorische Grundrichtung eint, darauf kommt es an. Mit Blick auf diese Drei haben die Herausgeber die Autor:innen eingeladen zu Essays über die sozial-ökologische Transformation, zu Versuchen über analytische, konzeptionelle, strategische und auch ganz praktische Zugänge einer demokratischen und emanzipatorischen Zukunftsgestaltung.
Open Access Dieses Kapitel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Literatur
Zurück zum Zitat Brenner, O. (1997). Gewerkschaftliche Bildungsarbeit. In IG Metall-Vorstand (Hrsg.), Visionen lohnen. Otto Brenner 1907–1972. Texte, Reden und Aufsätze (S. 76–81). Köln: Bund-Verlag Brenner, O. (1997). Gewerkschaftliche Bildungsarbeit. In IG Metall-Vorstand (Hrsg.), Visionen lohnen. Otto Brenner 1907–1972. Texte, Reden und Aufsätze (S. 76–81). Köln: Bund-Verlag
Zurück zum Zitat Misik, R. (2012). Halbe Freiheit. Warum Freiheit und Gleichheit zusammengehören. Berlin: Suhrkamp Misik, R. (2012). Halbe Freiheit. Warum Freiheit und Gleichheit zusammengehören. Berlin: Suhrkamp
Zurück zum Zitat Habermas, J. (2021). Überlegungen und Hypothesen zu einem erneuten Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit. In M. Seeliger, & S. Sevignani (Hrsg.), Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit (Leviathan, Jahrgang 49, Sonderband 37, S. 470–500). Baden-Baden: Nomos Habermas, J. (2021). Überlegungen und Hypothesen zu einem erneuten Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit. In M. Seeliger, & S. Sevignani (Hrsg.), Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit (Leviathan, Jahrgang 49, Sonderband 37, S. 470–500). Baden-Baden: Nomos
Zurück zum Zitat Reckwitz, A. (2017). Die Gesellschaft der Singularitäten. Berlin: Suhrkamp Reckwitz, A. (2017). Die Gesellschaft der Singularitäten. Berlin: Suhrkamp
Zurück zum Zitat Schulz, J. W. (2022). Glossar der Sicherheitsgesellschaft. Gegen die Verlockung der Eindeutigkeit. Berlin: Edition Ästhetik und Kommunikation Schulz, J. W. (2022). Glossar der Sicherheitsgesellschaft. Gegen die Verlockung der Eindeutigkeit. Berlin: Edition Ästhetik und Kommunikation
Zurück zum Zitat Seel, M. (2002). Sich bestimmen lassen. Studien zur theoretischen und praktischen Philosophie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Seel, M. (2002). Sich bestimmen lassen. Studien zur theoretischen und praktischen Philosophie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
Zurück zum Zitat Sen, A. (2020). Rationale Dummköpfe. Eine Kritik der Verhaltensgrundlagen der Ökonomischen Theorie. Stuttgart: Reclam Sen, A. (2020). Rationale Dummköpfe. Eine Kritik der Verhaltensgrundlagen der Ökonomischen Theorie. Stuttgart: Reclam
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Die sozial-ökologische Transformation wird auch ein Demokratisierungsprozess sein oder scheitern. Eine Einleitung
verfasst von
Jupp Legrand
Benedikt Linden
Hans-Jürgen Arlt
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2023
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https://doi.org/10.1007/978-3-658-39911-5_1

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