2.2 Innovation und Haftungsrecht
Der Zusammenhang zwischen Haftungsrecht und Innovation war schon immer eng.
9 1838 wurde keine zwei Jahre nach der Fahrt der ersten preußischen Eisenbahn ein entsprechendes Gesetz auf den Weg gebracht, das die Betreiber von Eisenbahnen einer strengen, verschuldensunabhängigen Haftung unterwarf.
10 Als in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Gentechnik weit genug entwickelt war, um industriell genutzt werden zu können, reagierte der deutsche Gesetzgeber mit dem Gentechnikgesetz, das ebenfalls eine scharf eingestellte Haftungsregelung enthielt.
11 In diesen Fällen reagierte die Politik auf neue technische Möglichkeiten mit einer Haftungs
verschärfung. Während Bürger und Unternehmen im Normalfall nur für schuldhaftes, d. h. gegen eine Sorgfaltspflicht verstoßendes Verhalten einzustehen haben, haften die Betreiber von Eisenbahnen und von gentechnischen Anlagen strikt, d. h. ohne Rücksicht auf eine Sorgfaltspflichtverletzung. In der aktuellen Diskussion um die Haftung für künstliche Intelligenz denkt auch die EU-Kommission über die Fortentwicklung des Haftungsrechts nach, verfolgt dabei aber ein doppeltes Ziel. Die neu zu erarbeitenden Haftungsregeln sollen nicht nur die Verbraucher und sonstige Nutzer von Digitalprodukten schützen, sondern zugleich auch die Einführung neuer Technologien erleichtern.
12 Die Vorstellung, Haftungsregeln beeinflussten die Innovationsgeschwindigkeit einer Volkswirtschaft und müssten daher so gefasst werden, dass Innovationen gefördert würden, ist auch sonst weit verbreitet. Dahinter steht die Annahme, dass streng eingestellte Haftungsregeln Innovationen behindern und dass diese Behinderung nicht wünschenswert ist. Beides gilt es zu hinterfragen.
Es ist offensichtlich und soll hier nicht weiter begründet werden, dass die strikte Regulierung bestimmter Aktivitäten deren Entfaltung und Entwicklung Grenzen setzt, die sonst, d. h. bei großzügiger Zulassung oder Regulierung derselben Aktivitäten nicht existierten. Regulierung in diesem technischen Sinne erfolgt
ex ante, legt also vor Entwicklung oder Implementierung einer bestimmten Technologie fest, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Kautelen bestimmte Aktivitäten überhaupt durchgeführt werden dürfen.
13 Davon unterscheidet sich das Haftungsrecht fundamental. Haftungsregeln kommen überhaupt nur zur Anwendung, wenn tatsächlich ein Schaden eingetreten ist. Sie sanktionieren niemals Verhalten „als solches“, ohne Rücksicht auf den Eintritt eines Schadens. Die in Deutschland und anderen europäischen Ländern verbreiteten Haftungsregeln sind zudem überwiegend auf Personen- und Sachschäden bezogen, gelten also von vornherein nur, wenn es zu echten Verlusten an wirtschaftlichen Ressourcen (Eigentum) oder zu Verletzungen von Leben, Körper und Gesundheit gekommen ist. Dieses Charakteristikum des Haftungsrechts ist für seine ordnungspolitische Einordnung von entscheidender Bedeutung.
Das Haftungsrecht kann jedenfalls nicht in dem Sinne „überregulieren“, dass es Aktivitäten beschränkt oder mit Kosten belastet, die überhaupt keine oder wesentlich geringere Einbußen verursachen. Eine überstrikte Regulierung, die völlig harmlose Aktivitäten im Lichte fehlerhafter Annahmen oder irrationaler Ängste beschränkte, kann es mit Haftungsrecht überhaupt nicht geben. Das Haftungsrecht kommt erst zum Zuge, wenn ein Schaden bereits eingetreten ist und es nur noch um seine Verteilung geht. Insofern ist es ein vorzügliches Instrument für den Umgang mit noch unbekannten Risiken.
14 Wirtschaft, Gesellschaft und Politik können mit Hilfe des Haftungsrechts lernen, welches Schädigungspotential mit der Nutzung neuer Technologien verbunden ist, ohne den Schutz von Person und Eigentum der Bürger völlig zur Disposition zu stellen bzw. zu riskieren. Dies ist der wesentliche Vorteil des Haftungsrechts gegen Überregulierung ex ante.
Allerdings, und dies ist nicht zu bestreiten, belegt das Haftungsrecht bestimmte Aktivitäten mit Kosten, macht sie also teurer als sie ohne Haftung wären. Nach allgemeinen ökonomischen Gesetzen führt eine Belastung mit Kosten zu einer Erhöhung der Preise und in der Folge zu einem Rückgang der Nachfrage nach der jeweiligen Aktivität oder dem jeweiligen Gut. In der ökonomischen Analyse des Haftungsrechts ist dieser Zusammenhang unter dem Begriff des Aktivitätsniveaus geläufig.
15 Insbesondere eine verschuldensunabhängige Haftung, die den Akteur für alle von ihm verursachten Schäden ohne weitere Voraussetzungen verantwortlich macht, ist dazu geeignet, die Menge der schadensträchtigen Aktivität auf das effiziente Niveau einzustellen. Muss der Schädiger damit rechnen, für jeden von ihm verursachten Schaden zur Verantwortung gezogen zu werden, wird er die jeweilige Aktivität nur bis zu demjenigen Punkt ausdehnen, an dem der marginale Nutzen einer weiteren Einheit gleich den Gestehungskosten dieser Einheit, zuzüglich den Sorgfaltskosten und zuzüglich den Schadenskosten ist. Mit diesem Verhalten maximiert der jeweilige Akteur nicht nur seinen eigenen Nutzen, sondern, die Abwesenheit weiterer Externalitäten unterstellt, zugleich den Nutzen aller, also der Volkswirtschaft im Ganzen.
Angesichts dieser Zusammenhänge ist es nicht richtig, wenn Haftung mitunter als Innovationshemmnis hingestellt wird.
16 Zwar lässt sich nicht ausschließen, dass bei scharf eingestellter Haftung bestimmte Aktivitäten nicht mehr oder nicht in gleichem Umfang ausgeführt werden wie bei Abwesenheit jeder Haftung oder bei einer restriktiv eingestellten Haftungsregel. Dies ist jedoch kein Nachteil. Eine strikte Haftung zwingt den Schädiger dazu, die negativen externen Effekte seines Verhaltens für die Rechtsgüter anderer in Rechnung zu stellen. Wenn sich dabei ergibt, dass die eigene Aktivität mehr Schäden verursacht als sie Nutzen stiftet, dann ist es volkswirtschaftlich effizient, wenn sie nicht ausgeführt wird. Das gilt unverkürzt auch für neue Technologien. Speziell die Digitalisierung verspricht in vielen Bereichen massive Sicherheitsgewinne, weil sie menschliche Entscheidungen, die naturgemäß fehleranfällig sind, durch Rechenprozesse ersetzt, die sich viel besser planen und kontrollieren lassen.
17 Der Einsatz dieser Technologien wird dazu führen, dass die Schadenskosten sinken. Dementsprechend wird durch Haftungsrecht ein Verhalten prämiert, das innovative technische Lösungen, die zu einer Reduktion von Schadenskosten führen, implementiert. Umgekehrt liegt es mit Blick auf Technologien, deren Einsatz den Eintritt und den Umfang von Schäden
ceteris paribus erhöht. Diese Aktivitäten werden mit einer Art „Steuer“ belegt, die in Gestalt von Ersatzzahlungen an den Geschädigten zu entrichten ist.
Wie gesehen, führt Haftungsrecht also zu einer Steuerung des Technikeinsatzes und der Innovationen in Richtung auf Schadensvermeidung. Dabei geht es nicht um Schadensvermeidung um jeden Preis, sondern um die Vermeidung von Schäden, denen kein überwiegender Nutzen gegenübersteht. Dieser Mechanismus ist mit einer ordoliberalen Rechtspolitik bestens vereinbar. Mit Haftungsregeln schränkt der Staat nicht ex ante die Freiheit der Wirtschaftssubjekte ein, sondern reagiert ex post auf die Verursachung nachgewiesener Schäden für andere Bürger und Unternehmen. Dies wiederum geschieht nicht im Interesse einer „bloßen“ Umverteilung von Schadenskosten von einem Subjekt zum anderen. Vielmehr ist mit dem Einsatz von Haftungsrecht die Erwartung verbunden, dass die Adressaten ihr eigenes Verhalten auf die Haftungsandrohung einstellen werden. Rationale Akteure werden darum bemüht sein, die Haftung zu vermeiden. Die Mittel, die ihnen dafür zur Verfügung stehen, sind Investitionen in Sorgfalt und die Einschränkung des Aktivitätsniveaus. Insofern führt also die Anordnung einer Haftung ex post zu einer Änderung des Verhaltens ex ante, und zwar in der Weise, dass Sorgfalts- und Aktivitätsniveau auf das effiziente Maß eingestellt werden. Dabei macht sich das Haftungsrecht das dezentral vorhandene Wissen der Rechtssubjekte über die Möglichkeit und die Kosten von Sorgfaltsmaßnahmen sowie das Ausmaß drohender Schäden zunutze.
2.3 Haftung folgt Kontrolle
Die Herausforderung der Digitalisierung für das Haftungsrecht besteht vor allem darin, dass mit autonomen Systemen, die ihr eigenes Verhalten steuern, ein neuer Akteur die Bühne des Haftungsrechts betritt: das autonome Artefakt.
18 Ob diese Systeme über künstliche Intelligenz verfügen, ist für das Haftungsrecht irrelevant. Entscheidend ist, dass ihr Verhalten nicht im strengen Sinne determiniert ist, d. h., dass die Steuerungs-Software nicht aus Verhaltensbefehlen von einer „Wenn…Dann“-Struktur besteht. Neben Menschen und Kooperationen, die bisher als Haftungssubjekte anerkannt waren, treten nunmehr autonome digitale Systeme. Die entscheidende Frage ist, wie das Haftungsrecht darauf reagieren soll.
Eine besonders weitreichende und mutige Lösung bestünde darin, das autonome System selbst zum Haftungssubjekt zu machen. Diese Idee einer sog. ePerson als Haftungssubjekt hat das Europäische Parlament mit einer Entschließung aus dem Jahre 2017 ins Spiel gebracht.
19 Dieser Vorschlag wirft eine Fülle von Fragen auf, auf die zurückzukommen sein wird.
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Das Faszinosum einer sich selbst steuernden Maschine darf nicht den Blick darauf verstellen, dass digitale autonome Systeme nicht vom Himmel fallen und auch nicht in einem naturwüchsigen Prozess „auf die Welt kommen“, sondern von Menschen geschaffen und in den Verkehr gebracht werden.
21 Wer sind diese Menschen? – Aus haftungsrechtlicher Sicht ist der Hersteller des digitalen autonomen Systems in den Blick zu nehmen. Damit sind sämtliche Personen gemeint, die an der Konstruktion und Fabrikation eines Roboters oder sonstigen autonomen Systems beteiligt waren, also der Endhersteller, Zulieferer von Hardwarekomponenten sowie Programmierer der Computerprogramme, die das Artefakt steuern. Soweit ein digitales autonomes System der menschlichen Kontrolle überhaupt unterliegt, ist der Hersteller angesprochen. Wenn das Haftungsrecht dazu dienen soll, Anreize zu schadensvermeidendem Verhalten im Sinne effizienter Sorgfalt und effizienten Aktivitätsniveaus zu generieren, dann ist es zwingend, die Verhaltensanreize an diejenigen Personen zu adressieren, die Kontrolle über das schadensträchtige Geschehen ausüben. Diese Kontrolle liegt bei den Herstellern des Systems bzw. bei den mehreren Unternehmen, die auf die eine oder andere Weise an der Konstruktion und der Fabrikation des digitalen autonomen Systems mitgewirkt haben. Der Hersteller ist die Zentralfigur des Unfallgeschehens bei Beteiligung digitaler autonomer Systeme. Deshalb müssen die haftungsrechtlichen Anreize vor allem an den Hersteller adressiert werden.
Die Digitalisierung führt zur Aufwertung des Herstellers im Haftungsrecht und parallel zur Abwertung des Nutzers. Während die Produkte der analogen Welt von den Nutzern eingesetzt und in ihrem konkreten Verhalten kontrolliert werden, gilt dies für digitale Produkte nicht. Der Fahrer eines autonomen Automobils wird zum Passagier, und der Eigentümer eines digitalen Rasenmäherautomaten kann nicht mehr tun, als das Gerät ein- und auszuschalten. Gleichzeitig ist der Nutzer nach wie vor, d. h. wie bei Produkten der analogen Welt, am häufigsten und stärksten von Produktfehlern betroffen. Der Nutzer ist das Unfallopfer par excellence.
22 Aus diesen Prämissen folgt für die Ausgestaltung des Haftungsrechts für digitale autonome Systeme zweierlei: (1) Da der Nutzer das Verhalten des Systems nicht kontrollieren kann, scheidet er als primärer Adressat der schadensrechtlichen Haftungsandrohung aus. Wer keine Kontrolle ausübt, ist kein geeignetes Haftungssubjekt. (2) Der Nutzer ist in der digitalen Welt nicht so sehr als Schädiger, sondern als Opfer anzusprechen. Haftungsrechtliche Lösungen müssen so kontrolliert sein, dass sie nicht nur externe Dritte, sondern vor allem auch den Nutzer schützen.