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1985 | Buch

Dritte Welt-Forschung

Entwicklungstheorie und Entwicklungspolitik

herausgegeben von: Prof. Dr. Franz Nuscheler

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

Buchreihe : Politische Vierteljahresschrift Sonderhefte

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Inhaltsverzeichnis

Frontmatter

Einleitung: Entwicklungslinien der politikwissenschaftlichen Dritte Welt-Forschung

Einleitung: Entwicklungslinien der politikwissenschaftlichen Dritte Welt-Forschung
Zusammenfassung
Dieses Sonderheft will eine Bilanz der politikwissenschaftlichen Dritte Welt-Forschung in der Bundesrepublik ziehen. Dieser Versuch muß unvollständig und selektiv bleiben. Auch ein dickleibiger Sammelband kann die Differenzierungs- und Spezialisierungsprozesse, theoretischen Kontroversen und Paradigmenwechsel, die diese Spezialdisziplin in ihrer kaum drei Jahrzehnte langen Entwicklungsgeschichte durchgemacht hat, nur schwerpunktmäßig rekonstruieren. Einige Entstehungsprobleme verschärften noch diese Selektionswirkung:
Erstens wollte der Herausgeber bei der Auswahl der Themen und Autoren keine Rücksicht auf die verbandspolitische Spaltung der deutschen Politikwissenschaft nehmen, die vor allem in den Bereich der Internationalen Politik hineinwirkt. Diese Absicht gelang nur teilweise, weil die Verbandsspaltung offensichtlich die Bereitschaft zum Dialog und zur Kontroverse über Verbandsgrenzen hinweg lähmt (vor allem dann, wenn dieser Dialog in einem Publikationsorgan der DVPW stattfinden soll). Die Verbandskonkurrenz erwies sich also bisher nicht als diskursive Stimulanz, sondern als kontraproduktives Nebeneinander.
Franz Nuscheler

Entwicklungstheoretische Kontroversen und Konversionen

Konstitutionsbedingungen einer kritischen Entwicklungstheorie — Globale kapitalistische Expansion, räumliche Strukturen gesellschaftlicher Entwicklung und der schwindende Einfluß nationalstaatlicher Strategien
Zusammenfassung
Über die „Konstitutionsbedingungen einer Theorie“ schreibt man, wenn es darum geht, entweder ein neues Feld theoretischer Diskussion überhaupt erst zu erschließen oder aber darum, den Ausgangspunkt für eine grundsätzliche theoretische Neuorientierung zu kennzeichnen. Nach einigem Zögern habe ich das Thema, das mir vom Herausgeber dieses Bandes vorgeschlagen wurde, akzeptiert; ich glaube, daß sich die „linke“ entwicklungstheoretische Diskussion tatsächlich in einer Lage befindet, in der eine Art Selbstbesinnung auf die Konstitutionsbedingungen der eigenen theoretischen Arbeit nützlich sein kann1:
  • die Gültigkeit der im Rahmen der Dependenzdiskussion geleisteten Kritik an orthodoxen Entwicklungstheorien (Modernisierungs-/Wachstums-/Dualismustheorie, aber auch an orthodox-marxistischen Ansätzen) wird weitgehend akzeptiert;
  • die Forderungen nach einem globalen, d. h. die Wechselbeziehungen zwischen allen Regionen des Weltsystems berücksichtigenden Ansatz sowie einer holistischen Perspektive, die die Wechselbeziehungen zwischen allen gesellschaftlichen Bereichen umfaßt, sollten nicht aufgegeben werden;
  • andererseits sind eine Reihe grundlegender Kritikpunkte am Dependenzansatz fast Allgemeingut geworden (ökonomistischer Charakter; Unhaltbarkeit der duopolistischen Zuspitzung Zentrum-Peripherie; fehlende Differenzierung innerhalb der beiden Großregionen u. a.).
Wolfgang Hein
Dependencia und kapitalistisches Weltsystem, oder: Die Grenzen globaler Entwicklungstheorien
Zusammenfassung
Die Dependencia, vor wenigen Jahren noch das Thema der entwicklungstheoretischen Diskussion und von manchen als Königsweg gefeiert, ist in Verruf geraten. Es ist schon beinahe Mode geworden, sich von dieser Theorierichtung zu distanzieren (z.B. Elsenhans 1982: 153) bzw. der ganzen Schule (ebenfalls pauschal) pauschales Theoretisieren vorzuwerfen (siehe z.B. Tavares 1981). Wer, wie der Autor dieses Artikels, trotz aller Kritik die Dependencia nicht in Bausch und Bogen verdammt (Boeckh 1982), steht unversehens als entwicklungstheoretischer Nostalgiker da (Osterkamp 1984: 85f). Selbst in Lateinamerika ist es mittlerweile möglich, so dependenzträchtige Themen wie die Rolle des Kontinents in der neuen Weltwirtschaftsordnung so gut wie ohne Referenz zur Dependencia-Debatte zu behandeln (Portales 1983). Auch Prebisch vermag, ohne auf die Dependencia Bezug zu nehmen, als Entwicklungsrezept für die 80-er Jahre ungerührt eine Neuauflage des Cepalismo der 60-er Jahre vorzuschlagen, wenn er dafür plädiert, daß die Akkumulation privatwirtschaftlich auf Kosten des Luxuskonsums gesteigert und der interne Markt durch eine staatlich induzierte Umverteilung der Einkommen erweitert werden sollen (Prebisch 1981, 1982). Wie es scheint, hat die Dependencia wenig Spuren hinterlassen, sie ist, nachdem sie schon so oft totgesagt worden ist, offenbar entgültig out.
Andreas Boeckh

Schwellenländer: ein neues entwicklungstheoretisches Erklärungsproblem

Indikatoren zur Bestimmung von Schwellenländern. Ein Vorschlag zur Operationalisierung
Zusammenfassung
Wenn man die inzwischen zahlreiche Literatur zur Schwellenländerproblematik bzw. zur Frage der „Newly Industrializing Countries“, wie der im angelsächsischen Raum verwandte Begriff lautet, Revue passieren läßt, lassen sich vier Hauptstränge der Diskussion beobachten. Diese ergeben sich im wesentlichen aus dem jeweiligen Erkenntnisinteresse der Autoren. Den breitesten Raum nimmt in der Literatur die Frage ein, welcher aktuelle oder zukünftige Konkurrenzdruck wird von den Schwellenländern auf die etablierten Industrieländer bzw. einzelne ihrer Branchen ausgeübt. Exemplarisch seien hier die Untersuchungen der OECD, der britischen Regierung oder die vielen Stellungnahmen einzelner Interessenverbände genannt (vgl. OECD 1979 a, 1979b; Bergmann 1983; Menzel 1983: 31–59). Die politische Variante dieser Position stellt die Frage, welche Konsequenzen sich aus den Industrialisierungsprozessen in der Dritten Welt und ihrer daraus resultierenden Differenzierung für das künftige weltpolitische Machtgefüge ergeben. Inwieweit wachsen regionale Subzentren nach — Stichwort pazifische Herausforderung —, die sich nicht mehr in das geläufige Schema der drei Welten einordnen lassen und die sich der Kontrolle durch die Supermächte zunehmend entziehen (Eßer/Wiemann 1981; Kraus/Lütkenhorst 1984: 5–21; Hofheinz/Calder 1982; Nussbaum 1984). Ein dritter Aspekt, der vor allem aus dem Umkreis von Entwicklungshilfeinstitutionen in die Diskussion eingebracht wurde, ist das Interesse an Kriterien bei der Vergabepraxis von Entwicklungshilfe1. Wenn sich signifikante Unterschiede im Entwicklungsniveau feststellen lassen, woran kann man sie messen und wie sollen sie sich in den Konditionen von Entwicklungshilfe niederschlagen? Ein vierter und hier in erster Linie interessierender Strang der Diskussion bemüht sich um die analytische Klärung des Schwellenländerphänomens. Wie kommt es überhaupt zu nachholender Entwicklung? In diesem Kontext beherrschen neoklassische Autoren das Feld, die in der Exportspezialisierung nach Maßgabe komparativer Vorteile und behaupteter liberaler Außenhandelspolitik die Hauptursache sehen2.
Ulrich Menzel, Dieter Senghaas
Über junge Industrieländer und Schwellenländer in Ostasien
Zusammenfassung
Daß Unterentwicklung und Armut in den Ländern der Dritten Welt fortexistieren, daß sich vermeintliche Sonderfälle der Entwicklung nach einiger Zeit als Normalfälle peripherer Abhängigkeit erweisen, kann etwas theoretisch und politisch ungemein Beruhigendes haben. Der Bedarf an Forschungsaufwand reduziert sich drastisch; Linien der politischen Auseinandersetzung können durchgezogen werden, wo Unterbrechungen angesagt schienen. Vier ostasiatischen Ländern — Taiwan, Südkorea, Hongkong und Singapur — sowie zwei, drei lateinamerikanischen Staaten1 kommt im Felde solcher Debatten herausragender Stellenwert zu. Das für einige von ihnen offenkundige Welken der Blütenträume von marktwirtschaftlicher Modernisierung ist vielfach mit einem herzhaften „Na, also“ kommentiert worden. Die entwicklungskritische Plausibilität dieses Ausrufes kann nicht von vornherein bestritten werden. Die explodierende Außenverschuldung einer ganzen Reihe von Schwellenländern liefert scheinbar den Schlußstein einer Argumentation, die auf das Scheitern des weltmarktorientierten bürgerlichen Entwicklungsweges in der Dritten Welt zielt. — Daß mit der erklärbaren Ausnahme Südkoreas die ostasiatischen sogenannten Schwellenländer in den Listen der Pleitiers überhaupt nicht firmieren, sollte jedoch wenigstens auffallen. Taiwan könnte aus seinen Währungsreserven von 15,7 Mrd. US-$ Ende August 1984 mühelos die gesamte Auslandsschuld — quasi in cash — abbezahlen, von Hongkong und Singapur als Kapitalsammelstellen des Fernen Ostens gar nicht zu reden. Und dennoch erscheint im Gesamtbild die Summe der roten Zahlen ebenso erdrückend wie die Masse des Elends, das bei einem Versuch eines ‚Managements ‘der Krise an der Außenfront neu produziert wird:
„Dieses Scheitern ist weder partiell noch konjunkturell. Es zeigt die Unmöglichkeit eines nationalbörgerlichen Projekts in unserer Epoche. Daraus ziehen wir die Schlußfolgerung, daß sich die nationalbürgerlichen Staaten nicht der Internationalisierung entziehen können, das heißt, daß sie in Kompradorenverhältnisse geraten“ (Amin 1983).
Helmut Asche
Argentinien: Schwellenland auf Dauer?
Zusammenfassung
Der Begriff der Schwelle suggeriert ein Übergangsstadium, folglich, dieser Schluß liegt nahe, handelt es sich bei einem Land, das auf der Schwelle stehenbleibt, um einen Ausnahmefall. Dies ist in der Tat die Ansicht vieler Entwicklungstheoretiker in Bezug auf Argentinien, der sich die seit jeher von ihrer Besonderheit überzeugten Argentinier nur allzu gern anschließen. Dennoch wird man zweifelnd fragen müssen, ob die Entwicklungsbedingungen des Landes so exzeptionell waren, daß sie einen solchen Schluß rechtfertigen. Argentinien erlebte als Exportland von Agrarprodukten zwischen 1880 und 1930 einen außerordentlichen wirtschaftlichen Aufschwung, der ihm eine Zukunft als eine der großen und mächtigen Nationen der Neuen Welt zu versprechen schien. Ab 1950 verfiel es aber in einen Zustand der wirtschaftlichen Stagnation, der von mit wachsender Schärfe geführten sozialen Auseinandersetzungen und politischer Instabilität begleitet war. Im Folgenden soll näher untersucht werden, welches die Hintergründe dieses merkwürdigen Auf-der-Stelle-Tretens sind. Als Anhaltspunkt für die Charakterisierung der Dauerschwellensituation des Landes dient uns das Indikatorenschema von U. Menzel und D. Senghaas zur Bestimmung von Schwellenländern (vgl. Menzel, Senghaas 1984; Bergmann 1983). Es sollen jedoch nicht nur wirtschaftliche Indikatoren erläutert, sondern die mit den wirtschaftlichen Veränderungen verbundenen Verschiebungen des gesellschaftlichen und politischen Kräftegefüges beleuchtet werden. Wenngleich es um den Entwicklungsengpaß Argentiniens im allgemeinen gehen wird, laufen doch viele Argumentationsfäden auf die Jahre 1930–1950 zurück, jene Phase, in der sich die Grenze der Agrarexportwirtschaft als Wachstumsmodell abzeichnete und nolens volens der Übergang zu einem der Industrialisierung mehr Gewicht gebenden Entwicklungsmodell vollzogen wurde. Unsere These lautet, ein Großteil der gegenwärtigen Strukturprobleme des Landes sei damit zu erklären, daß dieser ökonomische Wandel nicht hinreichend durch einen entsprechenden sozialen Konsens abgesichert wurde.
Peter Waldmann

„Entwicklungsstaat“ und „Entwicklungsverwaltung“

Der periphere Staat: Zum Stand der entwicklungstheoretischen Diskussion
Zusammenfassung
Die entwicklungstheoretische Diskussion über den Staat in den unterentwickelten Ländern der Dritten Welt versucht, dessen dominante Rolle in Wirtschaft und Gesellschaft im Hinblick auf Chancen zur Überwindung von Unterentwicklung durch Entwicklungspolitik zu erklären. Von Entwicklungsländern wird erst gesprochen, seit es Entwicklungspolitik gibt. Sie hat als wesentlichen Träger den Staat.
Hartmut Elsenhans
Der Entwicklungsstaat in der Krise
Zusammenfassung
Die zweite große Weltwirtschaftskrise dieses Jahrhunderts hat für das gesamte System der Nord-Süd-Beziehungen tiefgreifende Folgen: Es verstärken sich die Anzeichen, daß sich das im Zuge der Entkolonialisierung unter der Vorherrschaft der Vereinigten Staaten geschaffene internationale Staatensystem an seiner Peripherie grundlegend wandelt. Und zumindest als Arbeitshypothese kann von einem Strukturbruch ausgegangen werden, der sich empirisch an der nicht mehr zu übersehenden Tatsache festmachen läßt, daß eine immer größer werdende Zahl von Staaten der Peripherie „unregierbar“ geworden ist.
Georg Simonis
„Entwicklungsverwaltung“: Wandlungen im Selbstverständnis eines Forschungsbereiches
Zusammenfassung
Im Spektrum der Disziplinen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland mit außereuropäischen Ländern beschäftigen, ist die entwicklungsländerbezogene Verwaltungswissenschaft sicher eine der marginalsten. Dies hat u. E. verschiedene Gründe:
(1)
Die deutsche Verwaltungswissenschaft, die traditionell institutionell-juristisch ausgerichtet ist, hat die Dritte Welt als Untersuchungsobjekt noch nicht systematisch entdeckt.
 
(2)
Auch die Unterdisziplin der „Vergleichenden Verwaltungswissen Schaft“ greift erst in neuerer Zeit auch auf Entwicklungsländer aus (Siedentopf 19761; Wimmer 1983).
 
(3)
Die seit über zwei Jahrzehnten in den U.S.A. erarbeiteten Ergebnisse einer sozialwissenschaftlich geprägten „Comparative Administration“ (vgl. Henderson 1971 als Zwischenbilanz) konnten deshalb bei uns nicht auf ein offenes Rezeptionsklima stoßen2. Lediglich einige Politikwissenschaftler nahmen sich des Themas an, ohne daß sich ein Dialog entwickelt hätte (vgl. Oberndörfer 1981 und den Überblick bei Frey/Schneider 1984).
 
(4)
Auch die sich in den letzten Jahren mehrenden Beiträge von Verwaltungswissenschaftlern aus der Dritten Welt (z. B. Arora 1970, UNESCO 1982) sind bisher noch nicht adäquat gewürdigt und in das Diskussionsfeld integriert worden.
 
Hans F. Illy, Eugen Kaiser

„Entwicklungsdiktatur“ und Bedingungen von Demokratie

Von der „Entwicklungsdiktatur“ zu den Diktaturen ohne Entwicklung — Staat und Herrschaft in der politikwissenschaftlichen Dritte Welt-Forschung
Zusammenfassung
„Jeder Grad an Freiheit wird mit etwas Verlangsamung der Entwicklung, jeder Grad an Beschleunigung mit etwas Verlust an Freiheit bezahlt“ (Löwenthal 1963: 187). Diese Feststellung von Richard Löwenthal aus dem Jahre 1962 fiel in eine Epoche der noch jungen postkolonialen Geschichte vieler Staaten der Dritten Welt, die dadurch gekennzeichnet war, daß an die Stelle der nach westlichem Muster errichteten parlamentarischen Regierungssysteme in zunehmendem Maße autoritäre Ordnungen traten. Die These Löwenthals schien umso mehr an Gewicht zu gewinnen, als die teils gewaltsame, teils unblutige Ausschaltung parlamentarischer Verfassung von den neuen Machthabern mit der Zielsetzung verknüpft wurde, in möglichst kurzer Zeit eine umfassende Modernisierung ihrer Gesellschaften voranzutreiben und die Nationenbildung zu erzwingen. Die parlamentarisch-demokratische Ordnung, die sie als den Inbegriff schwerfälliger und die Korruption begünstigender Entscheidungs- und Implementationsprozesse ansahen, erschien ihnen zur Bewältigung dieser Aufgaben ungeeignet.
Jürgen Rüland, Nikolaus Werz
Zu den Bedingungen von Demokratie in der Dritten Welt
Zusammenfassung
Die Frage nach den Konstitutionsbedingungen demokratischer politischer Systeme zählt zu den zentralsten Anliegen der Politikwissenschaft. Von Aristoteles über Locke, Rousseau und Tocqueville bis hin zu vielfältigen Ausprägungen der Gegenwart ist sie immer neu gestellt, bei näherem Hinsehen stets aber auch nur sehr partiell beantwortet worden. Das ist bei der Komplexität dessen, was alles in den Demokratiebegriff einfließt, auch nicht verwunderlich. Dies beginnt, auf der „Mikro“-Ebene, mit Fragen nach der „demokratischen Persönlichkeit“ (vgl. a. Sniderman 1975, Berg-Schlosser 1982a) und den Prämissen „rationalen Handelns“ (auch im Sinne des Demokratiemodells von Downs 1957). Es setzt sich fort mit Aspekten einer allgemeineren partizipatorischen, toleranten, auf akzeptierten Konfliktregelungsmechanismen ruhenden politischen Kultur (vgl. hierzu auch das „Forum“ der PVS 1980/81) und den auf sie einwirkenden Faktoren. Zu den wesentlichen gesellschaftlichen Grundlagen gehören dann auch Aspekte der Sozialstruktur und ihrer spezifischen Dynamik (vgl. z. B. Moore 1966). Nicht zuletzt Fragen der Produktionsweise, der ökonomischen Verteilungsmechanismen usw. fließen hier ein (nahezu bereits „klassisch“ hierzu auch Schumpeter 1943). Auf der Ebene der „intermediären“ Strukturen stehen die „Pluralität“ der Interessenvermittlung (vgl. a. Dahl 1982), die konkreten Ausprägungen des Parteiensystems (für die westeuropäische Entwicklung grundlegend hierzu insbesondere Lipset, Rokkan 1967) und „neue soziale Bewegungen“ (vgl. z. B. Guggenberger 1980) im Vordergrund.
Dirk Berg-Schlosser

Entwicklungspolitik: Programmentwicklung und Entscheidungsstrukturen

Hemmnisse und Vorbedingungen autonomer Entwicklungspolitik. Eine methodologische Skizze zum politischen Prozeß
Zusammenfassung
Angesichts des Mangels einer stringenten Theorie zur Entwicklung „von unten“ im Sinne einer selbstbestimmt-subsistenzenorientierten Politik, bleibt nur der Ausweg einer „eklektisch-assoziativen Theorievariante“. Im Rahmen dieser Fragestellung, die an anderer Stelle vor dem empirischen Hintergrund Kolumbiens ausführlich erörtert wurde (Moßmann 1984), wird der Stellenwert (marxistischer) Theorie zu klären sein. Es wäre zu fragen, ob Marx für eine emanzipatorisch intendierte Strategie unerläßlich ist. Aus drei Gründen wird hier darauf verzichtet, marxistisch zu argumentieren:
1)
Die meisten Marxisten denken heute revolutionsstrategisch-militaristisch sowie zentralistisch. Beide Denkweisen widersprechen den Intentionen einer Politik, in der dem Volk über ihre Sprecher und selbstbestimmten Organisationsformen bei der Lösung ihrer Alltagsprobleme eine entscheidende Rolle einzuräumen wäre.
 
2)
Meist wird Marx auf der gesamtgesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsebene diskutiert. Es wird so getan, als könnten alle Probleme von diesen Ebenen ausgehend durch Großbürokratien wie z. B. die Staatsapparate gelöst werden. Vergessen wurde, daß Marx auch basisdemokratisch-autonom argumentierte — z. B. im Sinne russischer Ackerbauern1. Aus der Sicht eines solchen Politikverständnisses wäre Marx neu zu lesen, was hier nicht zu leisten ist.
 
3)
Es wird vom Verfasser behauptet, daß keine einzige der vielen marxistischen Sozialbewegungen in der Geschichte Kolumbiens (Meschkat 1980) eine ähnlich qualifizierte Trägerinstitution der Agrarpolitik auf lokaler Ebene geschaffen hat, wie sie die Indios mit ihren Cabildos (Indianerräten) seit Jahrhunderten kennen (Moßmann 1984).
 
Peter Moßmann
Programmentwicklung in der Entwicklungspolitik der Bundesrepublik Deutschland
Zusammenfassung
Unter „Entwicklungspolitik“ wird im folgenden die Gesamtheit der Handlungen verstanden, die auf eine normativ bestimmte Veränderung der Lage der Entwicklungsländer im nationalen und internationalen Bereich abzielt (Klein 1977: 87). Demgegenüber ist „Entwicklungshilfe“ als Teilbereich der Entwicklungspolitik dadurch charakterisiert, daß sie vorfindliche Entwicklung in helfender Absicht unter Verzicht auf adäquate Gegenleistung fördert (ebda.: 19). Diese doch sehr allgemeine Definition läßt sich weiter präzisieren: Ihrem von allen Vergabeinstanzen geteilten Selbstverständnis nach handelt es sich bei Entwicklungshilfe um den Versuch weltweiter Sozialpolitik und Reformen mit dem Ziel größerer sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlichen Wachstums durch den Transfer finanzieller, materieller, personeller und Knowhow-Ressourcen unter dem Marktpreis (Nitsch 1971: 207). Daß mit den Stichworten „Verzicht auf Gegenleistungen“ und „Reform-Absicht“ der Bedeutungsinhalt von Entwicklungshilfe nur partiell abgedeckt wird, ist jedoch offensichtlich. Schon ein flüchtiger Blick auf den entwicklungspolitischen Programmhaushalt (ganz zu schweigen von der entwicklungspolitischen Praxis) lehrt, daß das Ziel der Entwicklungshilfe — Entwicklung als unterentwickelt definierter Gesellschaften — nicht Selbstzweck ist, sondern deshalb verfolgt wird, weil die Entwicklungsländer in Beziehungen zu den Industrieländern gesehen werden und diese sich von der Verfolgung des Ziels Vorteile versprechen. Mit anderen Worten: Entwicklungshilfe ist „Teil der Gesamtpolitik der Regierung. Sie erhält ... ihre entscheidenden Impulse aufgrund nationaler Motivierungen“1.
Klaus Bodemer
Politisch-administrative Strukturen deutscher Entwicklungspolitik
Zusammenfassung
„Entwicklungspolitik nach der Wende“ — so lautet der zeitbedingte Topos in diesem Politikbereich1, dessen thematische Aktualität sich allerdings im Rückblick auf dreißig Jahre deutscher Entwicklungspolitik stark relativiert. Die offen praktizierte ökonomische Ausrichtung deutscher Entwicklungsprojekte, u. a. dokumentiert in der Aufhebung des Grundsatzes der „Lieferungebundenheit“ deutscher entwicklungspolitischer Beiträge, die Einbindung der deutschen Entwicklungspolitik für Mittelamerika in außenpolitische Strategien der USA oder auch die Konflikte des Ministers mit entwicklungspolitischen Durchführungsorganisationen wie beispielsweise dem Deutschen Entwicklungsdienst (DED) stellen eher reaktivierte und reaktualisierte als neuartige Issues dar — aber darin liegt wohl ganz allgemein die Logik der „Wende“.
Manfred Glagow, Uwe Schimank

Nord-Süd-Konflikt: Dritte Welt in der Internationalen Politik

Einheit und Heterogenität — Ansätze zur Erklärung der Blockfreiheit in der Weltpolitik
Zusammenfassung
Als die Bewegung der Blockfreien Länder im März 1984 ihre 7. Gipfelkonferenz in Neu Delhi abhielt, war ihre Mitgliedschaft auf 101 angewachsen und hatte sich gegenüber der 1. Konferenz in Belgrad 1961 vervierfacht. Sie repräsentierte damit knapp die Hälfte der Weltbevölkerung und fast 2/3 der Sitze in den Vereinten Nationen (Matthies 1984 a: 37 ff.). Die Attraktivität der Blockfreien wurde darüber hinaus durch die Anwesenheit von 18 Beobachtern und 28 Gästen (Staaten, Befreiungsbewegungen, internationale Organisationen) unterstrichen.
Peter Meyns
Die Vereinten Nationen als Forum der Dritten Welt
Zusammenfassung
Die vorgegebene Themenstellung erwies sich als zu umfassend, um mehr als nur eine allgemeine „tour d’horizon“ über die Rolle der Dritten Welt in den Vereinten Nationen leisten zu können. Wichtige Themen, wie z. B. Abrüstung, Menschenrechte, Seerecht, Umwelt, Wissenschaft und Technologie bleiben ebenso unberücksichtigt wie die Position der Dritten Welt auf den zahlreichen Sonderkonferenzen, die vor allem in den 70er Jahren stattfanden (zum Stellenwert der globalen Konferenzdiplomatie vgl. Rittberger 1983), sowie in den Sonderorganisationen des VN-Systems (etwa im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Krise in der UNESCO oder die Rolle der Entwicklungsländer im IMF und in der Weltbank-Gruppe).
Klaus Hüfner
Kriege in der Dritten Welt: Zur Entwicklung und zum Stand der Forschung
Zusammenfassung
Nach je unterschiedlichen Definitionen, Kriterien, Datensätzen und Untersuchungszeiträumen hat es seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine Vielzahl von „Kriegen“ gegeben, die größtenteils außerhalb Europas ausgetragen wurden (Leitenberg 1977). Folgt man der als zuverlässig geltenden Kriegsliste von Kende/Gantzel/Fabig, so fanden zwischen 1945 und 1982 insgesamt 148 inner- und zwischenstaatliche Kriege statt, davon nur eine verschwindend geringe Anzahl in Europa (Kende 1982 a). Während vor dem Zweiten Weltkrieg „Europa das Epizentrum fast aller wichtigen und besonders der weltpolitisch wichtigen Kriege“ war, wurde nach 1945 „der Hauptschauplatz der Kriege unserer Zeit ... die sogenannte Dritte Welt, ...“ (ebd.: 9). Die Menschenverluste all dieser Kriege schätzt I. Kende (bis 1976) auf ca. 25 Millionen. Zahlreiche dieser Kriege dauerten Jahre, verheerten ganze Landstriche, brachten vielfältiges menschliches Leid mit sich und führten in manchen Fällen auch zu gefährlichen internationalen Spannungen. Über die derzeit anhaltenden Dutzende von Kriegen hinaus sagen verschiedene Prognosen für die kommenden Jahre eine weitere Zunahme inner-und zwischenstaatlicher Kriege in der Dritten Welt voraus (Deutsch 1980: 67 ff.).
Volker Matthies
Bretton Woods vierzig Jahre danach: Leistungen und Defizite von IWF und Weltbank
Zusammenfassung
Wenn vierzig Jahre nach der Gründung der Bretton-Woods-Institutionen und der Geburt der gegenwärtigen Weltwirtschaftsordnung jeder fünfte Erdbewohner in absoluter Armut lebt, muß dies offensichtlich als eine Krise der Entwicklung begriffen werden. In das Bewußtsein einer breiteren internationalen Öffentlichkeit rückte vor allem eine Erscheinungsform dieser Krise, die Schuldenkrise der Dritten Welt. Beide Krisentypen sind ihrerseits nur ausschnitthafte Erscheinungsformen der Krise der kapitalistischen Weltgesellschaft — einer Weltgesellschaft, die sich unter maßgeblicher Mitwirkung von IWF und Weltbank (sowie GATT) seit dem Zweiten Weltkrieg — unter der Hegemonie der USA — zu einem durch wechselseitige Abhängigkeiten und Verwundbarkeiten gekennzeichneten, festen systemischen Reproduktionszusammenhang zwischen Industrie- und Entwicklungsländern zusammengefügt hat, politisch vermittelt durch eine Hierarchie kooperativer Staatsgewalten (Tetzlaff 1981).
Peter Körner, Gero Maaß, Thomas Siebold, Rainer Tetzlaff

Bilanz der politikwissenschaftlichen Regionalforschung

Afrika. Utopia oder Abstellgleis der Politischen Wissenschaft?
Zusammenfassung
Ausnahmsweise sei eine persönliche Erinnerung als Einstieg in einen Diskussionsbeitrag gestattet, der sich um Sachlichkeit bemüht. Als ich Mitte der 60er Jahre vom Friedrich-Meinecke-Institut (dem heutigen Fachbereich Geschichtswissenschaften) zum Otto-Suhr-Institut der FU Berlin (dem heutigen Fachbereich Politische Wissenschaft) hinüberwechselte, weil von beiden nur das OSI gewillt war, den Bereich „Dritte Welt“ zu etatisieren, nahm einer der damaligen Groß-Ordinarien des OSI mich ins Gebet. Er wolle mir ja keineswegs mein Interesse an Afrika austreiben, grollte er aus dem Lehnstuhl seines Arbeitszimmers, und sich ganz bestimmt nicht bei meiner geplanten Habilitation querlegen, die im Wortlaut der venia legendi irgendwie das Wort „Afrika“ enthalten sollte. Aber für die Politische Wissenschaft an der deutschen Universität, jetzt mühsam nach den Verheerungen der Nazizeit wieder als respektable Disziplin aufgerichtet (daran hatte mein Gesprächspartner ein gerüttelt Maß rühmlichen Anteils), und besonders für die akademische Lehre sei Afrika doch ein exotisches Abstellgleis. Er könne sich wohl ein Max-Planck-Institut für Forschung über die Dritte Welt vorstellen, und in diese Richtung solle ich auf Dauer streben; aber eine Afrika-Professur? Die Studenten sollten etwas anständiges über das Regierungssystem ihres eigenen Staates lernen, und von der Universität für den wissenschaftlichen Vergleich mit den großen Modellen ausgerüstet werden, wie sie in den USA, der UdSSR, in England und vielleicht noch Frankreich oder der Schweiz praktiziert werden. In Afrika-Seminaren würden sie sich nur verzetteln.
Franz Ansprenger
Die Entdeckung des Nahen Ostens durch die deutsche Politikwissenschaft
Zusammenfassung
Innerhalb der deutschen orientbezogenen Gesellschaftswissenschaften hat die Politikwissenschaft jahrzehntelang eher die Rolle eines Randseiters gespielt. Auf sprach-, literatur-, religions- oder geschichtswissenschaftlichem Terrain hat die deutsche Orientforschung immer wieder international beachtete Spitzenleistungen erzielen können; ähnliches gilt für die Geographie und die Agrarwissenschaften. Nicht so auf dem Gebiet der Politikwissenschaft: Man geht kaum fehl, dabei Zusammenhänge mit dem politisch eher zurückhaltenden Engagement der Bundesrepublik im Nahen Osten zu vermuten. Im folgenden skizzieren wir zunächst Anfänge und Entwicklung deutscher politikwissenschaftlicher Beschäftigung mit Problemen des modernen Vorderen Orients und setzen uns dann mit ausgewählten Fragestellungen, Ansätzen und Richtungen auseinander.
Friedemann Büttner, Thomas Scheffler, Gerhard Weiher
Politikwissenschaftliche Lateinamerika-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland
Zusammenfassung
Wie weit hat es die junge deutsche politikwissenschaftliche Lateinamerika-Forschung eigentlich gebracht? Kann sie nach eineinhalb Jahrzehnten Gedeihens noch immer als unterentwickelt angesehen werden (Lindenberg 1971: 7)? Ist es unverändert berechtigt, ihr das Etikett „rückständig“ zu verpassen (so Puble, in: Lindenberg 1982: 11)? Niemand wird leugnen wollen, daß es in den zurückliegenden Jahren zugleich mit der Expansion des Faches Politikwissenschaft zu einem Aufschwung der politologischen Forschung zu Lateinamerika gekommen ist. Quantitativ belegen dies die Vielzahl wissenschaftlicher Publikationen und das in ihnen angesammelte sozialwissenschaftliche Wissen zu einer Region, zu der vorher praktisch kein politologisches Schrifttum aus deutscher Feder existierte. Doch wo steht die deutsche politikwissenschaftliche Lateinamerika-Forschung heute? Konnte sie in der Tat mit der Entwicklung des Faches insgesamt nicht Schritt halten? Klaffen Stand und Möglichkeiten erheblich auseinander (so Mols 1982: 13)?
Dieter Nohlen
Backmatter
Metadaten
Titel
Dritte Welt-Forschung
herausgegeben von
Prof. Dr. Franz Nuscheler
Copyright-Jahr
1985
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-663-00165-2
Print ISBN
978-3-663-00016-7
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-663-00165-2