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2019 | Buch

Erzählen über Gesellschaft

Eingeleitet und herausgegeben von Reiner Keller

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Über dieses Buch

Howard S. Becker zählt zu den wichtigsten US-amerikanischen Soziologen der Gegenwart. Sein umfangreiches Werk umspannt weit mehr als ein halbes Jahrhundert und steht in der Tradition der interaktionistischen und interpretativen Soziologie, wie sie an der University of Chicago in den 1920er Jahren begründet wurde. Becker hat nicht nur höchst einflussreiche Schriften u.a. zur soziologischen Methodologie, zur Soziologie der Professionen, des Abweichenden Verhaltens und der Kunst vorgelegt, die allesamt zu Klassikern wurden, sondern gehört auch zu den frühen Pionieren und Wegbereitern der soziologischen Auseinandersetzung mit visuellen und anderen künstlerischen Ausdrucksformen. Der vorliegende Band präsentiert nun zum ersten Mal in deutscher Sprache seine umfassenden vergleichenden Reflexionen dazu, was das soziologische „Erzählen über Gesellschaft“ mit anderen, künstlerischen Erzählformaten gemeinsam hat - und was es davon unterscheidet. Sein leidenschaftliches Plädoyer für eine präzise Soziologie verbindet sich darin disziplinüberschreitend mit einer anregenden Diskussion von künstlerischen Formen der Darstellung gesellschaftlicher Phänomene und den vielfältigen Möglichkeiten, die sich daraus auch für die soziologische Phantasie ergeben, ihre Erzählungen über Gesellschaftliches nicht nur diesseits, sondern vor allem auch jenseits ihrer kanonisierten Formate vorzustellen.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter

Ideen

Frontmatter
Kapitel 1. Erzählen über Gesellschaft
Zusammenfassung
Ich wohne seit vielen Jahren in San Francisco, am unteren Hang von Russian Hill oder im oberen Bereich von North Beach. Wie ich die Gegend beschreibe, richtet sich danach, wen ich beeindrucken möchte. Ich wohne in der Nähe von Fisherman‘s Wharf, an der Strecke, die viele Leute dazu benutzen, um von dieser Touristenattraktion zu ihrem Motel in der Innenstadt oder zur „Motelmeile“ an der Lombard Street zu gelangen.
Howard S. Becker
Kapitel 2. Repräsentationen der Gesellschaft als Produkt von Organisationen
Zusammenfassung
Wer Tatsachen über die Gesellschaft sammelt und interpretiert, fängt nicht bei jedem Bericht ganz von vorne an. Man verwendet Formen, Methoden und Ideen, die bei dieser oder jener gesellschaftlichen Gruppe – groß oder klein – bereits für solche Zwecke zur Verfügung stehen.
Howard S. Becker
Kapitel 3. Wer macht was?
Zusammenfassung
Repräsentationen entstehen in einer Welt kooperierender Macher und Nutzer. Die Arbeit des Erzeugens von Repräsentationen wird zwischen mehreren Arten von Machern sowie zwischen Machern und Nutzern aufgeteilt. Wer leistet welche Arbeit, wenn für eine Repräsentation die vier weiter oben aufgeführten Arten erforderlich sind? Was die Macher nicht tun, muss von den Nutzern getan werden, wenn eine Repräsentation mehr oder weniger zur Zufriedenheit aller erzeugt und kommuniziert werden soll.
Howard S. Becker
Kapitel 4. Die Arbeit der Nutzer
Zusammenfassung
Manche Repräsentationen des gesellschaftlichen Lebens fordern, dass ihre Nutzer viel Arbeit leisten. Wie viele Nutzer haben aber die dazu erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten? Was geschieht, wenn sie es nicht können oder wollen? Wie gehen die Macher der Repräsentationen mit den unterschiedlichen Fähigkeiten der Nutzer um? Was tun die Macher, wenn Nutzer keine Lust zu der Arbeit haben, die für Berichte erforderlich ist?
Howard S. Becker
Kapitel 5. Standardisierung und Innovation
Zusammenfassung
Eine Bestandsaufnahme ist angezeigt. Repräsentationen sind Produkte von Organisationen. Die Organisationen und Gemeinschaften, die sie machen und nutzen, teilen die Arbeit des Auswählens, des Übersetzens, des Anordnens und des Interpretierens unter den Machern und Nutzern auf verschiedene Weise auf. Wir können die Art und Weise, wie das geschieht, nie als selbstverständlich voraussetzen, denn die Arbeitsteilung verändert sich laufend.
Howard S. Becker
Kapitel 6. Einzelheiten zusammenfassen
Zusammenfassung
Jede Art der Darstellung von Wissen über die Gesellschaft reduziert die Daten, mit denen Nutzer sich befassen müssen. Latour (1987: 234ff.) bezeichnet das als den Vorgang, Beschreibungen (n+1)ter Ordnung zu erzeugen, also Kombinationen detaillierter Beschreibungen, die mehr Platz einnehmen. Die Kombinationen stehen für das Ganze wie eine Gleichung für alle Zahlenkombinationen steht, die ihren Anforderungen genügen. Bei Umfragen erfassen die Interviewer nur sehr wenig von dem, was sie über die Befragten erfahren.
Howard S. Becker
Kapitel 7. Wirklichkeitsästhetik
Zusammenfassung
Zweimal habe ich an der Northwestern University zusammen mit Dwight Conquergood einen Kurs gegeben, der „Performing Social Science“ hieß. Wir wollten die Möglichkeiten untersuchen, sozialwissenschaftliche Ideen mit öffentlichen Vorführungen zu kommunizieren statt mit einem routinemäßig gelehrten „Vortrag“. Zwanzig unserer Studenten kamen aus Dwights Institut Performance Studies und dessen Nachbarbereich Theater, und die andere Hälfte kam aus der Sozialwissenschaft, zumeist aus der Soziologie.
Howard S. Becker
Kapitel 8. Die Moralität der Repräsentation
Zusammenfassung
Die Repräsentation der Gesellschaft wirft moralische Fragen für Teilnehmer, Macher und Nutzer auf, die in verschiedenen Varianten auftreten: die Missrepräsentation als etwas moralisch Verwerfliches; die Art und Weise, wie übliche Darstellungstechniken unsere moralischen Urteile prägen; die damit verwandten Fragen der Zuschreibung von Lob und Tadel für die Ergebnisse des Handelns und der Teilnahme an sozialem Handeln als Helden und Bösewichte.
Howard S. Becker

Beispiele

Frontmatter
Kapitel 9. Parabeln, Idealtypen und mathematische Modelle
Zusammenfassung
Normalerweise wollen wir, dass Berichte über die Gesellschaft sachlich korrekt sind und uns etwas Wahres mitteilen, das wir vorher noch nicht wussten. Nutzer legen gewöhnlich ziemlich großen Wert darauf, dass eine Repräsentation der Wahrheit entspricht, gleich, ob sie in künstlerischer oder wissenschaftlicher Form vorgelegt wird. Diese verallgemeinernde Aussage hat aber drei wichtige Ausnahmen. Bei drei Arten von Gesellschaftsanalyse erwarten wir nicht oder wollen wir nicht die Wahrheit.
Howard S. Becker
Kapitel 10. Diagramme: Mit Zeichnungen denken
Zusammenfassung
Der Technikhistoriker Eugene S. Ferguson betonte in seinem aufschlussreichen Artikel The Mind‘s Eye: Nonverbal Thought in Technology (Ferguson 1977) die visuellen Komponenten des Denkens. Er zeigte darin, wie Technikentwickler und Wissenschaftler Bilder und Diagramme statt Wörter und Zahlen benutzen, um Ideen und Möglichkeiten darzustellen. Schon lange haben Erfinder und Ingenieure Bilder verwendet um zu durchdenken, wie Maschinen arbeiten, und sie haben sich gegenseitig ihre Ergebnisse in bildlicher Form vorgestellt.
Howard S. Becker
Kapitel 11. Visuelle Soziologie, Dokumentarfotografie und Fotojournalismus
Zusammenfassung
Repräsentationen der Gesellschaft werden in sozialen Organisationen erstellt und genutzt, und wir verstehen sie auch am besten in diesem Zusammenhang. In diesem Kapitel wird am Beispiel der Fotografie gezeigt, wie derselbe Gegenstand – in diesem Fall dasselbe Foto – in Bezug auf verschiedene Organisationszusammenhänge verschiedene Bedeutungen haben kann. Wir werden die Merkmale dieser Zusammenhänge hier näher erläutern.
Howard S. Becker
Kapitel 12. Drama und Vielstimmigkeit: Shaw, Churchill und Shawn
Zusammenfassung
Wollen wir die Stimmen und Standpunkte nur mancher oder aller Teilnehmer in unsere Repräsentationen der sozialen Situationen einbeziehen, die wir untersuchen? Viele Soziologen denken, dass wir uns für einen kohärenten und glaubhaften Bericht des gesellschaftlichen Lebens mit den Bedeutungen befassen müssen, die Akteure den Objekten, den anderen Menschen, ihren eigenen Aktivitäten und denen anderer Menschen verleihen. Wenn wir von Bedeutungen sprechen, sprechen wir von Stimmen, denn Bedeutungen entstehen durch Interaktion, und Interaktion besteht zu einem großen Teil aus Gesprächen, aus den Stimmen wirklicher Menschen, die miteinander sprechen.
Howard S. Becker
Kapitel 13. Goffman, Sprache und die Strategie des Vergleichs
Zusammenfassung
In diesen letzten vier Kapiteln des Buches wende ich ein anderes Prinzip an. Ich beschäftige mich detailliert mit einigen klassischen Werken der Beschreibung und Analyse gesellschaftlicher Phänomene, die den bisher im Buch dargestellten Ideen entsprechen. Dieses Kapitel untersucht einen soziologischen Klassiker, während die letzten drei Kapitel Autoren literarischer Werke behandeln.
Howard S. Becker
Kapitel 14. Jane Austen: Der Roman als Gesellschaftsanalyse
Zusammenfassung
Jane Austens Stolz und Vorurteil beginnt mit dem bekannten Satz: „Es ist eine allgemein anerkannte Wahrheit, daß ein alleinstehender Mann, der ein beträchtliches Vermögen besitzt, einer Frau bedarf.“ (Austen 2009: 6).
Howard S. Becker
Kapitel 15. Georges Perec und seine Experimente mit Gesellschaftsbeschreibungen
Zusammenfassung
Der französische Schriftsteller Georges Perec experimentierte mit verschiedenen literarischen Formen – von mehr oder weniger standardförmigen Romanen bis hin zu Kreuzworträtseln. In englischsprachigen Ländern ist er wahrscheinlich am besten bekannt durch seinen massiven „experimentellen“ Roman Das Leben Gebrauchsanweisung (La Vie mode d‘emploi; Perec 1987), ein gewaltiges Panorama miteinander verknüpfter Geschichten. Man wird ermutigt, wenn nicht sogar dazu verpflichtet, sie in einer der vielen möglichen Reihenfolgen zu lesen. Der Roman kann daher aus heutiger Sicht als eine frühe, nicht computergestützte Version von Hypertext angesehen werden (siehe Joyce 1995).
Howard S. Becker
Kapitel 16. Italo Calvino, Stadtforscher
Zusammenfassung
Perecs soziologische Experimente haben viel mit konventioneller Soziologie gemeinsam. Obwohl sie eindeutig literarische Werke sind, sehen sie eher aus als hätte (ein fantasievoller) Soziologe sie geschaffen. Jane Austens Romane erzählen zwar eine Geschichte, wie man es in Romanen gewohnt ist, zeigen uns aber ebenso deutlich und ausführlich eine Lebensweise mit demselben generalisierten Verständnis, das wir in anthropologischen oder soziologischen Monografien vorfinden. Bei Italo Calvino ist es anders. Seine späteren Werke – so Avantgarde in Absicht und Ausführung – täuschen nicht vor, die getreue Beschreibung irgendeiner gesellschaftlichen Organisation oder Situation zu sein, und sie liefern nicht einmal die Hintergrundgeräusche, die Perec zu seiner Spezialität machte.
Howard S. Becker
Backmatter
Metadaten
Titel
Erzählen über Gesellschaft
verfasst von
Howard S. Becker
Copyright-Jahr
2019
Electronic ISBN
978-3-658-15870-5
Print ISBN
978-3-658-15869-9
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-15870-5