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2013 | Buch

Handbuch Humanitäre Hilfe

herausgegeben von: Jürgen Lieser, Dennis Dijkzeul

Verlag: Springer Berlin Heidelberg

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Über dieses Buch

Menschen, die infolge von Gewaltkonflikten oder Naturkatastrophen in eine humanitäre Notlage geraten sind, benötigen Hilfe. Diese ethische Selbstverständlichkeit hat mit der Gründung des Roten Kreuzes vor mehr als 150 Jahren einen institutionellen Rahmen bekommen.
Seitdem ist die humanitäre Hilfe, also das organisierte und professionelle Helfen in humanitären Krisen und Katastrophen, stark gewachsen. Humanitäre Organisationen sind fast weltweit aktiv.
In der Praxis erweist sich die humanitäre Hilfe als eine große Herausforderung. Hilfsorganisationen stehen unter einem hohen Erwartungs- und Zeitdruck: Sie sollen schnell, effektiv und reibungslos Hilfe zum Überleben leisten. Die Hilfe soll unparteiisch, neutral und nachhaltig sein und sich allein an den Bedürfnissen der betroffenen Menschen orientieren. Staatliche Geber, private Spender und auch die Hilfeempfänger verlangen Rechenschaft über den sinnvollen Einsatz der Hilfsgelder.
Seit Jahren nehmen Naturkatastrophen in Zahl und Umfang zu. Gewaltkonflikte entwickeln sich zu chronischen Krisen mit einer Kriegswirtschaft, die es schwieriger macht, die Betroffenen zu unterstützen. Die Helferinnen und Helfer sehen sich konfrontiert mit zunehmend komplexeren Notlagen, divergierenden Geberinteressen, politischer Einflussnahme und konkurrierenden Hilfsangeboten. Sie geraten zwischen die Fronten und werden Opfer von gewaltsamen Übergriffen. Auch Missbrauch und politische Instrumentalisierung kommen vor.
Dieses Buch trägt zu einem besseren Verständnis von humanitären Krisen und ihren Folgen bei. Es zeigt, wie sich die humanitäre Hilfe in einem internationalen System entwickelt hat und wie die verschiedenen Akteure ihre Rolle definieren und ausfüllen. Es zeigt auch, wie schwierig es ist, dem hohen ethischen Anspruch an unparteiische und von politischen Interessen unabhängige Hilfe gerecht zu werden.
Die Autorinnen und Autoren – Vertreter von Hilfsorganisationen und Wissenschaft – zeigen aus unterschiedlichen Perspektiven auf, wie humanitäre Hilfe zwischen Anspruch und Wirklichkeit versucht, dem weltweit wachsenden Hilfebedarf gerecht zu werden.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
1. Einführung
Zusammenfassung
In der Einführung wird dargelegt, warum erstmals ein Handbuch zur Theorie und Praxis der humanitären Hilfe vorgelegt wird. Die humanitäre Hilfe ist als eigenständiger Forschungsgegenstand in Deutschland bisher kaum im Blick. Allenfalls als Randdisziplin der Entwicklungspolitik findet sie Beachtung. Neben diesem „Forschungsdefizit” gibt es bisher auch wenig Austausch zwischen Theorie und Praxis; Grundsatzfragen der humanitären Hilfe werden in der Regel in geschlossenen Expertenkreisen diskutiert. Das Buch dient dazu, diese Lücken schließen.
Die Notwendigkeit eines Handbuchs wird auch damit begründet, dass die Rahmenbedingungen für die humanitäre Hilfe komplexer und schwieriger und die Herausforderungen an die Akteure größer geworden sind. Eine kritische Auseinandersetzung mit den beabsichtigten und unbeabsichtigten Wirkungen des eigenen Handelns ist daher unerlässlich. Das Buch richtet sich vorrangig an Mitarbeiter in staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen der humanitären Hilfe, aber auch an interessierte Journalisten, Politiker, Studierende und Wissenschaftler.
Das Buch ist in enger Zusammenarbeit zwischen Theorie und Praxis entstanden. Die Autorinnen und Autoren bringen umfangreiche eigene Arbeitserfahrungen und Forschungsexpertise in der humanitären Hilfe ein. Die Herausgeber verbinden damit die Erwartung, den Austausch zwischen wissenschaftlicher Analyse und praktischer Erfahrung zu intensivieren.
Jürgen Lieser, Dennis Dijkzeul

Theorie und Grundlagen

Frontmatter
2. Was ist humanitäre Hilfe?
Zusammenfassung
Das Kapitel führt in den Gegenstand des Handbuchs und die damit zusammenhängenden Aspekte und Problemstellungen ein. Humanitäre Hilfe kann, wie gezeigt wird, eng oder weitgefasst definiert werden. Allerdings gerät eine umfassende Definition, die auch Rehabilitation und Wiederaufbau, Schutz und Unterstützung sowie Katastrophenvorsorge einschließt, in Widerspruch zu den humanitären Prinzipien, weil diese nach allgemeinem Verständnis nur für die unmittelbare Nothilfe anwendbar sind. Neben einer Definition von humanitärer Hilfe im engeren und weiteren Sinne wird eine Einordnung in den Kontext von Katastrophenszenarien und humanitären Krisen vorgenommen. Die humanitäre Hilfe wird in ihrer operativen Dimension beschrieben als organisiertes Handeln, das materielle Hilfen und Dienstleistungen bereitstellt, die aber in einem weiteren Verständnis auch Wiederaufbau und Rehabilitation, Koordination, Schutz und Unterstützung, Katastrophenvorsorge und -vorbeugung umfasst. Das humanitäre System mit seinen Akteuren, Zielen und Verfahren wird vorgestellt, ebenso wie der ethisch/normative Rahmen und das Spannungsfeld zwischen Normen und Praxis. Abgeschlossen wird das Kapitel schließlich mit aktuellen und neuen Herausforderungen und Trends in der Entwicklungs-, Außen- und Sicherheitspolitik, die sich auch auf die humanitäre Hilfe auswirken, sowie mit der Frage nach der Sinnhaftigkeit des humanitären Engagements.
Jürgen Lieser
3. Alles Brüder? Eine kurze Geschichte der humanitären Hilfe
Zusammenfassung
Die Geschichte der humanitären Hilfe ist sowohl von Erfolgen als auch von folgenschweren Misserfolgen geprägt. Sie ist eine Geschichte des Missbrauchs ebenso wie der problematischen Fehlurteile – und vor allem auch eine Geschichte, die das Schicksal der Opfer der Konflikte und Katastrophen widerspiegelt. Die Geschichte der modernen humanitären Hilfe beginnt mit Henry Dunant, der Gründung des Internationalen Roten Kreuzes und der Genfer Abkommen in den 1860er Jahren. Während der Erste Weltkrieg trotz aller Grausamkeiten auch einen großen Erfolg der Rotkreuz-Idee darstellte, zeigte die Hungerkatastrophe Anfang der 1920er Jahre in der Sowjetunion, dass humanitäre Hilfe nie in einem Zustand der Unschuld nur dem Wohle Not leidender Menschen dient: Lenin versuchte, die internationale Hilfe für seine politischen Ziele einzuspannen – und hatte Erfolg. Diese Erfahrung sollte sich in den folgenden Jahrzehnten und dann bis heute regelmäßig wiederholen.
Nazi-Deutschland, der sowjetische Gulag, China unter Mao – die internationalen humanitären Organisationen waren abwesend. Biafra, Kambodscha, Äthiopien und Afghanistan waren prägende Stationen in den Jahren des Kalten Krieges. Obwohl humanitäre Organisationen Hunderttausende von entkräfteten Flüchtlingen das Leben retteten, waren Missbrauch und politische Manipulation ebenso Teil der Erfahrung.
Mit dem Ende des Kalten Krieges allerdings änderte sich das politische Umfeld erheblich: Die Regierungen entdeckten das Feld der „humanitären Politik“ für sich und setzten mehr und mehr humanitäre Rhetorik, aber auch Hilfsprogramme direkt zur Unterstützung politischer Ziele ein. Als Beispiele dienen der Völkermord in Ruanda und die Katastrophe in den Flüchtlingslagern danach und die Balkankriege – schwerste Bewährungsproben auch für die humanitären Organisationen.
Ulrike von Pilar
4. Das Mandat der humanitären Hilfe: Rechtsgrundlagen und Prinzipien
Zusammenfassung
Die Staatengemeinschaft hat sich auf bestimmte Rechte und Pflichten, Garantien, Verbürgungen und Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Leistung von humanitärer Hilfe geeinigt. Sie hat dies vergleichsweise detailliert getan für die Leistung humanitärer Hilfe in bewaffneten Konflikten und hier sowohl für internationale als auch für nicht-internationale Konflikte einen Mindestschutz für Hilfsoperationen und Hilfspersonal festgelegt. Grundlage dieser Regeln sind das Axiom der Menschlichkeit und die Grundsätze der Neutralität und Unparteilichkeit der Leistung humanitärer Hilfe.
Für humanitäre Hilfe in Natur- und technischen Katastrophen fehlt bisher ein vergleichbarer Rechtsrahmen. Hier besteht die Erwartung, dass aus bestehenden internationalen Richtlinien verbindliche Rechtsregeln in der Zukunft entstehen werden.
Heike Spieker

Das humanitäre System

Frontmatter
5. Das internationale humanitäre System und seine Akteure
Zusammenfassung
Das aktuelle System der internationalen humanitären Hilfe hat sich stufenweise als Reaktion auf sehr verschiedene Formen humanitärer Krisen entwickelt. Es ist sehr stark fragmentiert und funktioniert weitgehend dezentralisiert. Dieses Kapitel erklärt das internationale (Nicht-)System aus einer akteurszentrierten Perspektive. Im Folgenden werden die Hauptakteure und ihre Beziehungen zueinander beschrieben. Es werden 1) die Hilfsleistungen der Bevölkerung in den Krisengebieten sowie 2) die humanitären Maßnahmen der Empfängerstaaten, 3) der Geberregierungen, insbesondere der USA und der Europäischen Union, 4) der Vereinten Nationen, 5) der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung und 6) der Nichtregierungsorganisationen analysiert. Zudem werden weitere Akteure, wie z. B. Migrantenorganisationen und das Militär, und ihre unterschiedlichen Interpretationen humanitärer Hilfe vorgestellt. Im Anschluss werden die wichtigsten Akteure humanitärer Hilfe in einer Typologie miteinander verglichen und die Finanzierung des Systems dargestellt. Abschließend werden die schwache Institutionalisierung, die Instrumentalisierung humanitärer Hilfe und die Debatte über Reformmodelle beschrieben.
Dennis Dijkzeul, Dieter Reinhardt
6. Alte und neue staatliche Geber: Auf dem Weg zu einem universellen humanitären System?
Zusammenfassung
Die globalen Machtverschiebungen zwischen dem Westen auf der einen Seite und Asien, Lateinamerika und Teilen Afrikas auf der anderen Seite haben die humanitäre Hilfe erfasst. Gelder für Nothilfeoperationen kommen nicht länger nur aus Nordamerika und Europa. Mit Brasilien, Indien, Saudi-Arabien und der Türkei als neue humanitäre Geber wandelt sich die humanitäre Hilfe von einem westlich dominierten zu einem globalen System. Ein konstruktiver Austausch, Kooperation und Koordination zwischen alten und neuen staatlichen Gebern kommt allerdings nur langsam in Gang, da Vorurteile den Diskurs weitgehend prägen. Wer genauer hinsieht, bemerkt jedoch, dass die wesentlichen normativen Konfliktlinien – wie etwa die Frage, ob humanitäre Hilfe rein von den Prinzipien der Menschlichkeit, Neutralität, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit geleitet werden sollte oder auch als Instrument zur Durchsetzung politischer Interessen genutzt werden kann – nicht entlang der Grenzen zwischen alten und neuen Gebern verlaufen. Vielmehr ziehen sie sich quer durch beide Gruppen. Das Kapitel analysiert das Verhalten von einigen traditionellen Gebern (USA, Europäische Kommission, England, Frankreich und Schweden) und neuen Gebern (u. a. Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Indien, Brasilien, China und die Türkei). Es diskutiert ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede bezüglich eingesetzter Ressourcen, verfolgter Ziele und zugrunde liegender Normen. Auf dieser Grundlage skizziert das Kapitel Trends für das humanitäre System der Zukunft.
Andrea Binder, Alexander Gaus, Claudia Meier
7. Die deutsche humanitäre Hilfe
Zusammenfassung
Deutschland ist durch das vielfältige Engagement staatlicher und nicht-staatlicher Akteure sowie durch ein erhebliches Aufkommen an finanziellen Mitteln durch die Bundesregierung und, insbesondere im Falle von Großkrisen, auch private Spender ein wichtiger Akteur der humanitären Hilfe. Veränderungen der globalen Rahmenbedingungen, Weiterentwicklungen in der internationalen humanitären Hilfe, Analysen der internationalen und der deutschen humanitären Hilfe und die Zuständigkeitsveränderungen in der humanitären Hilfe der Bundesregierung im Jahr 2011 geben den Anlass, zu betrachten, wie die deutsche humanitäre Hilfe weiterentwickelt werden kann. Das Kapitel stellt die deutsche humanitäre Hilfe mit ihren Akteuren, Zielen und Verfahren vor. Es analysiert, wie die deutschen Akteure auf nationaler und internationaler Ebene zusammenarbeiten und welche Bedeutung die deutsche humanitäre Hilfe in der Welt hat. In einem Ausblick wird aufgezeigt, wie sich die deutsche humanitäre Hilfe weiterentwickeln sollte, um für die Herausforderungen der globalen Entwicklungen und humanitären Krisen besser gerüstet zu sein.
Lioba Weingärtner, Ralf Otto
8. Almosenempfänger oder selbstbewusste Akteure? Die Rolle der lokalen Partner
Zusammenfassung
Die Bedeutung und Rolle der lokalen Partner wird, wenn von den Akteuren der humanitären Hilfe die Rede ist, oftmals kaum angemessen gewürdigt. Dabei sind es die lokalen Hilfestrukturen, die bei Akutkatastrophen in den ersten Stunden und Tagen Soforthilfe leisten, lange bevor die ersten nationalen und internationalen Helfer vor Ort eintreffen. Deshalb ist die Unterstützung und Stärkung lokaler Partnerorganisationen nicht nur ethisch und nach dem Subsidiaritätsprinzip geboten, sondern auch im Sinne einer schnellen und nachhaltigen Katastrophenhilfe sinnvoll. Der Beitrag plädiert für eine bessere Einbeziehung und Stärkung der mit der lokalen Kultur vertrauten Akteure, verschweigt aber nicht, dass damit auch Risiken verbunden sind – z. B. mangelnde Professionalität, Parteilichkeit in Konfliktsituationen, Anfälligkeit für Korruptionsrisiken. Auch vor einer Idealisierung des Verhältnisses zwischen Nord- und Südpartnern („Zusammenarbeit auf Augenhöhe“) wird gewarnt.
Oliver Müller
9. Humanitäre Hilfe – für wen?
Zusammenfassung
Das Kapitel beschäftigt sich mit den Opfern von Krisen und Konflikten bzw. den Adressaten von humanitären Hilfsmaßnahmen. Dabei wird die Bedeutung eines zielgruppenorientierten Ansatzes unterstrichen, der es ermöglicht, unter Einbezug der Rezipienten deren unterschiedliche Bedürfnisse zu erkennen, Mitbestimmung zu gewährleisten und bedarfsgerechte Hilfe zu leisten. Gender, als wichtiges Querschnittsthema in der humanitären Hilfe, wird dabei als Fallbeispiel herangezogen. Mit dem Gender-Mainstreaming-Ansatz wurde den internationalen Standards gemäß eine gendersensible Herangehensweise in der humanitären Hilfe verankert. Die Gender-Perspektive sowie eine differenzierte Zielgruppenorientierung stellen Qualitätssicherungsinstrumente der humanitären Hilfe dar, die kontinuierliche Weiterentwicklung und konsequente Umsetzung erfordern.
Katharina Behmer
10. Humanitäre Hilfe und Medien
Zusammenfassung
In diesem Kapitel geht es um die Rolle der Medien in der humanitären Hilfe und um das Zusammenspiel von Medien und humanitären Akteuren bei der Katastrophenberichterstattung und der damit verbundenen Spendenwerbung. Dabei wird insbesondere der Frage nachgegangen, wie Medien und Hilfsorganisationen auf die Darstellung von humanitären Katastrophen einwirken und in welchem Abhängigkeitsverhältnis Medien und humanitäre Hilfsorganisationen stehen. Dazu werden Hintergründe, ob und wie Katastrophen in den Medien Aufmerksamkeit finden und was die NRO ihrerseits unternehmen, um die Medienaufmerksamkeit zu lenken, diskutiert. Auch die Rollenverteilung der humanitären Hilfsorganisationen als Informationsanbieter und Spendensammler sowie der Medien als „Beschaffer“ von Nachrichten, Informationsvermittler und Multiplikatoren für Information und Spendengewinnung wird näher betrachtet. Ebenso wird der dritte Akteur, der Konsument, in seiner Doppelfunktion als Nachrichtenrezipient und potenzieller Spender in die Ausführungen einbezogen. Bei dieser Betrachtungsweise ist zu betonen, dass es „die Medien“ genauso wenig gibt wie „die Hilfsorganisationen“. Im Folgenden werden Zusammenhänge beschrieben, die auf einen Großteil der Akteure im Kontext humanitärer Katastrophen zutreffen. Einen weiteren Aspekt bilden dabei auch der Einsatz und die zunehmende Arbeit mit den sog. neuen Medien.
Markus Moke, Maria Rüther

Humanitäre Hilfe in der Praxis

Frontmatter
11. Naturkatastrophen und ihre Ursachen
Zusammenfassung
Das Kapitel befasst sich mit dem Auftreten von Naturkatastrophen und ihren Ursachen. Dabei wird zunächst die Verwendung des Begriffs der Naturkatastrophe kritisch hinterfragt, weil er die sozialen, politischen, ökonomischen oder kulturellen Ursachen von Katastrophen nicht ausreichend wiedergibt. Es werden die zentralen Begrifflichkeiten im Kontext von Naturkatastrophen geklärt, sodass die Unterschiede zwischen einem Naturereignis (natural event), einer Naturgefahr (natural hazard), einem Natur- bzw. Katastrophenrisiko (natural risk/disaster risk) und schließlich einer Naturkatastrophe (natural disaster) deutlich werden. Es wird erläutert, dass Naturereignisse dann zur Naturgefahr werden, wenn sie drohen, sich in bewohntem Gebiet zu ereignen und sich auf die dort lebende Bevölkerung auszuwirken. Die unterschiedlichen Faktoren von Katastrophenanfälligkeit, auch Vulnerabilität genannt, spielen im Kapitel eine zentrale Rolle.
Häufigkeit und Zunahme der Intensität von Naturkatastrophen der letzten zwei Jahrzehnte werden genauer betrachtet. Dabei wird verdeutlicht, dass sich sowohl die Anzahl sog. Großkatastrophen als auch die damit zusammenhängenden wirtschaftlichen Schäden und Opferzahlen in der Vergangenheit kontinuierlich erhöht haben. Die Trends zukünftiger Katastrophenrisiken in Entwicklungsländern unter Berücksichtigung der Themen Verstädterung, Bevölkerungswachstum und Armut werden analysiert, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf dem Klimawandel und den daraus resultierenden zukünftigen Herausforderungen für die humanitäre Hilfe liegt.
Thorsten Klose
12. Humanitäre Hilfe und staatliche Souveränität in Gewaltkonflikten
Zusammenfassung
Humanitäre Hilfe in bewaffneten Konflikten erfolgt auf der Grundlage des humanitären Völkerrechts. Damit besteht ein Anspruch der internationalen Gemeinschaft auf Zugang zu den Opfern und die Durchführung von Hilfeleistungen. Bei anderen Gewaltkonflikten ist dies grundsätzlich nicht der Fall, denn die Souveränität des betroffenen Staates ist zu respektieren und er kann sich jede Einmischung in seine inneren Angelegenheiten verbitten. Wenn der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Situation allerdings als Bedrohung oder Bruch des Friedens einstuft und Zwangsmaßnahmen gegen den Rechtsbrecher ergreift, kann dieser Einwand nicht mehr gemacht werden. In diesen Fällen kann die Staatengemeinschaft intervenieren. In der jüngsten Vergangenheit wurde auch aus humanitären Gründen interveniert. Das ist zu begrüßen. Die Praxis zeigt aber, dass mit diesen humanitären Interventionen auch politische Ziele verfolgt werden. Dies stellt humanitäre Akteure vor eine Reihe von Dilemmata.
Hans-Joachim Heintze
13. Katastrophenmanagement
Zusammenfassung
Das Kapitel beschäftigt sich mit dem Katastrophenmanagement in der internationalen humanitären Hilfe. Es wird auf das Zusammenspiel der Akteure, ihre Rollen und Verantwortlichkeiten eingegangen. Dabei findet immer wieder der Blickwinkel der betroffenen Menschen Berücksichtigung. Die Bedeutung der Koordinierung der humanitären Hilfe und die Dynamik und Veränderungsprozesse im Verlauf von der akuten Nothilfe zum Wiederaufbau werden praxisnah vermittelt. Beispiele aus der Projektplanung werden genutzt, um den praktischen Umgang mit Qualitätsstandards, Querschnittthemen, Regeln und Richtlinien im jeweiligen Kontext darzustellen. Der Bezug zu den Sphere Minimum Standards in Disaster Response als wesentliche Referenz bei der Umsetzung von Projekten, Zielen und Prinzipien der humanitären Hilfe in der Praxis wird immer wieder hergestellt. Auf die Menschenwürde und den Menschenrechtsansatz als Basis des Mandats der humanitären Hilfe wird verwiesen.
Die Planungs- und Entscheidungsprozesse von der Bedarfserhebung bis zur Umsetzung von Programmen und Projekten werden im lokalen, nationalen und internationalen Umfeld der humanitären Hilfe beleuchtet. Die Einbeziehung der lokalen Akteure und der jeweils betroffenen Bevölkerung sowie die Zusammenarbeit mit lokalen Partnern und Behörden ist dabei ein wesentlicher Aspekt. In dem Zusammenhang werden Methoden und Ansätze zur Einschätzung der Bedürftigkeit oder der Vulnerabilität in ihrer Bedeutung für die humanitäre Hilfe und die Katastrophenvorbeugung aufgezeigt.
Gründe, warum die Not- und Katastrophenhilfe bzw. die humanitäre Hilfe nie perfekt sein kann, werden praxisnah beschrieben und analysiert. Darauf aufbauend sollen Anreize für Lernerfahrungen in der Zukunft gesammelt werden, die dazu beitragen können, die Qualität der humanitären Hilfe international und lokal stetig zu verbessern.
Peter Schmitz
14. Katastrophenvorsorge: Sind Katastrophen vermeidbar? Von der Reaktion zur Prävention
Zusammenfassung
Das Kapitel stellt die Entwicklung des Themas Katastrophenvorsorge, ihre Aktionsfelder und zukünftige Herausforderungen dar. Aufbauend auf Hintergrundinformationen über Trends und Ursachen wird nach Darstellung der verschiedenen Bereiche ein kurzer zeitlicher Abriss über die Verankerung der Katastrophenvorsorge im internationalen System gegeben. Dabei wird der internationale politische Rahmen, seine Auswirkung auf die Verankerung der Katastrophenvorsorge im deutschen humanitären System und die konzeptionelle Weiterentwicklung der Katastrophenvorsorge von Ende der 1980er-Jahre bis heute beschrieben.
Das Konzept von Verletzlichkeit (vulnerability) und Widerstandsfähigkeit (resilience) bildet die Grundlage und wird kurz dargestellt. Die verschiedenen Felder der Katastrophenvorsorge – Risikoanalyse (risk assessment), Katastrophenvorbeugung (prevention), Vorbereitung auf den Katastrophenfall (preparedness), Frühwarnsysteme (Early Warning Systems) sowie Rehabilitierung und Wiederaufbau mit Integration von Katastrophenvorsorge werden beschrieben, inhaltlich voneinander abgegrenzt und in ihrer Positionierung im Katastrophenmanagementzyklus dargestellt. Übergreifende Ansätze wie Sensibilisierung von Bevölkerung und Stärkung lokaler Katastrophenvorsorgestrukturen werden in einem eigenen Abschnitt dargestellt.
Abschließend wird ein Ausblick auf die zukünftigen Aufgabenfelder/Herausforderungen der Katastrophenvorsorge und sich bereits abzeichnende Entwicklungen gegeben.
Karl-Otto Zentel

Qualität in der humanitären Hilfe

Frontmatter
15. Qualitätsstandards in der humanitären Hilfe
Zusammenfassung
In diesem Kapitel werden jene Standards vorgestellt, die sich in den letzten 20 Jahren als relevant für die humanitäre Hilfe erwiesen haben. Die Rolle, die die Nichtregierungsorganisationen bei der Entstehung der Standards gespielt haben, wird ebenso thematisiert wie deren Akzeptanz in der humanitären Hilfe. Es wird diskutiert, inwiefern Standards Instrumente der Qualitätssicherung sind (Code of Conduct, Sphere Project, Humanitarian Accountability Partnership International (HAP), People In Aid, Active Learning Network for Accountability and Performance in Humanitarian Action (ALNAP)). Darüber hinaus wird der aktuelle Prozess der Joint Standards Initiative, der zwischen Sphere, HAP und People In Aid stattfindet, dem Prozess der Entwicklung von Zertifizierungskriterien gegenübergestellt, die das Steering Committee for Humanitarian Response (SCHR) verfolgt.
Manuela Roßbach
16. Humanitäres Personal: Anforderungen an die Professionalität
Zusammenfassung
Humanitäre Hilfe als Beruf und Berufung ist das Thema dieses Kapitels. Die Forderung nach Professionalisierung der humanitären Hilfe wird seit Jahren lauter, und sie gilt nicht nur für institutionelle Akteure, sondern auch für die einzelne humanitäre Fachkraft. Am Anfang steht eine begriffliche Klärung. Für den englischen „Aidworker“ oder deutschen „humanitären Helfer“ gibt es keine einheitliche professionelle Identität und keine einheitlichen Anforderungsprofile. Die Frage, was Professionalität im Berufsfeld humanitäre Hilfe beinhaltet, wird beleuchtet. Die vielfältigen Bemühungen und Initiativen zur Schaffung eines formellen Rahmens mit anerkanntem Abschluss/anerkannter Zertifizierung und einer internationalen berufsständischen Organisation werden beschrieben.
Im zweiten Teil des Aufsatzes folgt ein kritischer Diskurs zum engeren und weiteren Verständnis von Professionalität in der humanitären Hilfe. Neben den technisch-operativen Anforderungen im Sinne von handwerklichen Qualitätsstandards wird dafür plädiert, auch die ethische und die politische Dimension von Professionalität nicht zu vernachlässigen.
Jürgen Lieser
17. Rechenschaft und Transparenz
Zusammenfassung
Humanitäre Akteure leisten Hilfe für Menschen, die von lebensbedrohlichen Krisen betroffen sind. Diese Menschen stehen im Mittelpunkt der humanitären Hilfe und die humanitären Akteure sind ihnen gegenüber verpflichtet. Dennoch wird immer wieder beobachtet, dass die betroffenen Menschen nicht angehört werden und sie kaum oder keine Möglichkeit haben, auf die Hilfe Einfluss zu nehmen. Hilfsorganisationen sind zudem gegenüber ihren privaten und staatlichen Gebern zur Rechenschaft verpflichtet. Staatliche Akteure sind wiederum gegenüber dem Steuerzahler und dem Parlament verantwortlich. Häufig hört man kritische Fragen, ob denn die Hilfe auch ankomme. Das Kapitel stellt den Bedarf für und die Problematik der Transparenz und Rechenschaftspflicht in der humanitären Hilfe dar. Es zeigt die spezifischen Herausforderungen im Kontext der Not- und Katastrophenhilfe auf. Es zeigt das Spannungsfeld zwischen der Rechenschaftslegung gegenüber den Gebern und den Empfängern der humanitären Hilfe und analysiert, was funktioniert und was noch verbessert werden sollte.
Ralf Otto
18. Korruption und Korruptionskontrolle
Zusammenfassung
Korruption ist ein verbreitetes Phänomen in der humanitären Hilfe, da die Hilfe häufig in einem Umfeld fehlender Rechtsstaatlichkeit geleistet werden muss. Auch die Eilbedürftigkeit, die humanitäre Hilfe oft auszeichnet, birgt Korruptionsrisiken, weil Strukturen zur Prävention kurzfristig nicht ausreichend implementiert werden (können). Eine quantitativ bedeutende Form der Korruption ist die Veruntreuung von Mitteln der humanitären Hilfe, häufig abgesichert durch Preismanipulation zwischen Auftraggebern und Auftragnehmern bei der Beschaffung von Gütern (kick back). Aktive Bestechung seitens Verantwortlicher in der humanitären Hilfe erfolgt insbesondere, um Veruntreuung abzusichern. Mittels Erpressung kann die existenzielle Abhängigkeit von Hilfesuchenden ausgebeutet werden. Die Bevorzugung von Personen, die zu Programmverantwortlichen in einer Beziehung der Nähe stehen (Nepotismus), können Wirkung und Ansehen der humanitären Hilfe schädigen. Korruptionskontrolle in der humanitären Hilfe erfolgt über übliche prozedurale Kontrollen (z. B. Nachweispflichten, Vergabeverfahren, Dokumentation der Lieferkette, Vier-Augen-Prinzip). Darüber hinaus sind weitere Kontrollansätze notwendig. Wirkungskontrolle und die Befragung von Zielgruppen kann den Spielraum für Veruntreuung reduzieren. Bedeutend ist zudem, in den Organisationen, die Programme fördern, institutionelle Hemmnisse abzubauen, die einer wirksamen Korruptionskontrolle entgegenstehen (u. a. Tabuisierung, Informationssperren, Mittelabflusszwänge).
Georg Cremer

Herausforderungen der humanitären Hilfe

Frontmatter
19. Humanitäre Dilemmata: Anspruch und Wirklichkeit der humanitären Prinzipien
Zusammenfassung
Wenn es darum geht, einen normativen und ethischen Rahmen für die humanitäre Hilfe zu definieren, berufen sich viele Hilfsorganisationen auf die im humanitären Völkerrecht verankerten Prinzipien der Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Unabhängigkeit und Neutralität. In der Praxis, insbesondere in komplexen Konfliktsituationen, stößt die Einhaltung dieser Prinzipien allerdings oft auf Schwierigkeiten. Es gibt Situationen, in denen humanitäre Helfer sich in einem echten Dilemma befinden, was bedeutet, dass jede mögliche Handlungsoption ein bindendes moralisches Prinzip verletzt, z. B. Menschenleben akut gefährdet. Das Kapitel beschreibt reale Beispiele für solche humanitären Dilemmata und versucht, Lösungsansätze aufzuzeigen.
Beat Schweizer
20. Do No Harm – Humanitäre Hilfe in Konfliktsituationen
Zusammenfassung
Schafft die humanitäre Hilfe mehr Probleme als sie löst? Werden durch gut gemeinte Hilfsprojekte Konflikte geschürt, verschärft oder gar hervorgerufen? Oder kann humanitäre Hilfe zu Frieden und Versöhnung beitragen und Konfliktparteien zu gemeinsamer Verantwortung verpflichten? Das Spannungsfeld „Hilfe und Konflikt“ wurde seit den 1990er-Jahren aus verschiedenen Blickwinkeln angegangen. Insbesondere das „Do No Harm – Local Capacities for Peace“-Projekt unter Federführung von Mary B. Anderson und unter Einbeziehung einer Vielzahl von internationalen Gebern und Nichtregierungsorganisationen suchte, die Verbindung von Hilfe und Konflikt systematisch zu analysieren, um Konfliktpotenziale zu mindern und Versöhnungspotenziale zu fördern. „Do No Harm“ wurde seitdem zum Standard der Arbeit der humanitären Hilfe und zum wichtigen Planungsinstrument der Akteure, die sich in Konfliktumfeldern bewegen.
Wolfgang Jamann
21. Militärinterventionen im Namen der Humanität?
Zusammenfassung
Der Beitrag geht der Frage nach, ob und unter welchen Bedingungen sog. „humanitäre Interventionen“ tatsächlich dem Anspruch „humanitär“ gerecht werden können oder ob das Attribut „humanitär“ lediglich legitimatorischen Charakter für vorwiegend machtpolitische Interessen hat. Nach einer begrifflichen Eingrenzung werden Kriterien für humanitäre Interventionen entwickelt, die einerseits auf die bekannten Kriterien aus der klassischen Theorie des „gerechten Krieges“ zurückgreifen und andererseits die für die humanitäre Hilfe grundlegenden humanitären Prinzipien einschließen. Das im Völkerrecht verankerte Gewaltverbot und die territoriale Unversehrtheit der Staaten schließt jedoch humanitäre Interventionen eigentlich aus. Auch der neuere Ansatz der „Responsibility to Protect“ bedeutet keine Änderung des Völkerrechts, sondern ist eher ein politisches Prinzip.
Eine kritische Bewertung der Erfahrungen bisheriger humanitärer Interventionen macht deutlich, dass diese solange umstritten sind wie der Konflikt zwischen Humanität und Interessen nicht eindeutig zugunsten des humanitären Gedankens entschieden werden kann. Voraussetzung dafür wäre, so das Fazit, eine Weiterentwicklung der Vereinten Nationen zu einer in humanitären Fragen tatsächlich unparteilichen und neutralen Institution, in der die nationalen Eigeninteressen stärker zurückgedrängt werden.
Jochen Hippler
22. Zwischen Distanz und Kooperation: Das schwierige Verhältnis von Streitkräften und humanitären Helfern
Zusammenfassung
Kaum ein anderes Thema war in den letzten Jahren in den humanitären Debatten heftiger umstritten als die zivil-militärischen Beziehungen. Dies hat einerseits mit der Zunahme von militärischen Interventionen im Ausland nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und der Einbeziehung von humanitärer Hilfe in sog. „integrierte“ oder „vernetzte“ Sicherheitsstrategien zu tun. Andererseits sind die Diskussionen Ausdruck unterschiedlicher Zielsetzungen, politischer Aufträge und gegenseitiger Wahrnehmungen von Streitkräften und humanitären Helfern.
Der Beitrag zeichnet die internationale Debatte der letzten Jahre zu den Möglichkeiten und Grenzen der zivil-militärischen Koordination nach. Dabei wird besonders auf das Fallbeispiel Afghanistan eingegangen, denn kaum ein anderes Beispiel könnte die Versuche der Instrumentalisierung humanitärer Hilfe besser illustrieren. Abschließend werden die Bemühungen auf internationaler und nationaler Ebene analysiert, das Verhältnis von Streitkräften und humanitären Helfern in Form von Richtlinien zu definieren und zu regeln.
Peter Runge, Bodo von Borries
23. Bilanz, Perspektiven, Herausforderungen
Zusammenfassung
Von der Gründung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz vor 150 Jahren bis heute haben sich die globalen Machtverhältnisse und damit die Rahmenbedingungen und Herausforderungen für die humanitäre Hilfe verändert. Neben den Erfolgen bei der Bewältigung humanitärer Notlagen hat die humanitäre Hilfe auch Misserfolge und Dilemmata erfahren, aus denen Lehren gezogen werden mussten. Dazu gehört die Erkenntnis, dass die Hilfe von politischer Einflussnahme nicht frei ist und selbst politische Entwicklungen beeinflusst. Mit der rasanten Zunahme der Akteure und dem steigenden Bedarf für humanitäre Hilfe sind auch die Anforderungen an die Professionalität der Organisationen und ihrer Mitarbeiter gewachsen. Das Kapitel bilanziert die bisherigen Entwicklungen und globalen Trends, skizziert zukünftige Entwicklungen und die kommenden Herausforderungen für die humanitäre Hilfe.
Jürgen Lieser, Dennis Dijkzeul
Backmatter
Metadaten
Titel
Handbuch Humanitäre Hilfe
herausgegeben von
Jürgen Lieser
Dennis Dijkzeul
Copyright-Jahr
2013
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Electronic ISBN
978-3-642-32290-7
Print ISBN
978-3-642-32289-1
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-642-32290-7

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