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2005 | Buch

Identitätsformationen in Deutschland

verfasst von: Wolfgang Bergem

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

Buchreihe : Forschung Politik

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Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
Vorwort
Zusammenfassung
Als ich mit achtzehn zum ersten Mal in Berlin war, sagte mir ein Mädchen: „Aus dem Saarland kommst du? Ach, dafür sprichst du aber gut deutsch.“ Meine leicht trotzige Reaktion damals: „Natürlich sind wir auch Deutsche!“ Dennoch schien das, was zuvor unbefragt als selbstverständlich galt, der Begründung zu bedürfen oder zumindest Nachdenken zu erfordern. Der Bewohner eines Grenzlandes mit permeablen Grenzen, das in seiner wechselvollen Geschichte häufig Streitobjekt zwischen Deutschen und Franzosen war und einmal auch mit begrenzter Autonomie europäisiert werden sollte, das allein im 20. Jahrhundert zweimal unabhängig von Deutschland, beim ersten Mal dem Völkerbund, beim zweiten Mal einem französischen Hohen Kommissar unterstellt war, wobei die Separation von Deutschland und die Anbindung an Frankreich gar in der Präambel seiner Verfassung festgeschrieben wurde, und zweimal doch wieder ins Deutsche Reich bzw. in die Bundesrepublik eingegliedert wurde, fühlt sich „im Reich“ — wie man noch heute im Saarland die Gebiete jenseits der Grenze zu Rheinland-Pfalz nur halb ironisch nennt — wohl auch leicht zu nationalen Bekenntnissen und Selbstverortungen genötigt, wenn Zweifel an seiner nationalen Zugehörigkeit oder Loyalität aufkommen. Identität ist Einschluss.
Wolfgang Bergem
Exposition
Zusammenfassung
Ist von der Identität der Deutschen so viel die Rede, weil es sie nicht mehr gibt? Träfe diese These zu, dann bestätigte sie die Erfahrung, dass etwas erst verschwunden sein muss, um über die Wahrnehmung seines Verlustes einen festen Platz im Bewusstsein zu erlangen. Dann wären die ganze Bibliotheksabteilungen füllenden Bände über die Identität der Deutschen Ausdruck eines Phantomschmerzes. Doch dann stellte sich die Frage, ob das, was da verloren gegangen sein soll, je mit mehr Substanz bestanden habe als zum Zeitpunkt dieser Diagnose. Und die größere Frage bliebe, worin das, was da verloren gegangen sein soll, überhaupt bestünde, was das überhaupt sei. Im Unterschied zu Gleichheit sei Identität „absolut undefinierbar“, auch nicht essentiell als „Grenzfall der Gleichheit“, stellte Edmund Husserl vor hundert Jahren in seinen Logischen Untersuchungen fest (1984: 118). Wer die enormen Schwierigkeiten, Begriff und Phänomen der Identität zu identifizieren, wenn schon nicht zu definieren, in den Griff zu bekommen versucht, fühlt sich bald an Ludwig Wittgenstein erinnert, der in Identität gleich den Leibhaftigen erkannt hat: „Identity is the very Devil!“ (1980: 241), schrieb er am 17. Oktober 1913 in einem Brief an Bertrand Russell. Leichter als eine über die lexikalische Grundbedeutung hinausgehende generelle Definition fallen an der Pragmatik des Identitätsbegriffs orientierte Paraphrasierungen und Funktionsbestimmungen.
Wolfgang Bergem
A. Konzeption: Kultur und Identität
Zusammenfassung
Warum gibt es keinen politologischen Kulturbegriff? Diese an eine Formulierung Klaus von Beymes1 angelehnte Frage drängt sich auf, wenn die Dimension, in der das Thema der Identität konzeptionell zu verorten ist, ins Auge des Politikwissenschaftlers gefasst wird. Die Politikwissenschaft hat kulturelle Faktoren und ihre politische Bedeutung lange Zeit gegenüber institutioneilen und strukturellen Faktoren vernachlässigt; ,Kultur‘ wurde allenfalls als bequeme Residualkategorie für strukturell-funktional nicht erklärbare Phänomene willkommen geheißen. In den letzten Jahren ist jedoch mit dem Interesse an der Identität von nationalen, sub- oder supranationalen Kollektiven auch das Interesse an kulturellen Perspektiven gewachsen; die Frage Does culture matter? wird von Politologen zunehmend bejaht2, auch wenn sich die Politikwissenschaft vom cultural turn in den Sozial- und Geisteswissenschaften erst relativ spät hat erfassen lassen (vgl. Nullmeier 1997, 1999). Zur Zeit scheint das Fahnenwort Kultur — nach einer Phase der paradigms lost — als führendes Paradigma und Leitbegriff der Sozialwissenschaften an die Stelle des in den siebziger Jahren dominierenden Gesellschaftsbegriffs zu treten. Die Politikwissenschaft, die sich für die Identitätsformationen politisch verfasster Kollektive interessiert, sei es auch nur im Blick auf deren Potentiale, politische oder kriegerische Konflikte generieren zu können, ist gut beraten, Kultur als der Sphäre, in der Identität gebildet, verändert und politisiert wird, mehr als nur residualen Status zuzubilligen.
Wolfgang Bergem
B. Abstraktion: Kulturalisierung von Identität
Zusammenfassung
In De re publica definiert Cicero den Staat als die Sache des Volkes und das Volk als die Ansammlung einer Menge, die in der Anerkennung des Rechts und der Gemeinsamkeit des Nutzens vereinigt ist1, wobei er das Gedeihen des Staates an eine im Menschen angelegte Gerechtigkeit bindet (vgl. 1987: 55). Gegen Ciceros Staatsverständnis wendet Augustinus in De civitate Dei ein, einem lediglich als Rechtsordnung und Nutzengemeinschaft fundierten Staat fehle die „wahre Gerechtigkeit“, die erst aus „irgendeiner beliebigen Menge“ ein Volk mache (1953, Bd. 3: 304). Was von der nur im Menschen begründeten Gerechtigkeit, bei der „der Mensch Gott nicht dient“, zu halten sei, machten Eigennutz, Herrschaftsdrang und unrechtmäßige Annexion als Grundlagen des römischen Imperiums deutlich; da sich hier keine wahre Gerechtigkeit fände, könne auch von Recht keine Rede sein, folglich sei die römische Republik nach Ciceros eigenen Definitionen „eigentlich nie ein Staat gewesen“ (Augustinus 1953, Bd. 3: 303–306). Der nordafrikanische Kirchenlehrer verstand die „wahre Gerechtigkeit“ als Hingabe an Gott; was sein Einwand gegen Cicero jedoch diesseits der theologischen Begründung für das Thema Staat und Identität erhellt, ist die Annahme, dass eine nur in der Einhaltung von Normen der Konfliktregelung (vgl. Dahrendorf 1972: 11–93) oder in Kosten-Nutzen-Überlegungen (vgl. Downs 1968: 3–72) vereinigte Ansammlung von Menschen noch keinen Staat mache. Im Unterschied zu Cicero zieht Augustinus zur Definition des Staates nicht das Volk, sondern die in Eintracht verbundenen Einzelnen heran; für ihn ist „der Staat nichts andres … als eine einträchtige Vielheit von Menschen“ (1951, Bd. 1: 66).
Wolfgang Bergem
C. Konkretion: Politisierung von Identität
Zusammenfassung
Die Französische Revolution markiert den take-off in der Entwicklung der modernen Idee der Nation. Die Pariser Ereignisse des Jahres 1789 verleihen dieser Idee eine republikanische Prägung und stellen der Herausbildung der französischen nationalen Identität einen wirkungsvollen Gründungsmythos bereit. Die Ideen der Französischen Revolution1 kondensierten die neuzeitliche politische Philosophie und Entwicklung Westeuropas, andererseits wies der der Revolution folgende jakobinische Terror den Weg zum ideologisch motivierten staatlichen Massenmord. Als Auftakt einer weltgeschichtlichen Achsenzeit politisierte diese „Kulturrevolution“ in Frankreich in ihrer symbolpolitischen Inszenierung den gesamten öffentlichen Zeichenraum mitsamt der Sprache (vgl. Dörner 1995: 98–110) und konstituierte mit der Trinität ihrer normativen Verheißungen sowie dem universellen Anspruch der Menschenrechte ein originär politisches Verständnis der Nation als Staatsnation. Der französische Einheitsstaat hatte bereits im Ancien régime dem ethnisch und kulturell pluralen Land — la France déchirée — zu jener „inneren Einheit“ verholfen, die im vorpolitischen Bereich nicht herzustellen war (vgl. Schubert 1994: 178), bevor in der Ära der Revolution die Proklamation der Nation als une et indivisible in Anlehnung an die Identitätstheorie Jean-Jacques Rousseaus ideologisiert wurde.
Wolfgang Bergem
D. Konklusion: Berlin ist nicht Bonn. Die stille Transformation der Bundesrepublik
Zusammenfassung
Die nach NS-Regime und Zweitem Weltkrieg vollzogene und in der Machtbalance des Kalten Krieges, dem alles dominierenden Datum nicht nur der europäischen Nachkriegsordnung, der Westintegration der Bundesrepublik korrespondierende Ostintegration der DDR ist politisch-institutionell überwunden, politisch-kulturell ist sie es nicht. Die im ersten Jahrzehnt nach der deutschen Vereinigung post festum entstandene ostdeutsche Abgrenzungsidentität hat einer pseudo-ethnischen Erfahrungs-, Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft Kontur verliehen, die sich über die Orientierung am Referenzrahmen der untergegangenen DDR und vor allem an deren identitiven Distinktionskriterien definierte (vgl. Kap. C.I.I.C). In der mittlerweile zum Kult stilisierten Ostalgie steht hingegen weniger der vergleichende oder abwertende Blick auf Westdeutschland im Zentrum, sondern die Popularisierung von Produkten, Symbolen und Alltagskultur des SED-Staates, mit dem die Biographien der sich heute erinnernden Ostdeutschen auf vielfältige Weise verwoben waren.
Wolfgang Bergem
Backmatter
Metadaten
Titel
Identitätsformationen in Deutschland
verfasst von
Wolfgang Bergem
Copyright-Jahr
2005
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-322-80749-6
Print ISBN
978-3-531-14646-1
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-322-80749-6