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Erschienen in: e & i Elektrotechnik und Informationstechnik 8/2021

Open Access 08.11.2021 | Originalarbeit

Inertia Certificates – Möglichkeiten zur Gewährleistung von ausreichender Momentanreserve im Verbundsystem

verfasst von: Wolfgang Gawlik, Jürgen Marchgraber, Yi Guo

Erschienen in: e+i Elektrotechnik und Informationstechnik | Ausgabe 8/2021

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Zusammenfassung

Die Momentanreserve ist von entscheidender Bedeutung für die Aufrechterhaltung der Frequenzstabilität in Drehstromsystemen. Derzeit wird sie fast ausschließlich von direkt angebundenen Synchrongeneratoren aufgebracht, deren träge rotierende Schwungmasse sich Drehzahländerungen widersetzt und dadurch Frequenzgradienten nach Ungleichgewichten zwischen Einspeisung elektrischer Leistung ins und Entnahme elektrischer Leistung aus dem Netz begrenzt. Es steht zu erwarten, dass die für das Verbundsystem verfügbare Schwungmasse im Zuge der steigenden Verbreitung von über Leistungselektronik angeschlossenen Einspeiseanlagen zukünftig abnehmen wird. Die daraus resultierenden höheren Frequenzgradienten stellen eine Gefährdung der Frequenzstabilität des Verbundsystems dar. Inertia Certificates sind eine Möglichkeit, den Beitrag von Erzeugungsanlagen zur Bereitstellung von Momentanreserve im Verbundsystem zu quantifizieren und der Momentanreserve einen Preis zuzuordnen, der ihrem Wert für den Systembetrieb entspricht. Sie ermöglichen einen fairen Ausgleich zwischen jenen Anlagen, die aufgrund ihrer physikalischen Wirkungsweise inhärent Momentanreserve bereitstellen, und solchen, die prinzipbedingt keine oder nur eine geringe Schwungmasse aufweisen. Außerdem können durch die Abtretung und Abgeltung der Bereitstellung von Momentanreserve kostenintensive Nachrüstungen von solchen schwungmassearmen und schwungmasselosen Einspeisern vermieden werden.
Hinweise

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.

1 Einleitung und Problemstellung

Die Frequenz in einem Drehstromsystem ist keine systemtheoretische Zustandsgröße im engeren Sinn, weil sie nicht direkt mit einem physikalischen Energiespeicher verbunden ist. Das liegt daran, dass das Drehfeld, das im elektrischen Drehstrom als virtueller Welle die Leistungsübertragung vom Ort der Erzeugung zum Ort der Anwendung übernimmt, für sich genommen keine Trägheit besitzt. Dagegen sind die Drehzahlen von direkt an das Verbundsystem angeschlossenen rotierenden elektrischen Maschinen sehr wohl mit physikalischen Energiespeichern, nämlich den rotierenden Massen ihrer Wellensätze, verbunden und somit Zustandsgrößen, die sich nicht sprungartig ändern können. Weil die Drehzahlen von Synchronmaschinen wiederum sehr eng mit der Systemfrequenz gekoppelt sind, solange der Synchronismus nicht verlorengegangen ist, verhält sich die Systemfrequenz allerdings sehr wohl als Quasi-Zustandsgröße und wird sich bei begrenzter Anregung des Systems mit einem Leistungsungleichgewicht nicht sprungförmig ändern, sondern einen stetigen Verlauf aufweisen.
Verwendet man vereinfachend das Modell eines Ein-Massen-Schwingers [1] für die mittlere Systemfrequenz im Synchrongebiet, dann gilt als Zusammenhang zwischen der mittleren Systemfrequenz f und der Leistungsbilanz zwischen eingespeister Leistung \(P_{{G}}(t)\) und entnommener Leistung (inklusive Systemverlusten) \(P_{{L}}(t)\)
$$ P_{G}\left ( t \right ) - P_{L}\left ( t \right ) = 2\pi \cdot f \cdot J_{\mathit{Sys}} \cdot \frac{2\pi df}{dt} $$
(1)
Dabei ist \(J_{\mathit{Sys}}\) die Summe der auf die synchrone Drehzahl bezogenen Trägheitsmomente der rotierenden Massen. Sehr häufig wird statt der Summe der Trägheitsmomente die Netzanlaufzeitkonstante \(T_{A,Sys}\) verwendet, die sich aus dieser Summe und der Systemgröße \(P_{\mathit{Sys}}\) sowie der Nennfrequenz \(f_{{n}}\) als
$$ T_{A,\mathit{Sys}} = \frac{J_{\mathit{Sys}} \cdot \left ( 2\pi f_{n} \right )^{2}}{P_{\mathit{Sys}}} $$
(2)
ergibt. Als Momentanreserve wird diejenige Leistung bezeichnet, die während auftretender Leistungsungleichgewichte unmittelbar und unverzögert aus den rotierenden Massen entnommen oder in diese eingespeist wird. Für die Momentanreserve \(P_{df/dt}\) gilt also unter Verwendung des Erzeugerpfeilsystems
$$ P_{df / dt} = - \frac{f}{f_{n}} \cdot T_{A,\mathit{Sys}} \cdot P_{\mathit{Sys}} \cdot \frac{df / f_{n}}{dt} $$
(3)
Als Systemgröße [2] wird in diesem Artikel und in diesen Gleichungen die aktuell versorgte Netzlast verwendet, d.h. es gilt \(P_{\mathit{Sys}} = P_{{L}}(t)\). Sie ist damit zeitabhängig und wegen der üblichen Lastgänge tagsüber und unter der Woche größer und nachts bzw. am Wochenende kleiner.
In die Netzanlaufzeitkonstante gehen alle Trägheitsmomente der individuellen rotierenden Massen \(J_{{i}}\) ein. Es wird also
$$ J_{\mathit{Sys}} = \sum _{i} J_{i} $$
(4)
verwendet. Mit den individuellen Trägheitsmomenten und unter Verwendung der individuellen Bemessungsleistungen \(P_{n,i}\) der einzelnen Erzeugungsanlagen gilt außerdem
$$ T_{A,i} = \frac{J_{i} \cdot \left ( 2\pi f_{n} \right )^{2}}{P_{n,i}} $$
(5)
Auflösen nach \(J_{i}\) und Einsetzen in die Bestimmungsgleichung der Netzanlaufzeitkonstante ergibt
$$ T_{A,\mathit{Sys}} = \frac{1}{P_{\mathit{Sys}}}\sum _{i} T_{A,i} \cdot P_{n,i} $$
(6)
Die Netzanlaufzeitkonstante ist nach dieser Gleichung also die auf die Systemgröße bezogene Summe der mit ihrer jeweiligen Bemessungsleistung gewichteten individuellen Anlaufzeitkonstanten der einzelnen Erzeugeranlagen. Diese kann man z.B. näherungsweise mit \(T_{A,i} = 0\)s für leistungselektronisch angebundene Photovoltaikanlagen, \(T_{A,i} = 5\dots 8\)s für Dampfturbinenkraftwerke und \(T_{A,i} = 8\dots 10\)s für Gasturbinenkraftwerke ansetzen. Für die Netzanlaufzeitkonstante kann man derzeit erfahrungsgemäß einen Wert von etwa \(T_{A,Sys} = 10\dots 12\)s ansetzen.
Dass die Netzanlaufzeitkonstante höher ist als die nach Bemessungsleistung gewichtete Summe der individuellen Anlaufzeitkonstanten der einzelnen Erzeugungsanlagen, liegt in erster Linie daran, dass diese Anlagen in den allerwenigsten Fällen dauerhaft mit ihrer Bemessungsleistung betrieben werden, sondern sich in einem mehr oder weniger ausgeprägten Teillastbetrieb befinden. Aber auch wenn sie im Teillastbetrieb nur mit einem Teil ihrer Bemessungsleistung zur Systemgröße beitragen, bringen sie ihre gesamte synchronisierte Schwungmasse für die Systemträgheit ein. Wegen
$$ \sum _{i} P_{n,i} \ge P_{\mathit{Sys}},\quad \mathrm{also} \frac{1}{P_{\mathit{Sys}}}\sum _{i} P_{n,i} \ge 1 $$
(7)
kann und wird deswegen die Netzanlaufzeitkonstante im Normalfall größer sein als der mit den Bemessungsleistungen gewichtete Mittelwert der Anlaufzeitkonstanten der individuellen Anlagen. Außerdem kann und wird es auch auf der Verbraucherseite Anlagen geben, die schwungmassebehaftet sind und nicht über Frequenzumrichter, sondern direkt an das Netz angeschlossen sind. Dieser Aspekt wird bei der Definition der Netzanlaufzeitkonstanten nach Gleichung (2) allerdings nicht berücksichtigt.
Grundsätzlich kann man jedenfalls konstatieren, dass Erzeugungsanlagen mit großer Anlaufzeitkonstante und insbesondere solche, die sich im Teillastbetrieb befinden, überproportional zur Netzanlaufzeitkonstante und damit zur Bereitstellung von Momentanreserve beitragen, und sich diese Bereitstellung nicht in der Vergütung für die Energielieferung niederschlägt. Das ist insofern problematisch, als dass dann Beschaffungsmechanismen, die ggf. zukünftig zur Gewährleistung und Einhaltung einer mindestens erforderlichen Netzanlaufzeitkonstante einzelne neue und unkonventionelle Anbieter eines „Produktes“ Momentanreserve ungerechterweise bevorzugen könnten, wenn nicht auch Erzeugungsanlagen, die ihren Anteil an der Bereitstellung von Momentanreserve übererfüllen, eine Vergütung dafür erhalten, die dem Wert dieser essentiellen Systemeigenschaft entspricht.
Inertia Certificates, so wie sie in diesem Artikel vorgestellt werden, sind eine Möglichkeit, den Beitrag von Erzeugungsanlagen zur Bereitstellung von Momentanreserve im Verbundsystem zu quantifizieren und der Momentanreserve einen Preis zuzuordnen, der ihrem Wert für den Systembetrieb entspricht.

2 Methodik für Inertia Certificates

Vor der Zuteilung bzw. Abgabe von Inertia Certificates [3] steht zunächst die Festlegung einer Mindest-Netzanlaufzeitkonstante \(T_{A,\mathit{Sys},\mathit{min}}\), die unabhängig vom jeweiligen Erzeugungsmix nicht unterschritten werden soll. Dieser Wert muss in Abstimmung aller Übertragungsnetzbetreiber im Synchrongebiet so gewählt werden, dass für die dimensionierenden Leistungsungleichgewichte und Systemzustände die dann auftretenden Frequenzgradienten und Frequenzabweichungen durch die vorgehaltenen Regelreserven (z.B. Primärregelung, also „Frequency Containment Reserve“) beherrscht werden können. Für die vorgestellte Methodik spielt es keine entscheidende Rolle, welcher Wert genau für \(T_{A,\mathit{Sys},\mathit{min}}\) festgelegt werden wird. Für die folgenden Betrachtungen kann man z.B. von dem nicht ganz unplausiblen Wert von 5s ausgehen [vgl. [5], S. 11], aber prinzipiell sind die Überlegungen für jeden und ggf. auch regional oder regelzonenspezifisch unterschiedliche Werte anwendbar.
Als nächstes wird für jede Erzeugungsanlage ein tatsächlicher individueller Wert der Anlaufzeitkonstante \(T_{A,i}\) ermittelt. Diesen Wert kann man über die weiter oben aufgeführte Formel (5) aus dem vorhandenen Trägheitsmoment, der Nenndrehzahl und der Bemessungsleistung errechnen. Für das Trägheitsmoment kann man dabei auf vorhandene Daten bzw. Angaben des Herstellers zurückgreifen - die Berechnung erfolgt wie für jede andere Stabilitätsbetrachtung unter Berücksichtigung rotierender elektrischer Maschinen am Netz auch. Für bestimmte Arten von Einspeisern, z.B. Photovoltaikanlagen oder getriebelose Windkraftanlagen, die über Vollumrichter in das Netz speisen, wird das Ergebnis ohne zusätzliche Maßnahmen für Energiespeicher im Zwischenkreis und einer Anpassung der Umrichterregelung wohl \(T_{A,i} = 0\)s lauten.
Die Methodik für Inertia Certificates basiert nun nicht auf einem Vergleich von \(T_{A,\mathit{Sys},\mathit{min}}\) mit \(T_{A,i}\), sondern mit
$$ \hat{T}_{A,i} = T_{A,i} \cdot \frac{P_{n,i}}{P_{i}\left [ n \right ]}, $$
(8)
d.h. mit der Anlaufzeitkonstanten, die die ansonsten baugleiche Erzeugungsanlage aufweisen würde, wenn ihre dafür angesetzte Bemessungsleistung genau dem aktuellen Arbeitspunkt \(P_{\mathrm{i}}[n]\) entsprechen würde. Die Abfolge dieser Arbeitspunkte ist im Rahmen der Erstellung und Prüfung der zugeordneten Fahrpläne der Anlage bekannt, üblicherweise in Form von Zeitreihen vergleichbar mit Abb. 1 mit z.B. einer 15-minütigen Abtastzeit. Weil im Regelfall \(P_{\mathrm{i}}[n] \leq P_{n,i}\) sein wird, gilt also \(\hat{T}_{A,i} \ge T_{A,i}\).
Mit diesen Überlegungen kann mal folgende Fallunterscheidungen treffen:
  • \(T_{A,\mathit{Sys},\mathit{min} } < T_{A,i} \cdot P_{n,i} / P_{i}\left [ n \right ]\): Für die Periode n übererfüllt die Anlage die Anforderungen zur Bereithaltung von Momentanreserve. Der überschüssige Anteil \(T_{A,i} \cdot P_{n,i} - T_{A,\mathit{Sys},\mathit{min} } \cdot P_{i}\left [ n \right ] > 0\) kann als Inertia Certificate innerhalb dieser Periode mit anderen Erzeugungsanlagen gehandelt werden, die die Anforderungen nicht erfüllen. Dieser Fall ist in Abb. 2 und in Abb. 3, links oben dargestellt. Dabei entspricht der hellblau schraffierte Bereich gerade dem dunkelblau nicht-schraffierten Bereich, d.h. eine niedrige individuelle Anlaufzeitkonstante kann während eines Teillastbetriebes trotzdem mehr als ausreichend sein.
  • \(T_{A,\mathit{Sys},\mathit{min} } = T_{A,i} \cdot P_{n,i} / P_{i}\left [ n \right ]\): Für die Periode n erfüllt die Anlage die Anforderungen zur Bereithaltung von Momentanreserve exakt. Das wird bis auf mehrere Stellen nach dem Komma genau wohl äußerst selten vorkommen. Aufgrund von Schwankungen und Messungenauigkeiten während einer Periode ist es deswegen empfehlenswert, einen Bereich um den Sollwert herum zu definieren, in dem die Bedingung als gerade erfüllt gewertet wird und weder Überschüsse noch Defizite ausgewiesen werden.
  • \(T_{A,\mathit{Sys},\mathit{min} } > T_{A,i} \cdot P_{n,i} / P_{i}\left [ n \right ]\): Für die Periode n untererfüllt die Anlage die Anforderungen zur Bereithaltung von Momentanreserve. Der fehlende Anteil \(T_{A,i} \cdot P_{n,i} - T_{A,\mathit{Sys},\mathit{min} } \cdot P_{i}\left [ n \right ] < 0\) muss als Inertia Certificate innerhalb dieser Periode von anderen Erzeugungsanlagen beschafft werden, die diese Anforderungen übererfüllen. Dies gilt insbesondere natürlich für trägheitslose Erzeugungsanlagen (siehe auch Abb. 3 unten rechts).
Es sei an dieser Stelle noch angemerkt, dass die Inertia Certificates in der Form „Zeit multipliziert mit Leistung“ die Einheit der Energie Joule (oder Ws) haben und letztlich auch vorgehaltene Rotationsenergie repräsentieren. Der Wert entspricht aber nicht dem Energieinhalt eines Energiespeichers, den man bei trägheitslosen Erzeugungsanlagen z.B. in Form von Hochleistungs-Kondensatoren im Gleichspannungs-Zwischenkreis nachrüsten müsste, denn jener ist wesentlich kleiner. Das liegt daran, dass auch bei einer konventionellen Schwungmasse nur jener Teil des Energieinhalts, der zwischen den Netzfrequenzen 47,5 Hz und 51,5 Hz mit dem System ausgetauscht wird, relevant ist. Dieser Teil entspricht in etwa 10 % der gesamten Rotationsenergie bei Nenndrehzahl.

3 Diskussion

Die Art und Weise, wie ein Handel mit Inertia Certificates ablaufen wird, hängt sehr stark davon ab, auf welchen Wert die vorauszusetzende Mindest-Netzanlaufzeitkonstante \(T_{A,\mathit{Sys},\mathit{min}}\) festgelegt werden wird.
Solange diese Netzanlaufzeitkonstante jedenfalls durch die Erzeugungsanlagen gewährleistet werden kann, die inhärent Momentanreserve bereitstellen, wird der Preis von Inertia Certificates sehr gering sein und muss letztlich nur die Transaktionskosten abdecken, die den Anbietern von überschüssiger Momentanreserve bei einer Teilnahme an dem Handel entstehen. Es ist auch denkbar, dass in dieser Phase der Einführung von Inertia Certificates nur ein Monitoring der vorhandenen Momentanreserve durch die Übertragungsnetzbetreiber stattfindet, und der Handel mit Inertia Certificates noch ausgesetzt ist. Dieser Handel wird sinnvollerweise an den Energiehandel und die entsprechenden Fahrpläne gekoppelt sein, weil die geplanten Arbeitspunkte wie oben beschrieben wesentlicher Bestandteil bei der Ermittlung verfügbarer oder notwendiger Inertia Certificates sind. Nachdem alle Erzeugungsanlagen einer Bilanzgruppe zugeordnet sind, ermitteln auch die Bilanzgruppenverantwortlichen zusammen mit den aggregierten Fahrplänen für ihre Bilanzgruppe den „Momentanreserve-Fahrplan“, damit er zusammen mit allen anderen Fahrplänen für die gesamte Regelzone ausgewertet werden kann.
Negative Preise für die Bereitstellung von Momentanreserve sind, anders als für die Energieeinspeisung, wegen
$$ T_{A,\mathit{Sys},\mathit{min} } \le T_{A,\mathit{Sys}} = \frac{1}{P_{\mathit{Sys}}}\sum _{i} T_{A,i} \cdot P_{n,i} $$
(9)
ausgeschlossen. Es sind derzeit keine Konstellationen denkbar, nach denen eine zu große Menge an Momentanreserve Nachteile für den Systembetrieb darstellen könnte.1 Der Preis ist also theoretisch mit 0 nach unten begrenzt.
Umgekehrt wird der Preis für Inertia Certificates kaum die während der Periode, in der sie z.B. von trägheitslosen Erzeugungsanlagen beschafft werden müssen, erzielbaren Erlöse zur Energiebereitstellung überschreiten, aber natürlich diese Erlöse mindern. Dafür werden sich die Erlöse der Erzeugungsanlagen, die sich überproportional an der Bereitstellung von Momentanreserve beteiligen, durch den Handel mit Inertia Certificates erhöhen. Es scheint also absehbar, dass ein derartiges System den Preis der Momentanreserve, der derzeit nicht vorhanden ist, wesentlich besser an ihren wahren Wert anpassen wird.
Sobald der Preis für Inertia Certificates nämlich von Null verschieden wird, wird es für die Betreiberinnen von Erzeugungsanlagen, die sich aufgrund ihrer Bauart nicht ausreichend an der Bereitstellung von Momentanreserve beteiligen können, folgende vier Möglichkeiten geben:
  • Keine oder geringere Beteiligung an der Energiebereitstellung („Abregeln“). Die Kosten für die Beschaffung von Inertia Certificates erhöhen die Grenzkosten der jeweiligen Anlagen und „normalisieren“ dadurch auch etwas die Merit-Order der Erzeugungsanlagen, indem der Anteil der betriebsabhängigen Kosten gesteigert wird. An dieser Stelle sei schon darauf hingewiesen, dass dies nicht bedeutet, dass die Kosten der Energieversorgung insgesamt steigen werden. Vielmehr bewirken die Inertia Certificates hier eine andere Verteilung der Erlöse unter Wahrung der notwendigen Systemeigenschaft „Vorhandensein von ausreichend Momentanreserve“, während gleichzeitig Situationen zwar mit niedrigeren Energiekosten, aber Unterschreitung der mindestens benötigten Momentanreserve im System mit dem damit verbundenen Risiko höherer Folgekosten vermieden werden. Die Festlegung einer zu erreichenden Mindestanlaufzeit des Systems hat hier eine entscheidende Bedeutung.
  • Erwerb von Inertia Certificates von Erzeugungsanlagen, die die Anforderungen zur Bereitstellung von Momentanreserve übererfüllen. Nachdem es sich dabei über den Verlauf mehrerer Abrechnungsperioden („Zeitscheiben“) um eine variabel zusammengesetzte Gruppe von Erzeugungsanlagen handeln könnte, scheint es sinnvoll, hier Aggregatoren und Makler am Handel teilnehmen zu lassen, um das nachträgliche Clearing zu erleichtern. Durch die dabei anfallende Vergütung wird der Betrieb solcher Anlagen, die derzeit überwiegend zur Gewährleistung von Momentanreserve im System beitragen, wirtschaftlicher. Der Erlös reflektiert dann besser die Rolle dieser Anlagen zur Erhaltung der Systemintegrität.
  • Erwerb von Inertia Certificates von Anlagen, die eigens zur Bereitstellung von Momentanreserve betrieben werden (z.B. Phasenschieber). Sobald ein marktbasierter Preis für die Bereitstellung von Inertia Certificates zur Verfügung steht, werden Geschäftsmodelle möglich, die auf der Bereitstellung von Momentanreserve basieren. Das kann z.B. die Umrüstung bestehender konventioneller Kraftwerke auf den Betrieb als Phasenschieber, ggf. mit erhöhter Schwungmasse, oder die Errichtung eigens dafür vorgesehener Anlagen sein, die im Rahmen eines multimodalen Betriebs auch für die Bereitstellung von Momentanreserve geeignet sind. Sobald Erfahrungswerte zur Ermittlung eines marktbasierten Preises für die Bereitstellung von Momentanreserve vorliegen, besteht auch eine erhöhte Planungssicherheit für solche Geschäftsmodelle.
  • Aufrüstung der eigenen Erzeugungsanlage, um die Bereithaltung von Momentanreserve zu ermöglichen. Dazu können z.B. PV-Anlagen mit einem (verhältnismäßig kleinen, siehe oben) Speicherelement z.B. im Zwischenkreis eines Wechselrichters nachgerüstet und deren Regelalgorithmus so angepasst werden, dass eine Reaktion auf Frequenzgradienten im System erfolgt. Derartige Regelalgorithmen werden z.B. im Rahmen der „virtuellen Synchronmaschine“ bzw. der „virtuellen Schwungmasse“ oder „synthetischen Schwungmasse“ seit längerem entwickelt [4], auch wenn es durch Einschränkungen bei der Stromtragfähigkeit der Ventile von Wechselrichtern und bei der regelungstechnischen Umsetzung zur Messung und Reaktion auf Frequenzgradienten ggf. zu Einschränkungen kommen kann. Die Wirtschaftlichkeit solcher Maßnahmen zur Nachrüstung bestehender oder Auslegung neuer Anlagen lässt sich jedenfalls besser beurteilen, wenn ein marktbasierter Preis für die Momentanreserve zur Verfügung steht, auch wenn hier grundsätzlich und unabhängig von der Methodik für „Inertia Certificates“ die Fragestellung geklärt werden muss, wie „echt“ die realisierte virtuelle Schwungmasse ist bzw. welcher Teil davon als Momentanreserve gewertet werden kann.
Die geographische Verteilung der Schwungmasse innerhalb eines Synchrongebietes und die Struktur des sie verbindenden elektrischen Netzes haben entscheidende Auswirkungen auf mögliche Systemoszillationen einzelner Erzeugungseinheiten mit dem Rest des Netzes bzw. von Gruppen mehrerer Erzeugungseinheiten miteinander. Derartige niederfrequente Oszillationen mit Frequenzen im Bereich 0,1 bis 2 Hz können beispielsweise auch im kontinenaleuropäischen Verbundsystem beobachtet werden. Außerdem kann es während extremer Systemstörungen zum „System Split“, also dem Zerfallen des Synchrongebiets in mehrere vorübergehend getrennte Netzbereiche können, in denen anfänglich massive Unter- oder Überdeckung durch die vorher mit den anderen Netzbereichen ausgetauschte Wirkleistung und entsprechend große Frequenzgradienten auftreten können.
Für solche Fälle ist eine möglichst gleichmäßige, der Verteilung der Erzeugung und des Verbrauchs entsprechende Aufteilung der zur Verfügung stehenden Regelleistung und auch der wirksamen Schwungmasse wünschenswert. Die oben beschriebene Methodik der „Inertia Certificates“ ist, wie oben beschrieben, an die Fahrpläne der Erzeugungseinheiten gekoppelt. Demzufolge bietet es sich auch an, einen Handel mit Inertia Certificates regional auf die jeweiligen Marktgebiete zu begrenzen und einen gebiete-übergreifenden Handel vergleichbar dem mit Regelreserven so abzuwickeln, dass keine zu großen überregionalen Ungleichgewichte entstehen, die sonst im Extremfall problematisch werden könnten. Je nach Ausprägung der Netzstrukturen und bekannter bzw. absehbarer Schwingungsneigung und anderer problematischer Dynamik könnten Regelzonenführer weitergehende Vorgaben machen und über Zu- bzw. Abschläge auf den Preis von Inertia Certificates deren Verteilung steuern, um die Tendenz zu Systemoszillationen und die Systemeigenschaften insgesamt positiv zu beeinflussen. Derartige Fragestellungen sollten und werden voraussichtlich zusammen mit den Betrachtungen zur Festlegung einer (ggf. regelzonen- oder regionalspezifischen) Mindest-Systemanlaufzeit angestellt werden müssen.

4 Konklusion

In diesem Artikel wird das Konzept der „Inertia Certificates“ vorgestellt und die zugrundeliegenden physikalischen Überlegungen zur Schwungmasse in Drehstrom-Verbundsystemen dargelegt. Außerdem wird erläutert, wie ein marktbasierter Handel mit Inertia Certificates eine zu definierende mindestens notwendige Momentanreserve im Verbundsystem sicherstellen könnte.
Alternativ könnte man auch im Rahmen von Netzanschlussbedingungen von allen Erzeugungsanlagen verlangen, ein bestimmtes Maß an Momentanreserve bereitzuhalten. Für diejenigen Anlagen, die derartige Anforderungen derzeit übererfüllen, würde sich dadurch nichts verändern. Bestehende und neue Anlagen, die solche Anforderungen nicht erfüllen, müssten dann jedenfalls wie oben beschrieben nachgerüstet oder von vornherein passend dimensioniert und funktionell ausgerüstet sein. Inwieweit entsprechende Anschlussbedingungen die Integration von Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energieträger stärker belasten würde als zuzukaufende Zertifikate, lässt sich aktuell nicht vollständig abschätzen.
Ein marktbasierter Ansatz für den Handel mit Inertia Certificates würde jedenfalls bessere Voraussetzungen dafür schaffen, die Bereitstellung von Momentanreserve transparent und wirtschaftlich zu gestalten.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen. Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de.

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Fußnoten
1
Nachdem sich aber in der Vergangenheit schon das eine oder andere Paradigma aufgelöst hat, wollen die Autor_innen nicht ausschließen, dass dies für Systemkonstellationen, für die ihnen heute noch die Phantasie fehlt, der Fall sein könnte. An der grundsätzlichen Methodik für Inertia Certificates ändert das aber nichts.
 
Literatur
1.
Zurück zum Zitat Kundur, P. (1994): Power System Stability and Control. New York: McGraw-Hill. Kundur, P. (1994): Power System Stability and Control. New York: McGraw-Hill.
3.
Zurück zum Zitat Gawlik, W., Lechner, A., Schürhuber, R. (2017): Inertia Certificates – Bedeutung und Wert von Momentanreserve für den Verbundnetzbetrieb; Vortrag: IEWT Internationale Energiewirtschaftstagung TU Wien, Wien; 15.02.2017–17.02.2017, in: Klimaziele 2050: Chance für einen Paradigmenwechsel? S. 1–8. Gawlik, W., Lechner, A., Schürhuber, R. (2017): Inertia Certificates – Bedeutung und Wert von Momentanreserve für den Verbundnetzbetrieb; Vortrag: IEWT Internationale Energiewirtschaftstagung TU Wien, Wien; 15.02.2017–17.02.2017, in: Klimaziele 2050: Chance für einen Paradigmenwechsel? S. 1–8.
4.
Zurück zum Zitat Dewenter, T., Werther, B., Hartmann, A. K., Beck, H-P. (2014): Optimierung des dynamischen Verhaltens netzstützender Anlagen am Beispiel der Virtuellen Synchronmaschine. In 13. Symposium Energieinnovation, Graz/Austria, 12.-14. Februar 2014. Dewenter, T., Werther, B., Hartmann, A. K., Beck, H-P. (2014): Optimierung des dynamischen Verhaltens netzstützender Anlagen am Beispiel der Virtuellen Synchronmaschine. In 13. Symposium Energieinnovation, Graz/Austria, 12.-14. Februar 2014.
Metadaten
Titel
Inertia Certificates – Möglichkeiten zur Gewährleistung von ausreichender Momentanreserve im Verbundsystem
verfasst von
Wolfgang Gawlik
Jürgen Marchgraber
Yi Guo
Publikationsdatum
08.11.2021
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
e+i Elektrotechnik und Informationstechnik / Ausgabe 8/2021
Print ISSN: 0932-383X
Elektronische ISSN: 1613-7620
DOI
https://doi.org/10.1007/s00502-021-00940-y

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