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06.05.2013 | Konstruktion + Entwicklung | Interview | Online-Artikel

Probleme mit dem Dreamliner - was lief falsch bei Boeing?

verfasst von: Herbert J. Joka

7:30 Min. Lesedauer

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Fragen an den Luftfahrtexperten Dr. Martin Hinsch, Herausgeber des kürzlich erschienenen Buches „Impulsgeber Luftfahrt - Industrial Leadership durch luftfahrtspezifische Aufbau- und Ablaufkonzepte“: Für die Boeing 787 galt seit Mitte Januar ein Flugverbot aufgrund von Batterieproblemen. Inzwischen starten die Maschinen dieses neuen Flugzeugtyps zwar wieder, aber wie konnte es zu diesem Desaster für den amerikanischen Hersteller kommen?

Springer für Professionals: Der neue Boeing Dreamliner, die B 787, wurde über mehrere Monate hinweg weltweit mit einem Flugverbot belegt. Wie konnte es dazu kommen?

Dr. Martin Hinsch: Die Untersuchungsergebnisse haben ergeben, dass das Dreamliner-Desaster im Januar durch einen Kurzschluss innerhalb einer Lithium-Ionen-Batterie ausgelöst wurde. Die Untersuchungsberichte weisen auf einen Entwicklungsfehler beim japanischen Batteriehersteller hin. Zwar wurde jetzt eine schützende Batterieummantelung entwickelt, um mögliche Batteriebrände unter Kontrolle zu halten, die Ursache selbst ist jedoch noch nicht gefunden.

Die Tragweite dieser Fehlentwicklung zeigt, dass dieser Fall über die bei Flugzeugneuentwicklungen üblichen Kinderkrankheiten hinausgeht. Es deutet doch einiges darauf hin, dass die Lithium-Ionen Technik noch nicht ausgereift, d. h. für die Luftfahrt nicht hinreichend sicher genug ist, um sie in Flugzeugsystemen umfassend zu verwenden. Daher hat zum Beispiel Airbus auch vorerst Abstand davon genommen, Lithium-Ionen-Batterien im A350 einzusetzen.

Wird hinter diesem technischen Problem auch ein Prozessproblem sichtbar?

Die Kernfrage jenseits der eigentlichen Lösungsfindung lautet: Wie konnte ein augenscheinlich nicht ausgereiftes Produkt Teil eines technisch kritischen Flugzeugteilsystems werden? Um derartige Vorfälle zukünftig zu vermeiden, ist der Fokus daher auf die Organisation der bisherigen Produktentwicklung zu richten. Dabei ist das, was dort passiert ist, nicht nur ein Problem der Luftfahrtbranche, wenn Sie beispielsweise an den sogenannten Elchtest bei der Mercedes-A-Klasse oder dem im letzten Oktober eingeführten Apple-eigenen Kartendienst denken. Passieren wird Ähnliches bei fast jedem Projekt. Meist fallen solche Fehlentwicklungen jedoch früher auf.

Was gilt es, im Prozessmanagement – von der Konstruktion bis hin zum Sourcing - zu beachten?

Eine der wesentlichen Herausforderungen im Zuge der Leistungserbringung ist gerade in Großunternehmen die Bewältigung der organisatorischen Komplexität. Dies gilt nicht nur für die Wertschöpfung im eigenen Unternehmen, sondern ebenso für die Steuerung und Überwachung sämtlicher Lieferanten.

Natürlich verfügen die meisten Unternehmen hier über solide ausgearbeitete und dokumentierte Prozesse. Aber was heißt das schon? Letztlich muss ein Betrieb auch umfassendes Wissen und praktische Erfahrungen in der Prozessbeherrschung im Alltag hinreichend qualifiziert vorweisen können. Das kann bei der substanziellen Neuausrichtung einer Organisation eng werden. Je größer das Entwicklungsvorhaben ist, desto evolutionärer müssen daher die Verbesserungen beim Produktentwicklungs- beziehungsweise Herstellungsprozess sein. Revolutionäre Veränderungen haben zwar oft ein innovatives Image, müssen aber immer auch im betrieblichen Alltag umgesetzt werden.

Ich bin daher sehr skeptisch, was plötzliche substanzielle Prozessänderungen anbelangt. Bei großen Konzernen dauert bereits die Änderung eines Formblatts bisweilen drei bis sechs Monate. Wenn ein Unternehmen dann, wie bei Boeing geschehen, innerhalb von drei bis fünf Jahren den Fokus von der Design-Entwicklung und Flugzeug-Herstellung weg, hin zu einer Projektmanagement-Organisation neu ausrichtet, darf man nicht verwundert sein, wenn dafür erhebliches Lehrgeld zu bezahlen ist.

Boeing hat also die eigene Wertschöpfung bei der 787-Entwicklung zurückgefahren. Und was ist daraufhin konkret passiert?

Boeing hatte sich zu Beginn der 787-Entwicklung das Ziel gesetzt, die Entwicklung und Herstellung inklusive der zugehörigen Risiken massiv auszulagern. So sollten etwa 90 % der Kosten gespart oder verlagert werden. In wenige Worte gefasst: Boeing wollte, um dies zu erreichen, lediglich die Basis-Spezifikationen mit den erwarteten Performance-Eigenschaften an die Zulieferer aushändigen und am Ende der Leistungserbringung das Final Assembly des Flugzeugs binnen lediglich weniger Tage vornehmen.

Hierzu musste Boeing natürlich viel stärker als bisher auf ein funktionierendes und synchronisiertes Zuliefernetzwerk bauen können. Mit Beginn des Dreamliner-Projekts wurde dafür die Anzahl der sogenannten Tier-1-Supplier, also der Hauptlieferanten, massiv zusammengestrichen. Zugleich wurden diese Zulieferer, zumeist ebenfalls große Konzerne, stärker in die Verantwortung genommen, indem diese für Design, Herstellung und Systemintegration verantwortlich wurden. Die Tier-1-Supplier wurden also für ganze Flugzeugsegmente verantwortlich gemacht und somit maßgeblich für erhebliche Bestandteile des Gesamtprojekts.

Das Problem dabei war, dass diese Hauptlieferanten in der Akquisitionsphase dieser Leistungen erst einmal viel versprochen haben. Mit den tatsächlichen Umsetzungsherausforderungen hat man sich aber erst hinterher auseinandergesetzt. Dieses Vorgehen ist in der betrieblichen Praxis nicht untypisch. Das Kernproblem war allerdings, dass die Zulieferer zum Zeitpunkt der Auftragsvergabe für derart große Aufgabenpakete mehrheitlich nicht über die notwendigen Kapazitäten verfügten. Sie mussten deswegen in einem mehrjährigen Prozess Standorte aus- oder aufbauen, Personal einstellen sowie Wissen und Erfahrungen etablieren.

Aus Sicht der Organisationsentwicklung und des Technologiemanagements ist bemerkenswert, dass man augenscheinlich laut „hier“ rief, bevor man überhaupt lieferfähig war. Gibt es in der Luftfahrtbranche im Vergleich etwa zur Automobilindustrie vielleicht doch ein anderes Selbstverständnis von Begriffen wie „Prozesse“, „Supply-Chain-Management“ oder der Festlegung des „SOP“, des Standard Operating Procedure?

Branchenunabhängig wird im Vertrieb meist erst einmal "hier" gerufen. Allerdings ging das Problem für Boeing dann erst richtig los: Die Tier-1-Supplier versuchten ihre Kapazitätsprobleme vor allem durch ein verstärktes Outsourcing ihrerseits zu reduzieren, also gewissermaßen den Kelch in der Supply-Chain weiterzureichen. Boeing verlor dadurch logischerweise zunehmend die Kontrolle und musste hinnehmen, dass auch Unterlieferanten einbezogen wurden, die nicht dem Boeing Standard entsprachen. Dies hatte unausweichliche Auswirkungen auf die Qualität und den Zeitplan.

Verstärkt wurden die Probleme im Lieferantennetzwerk zudem dadurch, dass die Entwicklungs- und Herstellungsaktivitäten an Zulieferer auf der ganzen Welt ausgelagert wurden. Dies bedeutete beispielsweise, dass sich das Unternehmen Alenia aus Italien zuständig für die Entwicklung der mittleren Rumpfsektion mit dem japanischen Entwickler der vorderen Rumpfsektion, dem Unternehmen Kawasaki, oder dem Entwickler der Tragflächen, der Firma Mitsubishi, gemeinsam mit Boeing in den USA abstimmen musste.

Die eigentlichen technischen Herausforderungen dürften da fast im Hintergrund gestanden haben. Im Vordergrund standen wohl verstärkt sprachlich-kulturelle Barrieren, die wenig förderlichen Zeitzonenunterschiede sowie voneinander abweichende Sicherheits- und Konfliktlösungskulturen. Die wichtige und letztlich entscheidende Qualität der Kommunikation bleibt in so einem Umfeld meist auf ein Minimum beschränkt - um nicht zu sagen, manchmal auch auf der Strecke. Wenn ich mir diese Interaktionskomplexität vor Augen führe, verdient Boeing schon meine Bewunderung, dass nur die Batteriesysteme Probleme bereiten.

Wo hat, zusammenfassend gesagt, Boeing die Prozessorganisation falsch eingeschätzt?

Zunächst einmal ist der Konzern beim Outsourcing zu weit gegangen, sowohl in der Entwicklung als auch in der Herstellung. Dadurch hat Boeing einerseits zu viel Know-how, also eigene Kernkompetenz an die Zulieferer verlagert, andererseits aber auch einen partiellen und entscheidenden Kontrollverlust über die Zulieferkette hinnehmen müssen. Es deutet doch vieles darauf hin, dass der Aufwand, der mit Beginn der Dreamliner-Entwicklung neu etablierten Supply Chain unterschätzt wurde.

Das Unternehmen wäre mit einem strafferen bzw. intensiveren Projektmanagement deutlich besser gefahren. Dazu hätte auch eine engmaschigere Lieferantenauswahl und -überwachung gehört, und zwar nicht nur auf der Tier-1-Ebene. Boeing hätte dies über die gesamte Lieferkaskade hinweg hinreichend sicherstellen müssen.

Das Unternehmen hat ganz einfach den Überwachungs- und Steuerungsaufwand ihres Zuliefernetzwerks unterschätzt. Als Außenstehender lässt sich dies aber im Rückblick immer leicht sagen, weil einem ja die damaligen Entscheidungsgrundlagen nicht zugänglich waren und sind. Es ist eine rekursive Analyse.

Welche Aufgaben stellen sich dem Boeing-Management?

Das Kind ist ja nun schon in den Brunnen gefallen. Insoweit blieb Boeing zunächst nichts anderes übrig, als so vorzugehen, wie dies in den letzten Monaten mit Hochdruck geschehen ist: Die Fehlerursache finden, ein alternatives Design ausarbeiten, die behördliche Zulassung erwirken, die Herstellverfahren beim Zulieferer anpassen sowie schließlich die neuen Batteriesysteme herstellen und einbauen. Da die Fehlerursache jedoch bisher nicht gefunden werden konnte, wurde parallel eine Möglichkeit zur Eindämmung der Feuergefahr gesucht, gefunden, erprobt, hergestellt und eingebaut. Mit dieser Second-Best-Lösung kann der Flugzeugtyp zumindest wieder den Flugbetrieb aufnehmen.

Die endgültige Lösung kann aber noch Monate dauern. Wie langwierig Entwicklungsänderungen im Flugzeugbau sein können, wissen wir vom A380. Nachdem bei diesem Flugzeugtyp Haarrisse in den Tragflächen identifiziert wurden, dauerte es über ein Jahr, bis die Maschinen ab Werk mit der neuen Konstruktion ausgeliefert werden konnten.

Airbus hatte dabei sogar noch Glück im Unglück, weil die bereits an die Kunden übergebenen Flugzeuge weiter fliegen durften. Bei Boeing indes wurde das Batterie-Problem behördlich als so gefährlich eingestuft, dass die schon in Betrieb befindlichen B 787 aufgrund einer sogenannten Airworthiness Directive, also einer behördlichen Anordnung am Boden bleiben mussten.

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