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Open Access 2023 | OriginalPaper | Buchkapitel

9. Krankheit und die Fairness von Personalmaßnahmen

verfasst von : Anna Gonon

Erschienen in: Eingliederung als Rechtfertigungsarbeit

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Krankheiten von Beschäftigten können im Betrieb zunächst als verminderte Arbeitsleistung wahrgenommen oder mit Konflikten in Zusammenhang gebracht werden. Gerade Vorgesetzte nehmen die Symptome psychischer Krankheiten am Anfang oft als Verhaltens- oder Leistungsprobleme wahr (Baer et al. 2011). Dies kann dazu führen, dass sie zunächst auf die disziplinierenden Instrumente des Personalmanagements zurückgreifen, wie eine schriftliche Ermahnung oder ein formelles Verfahren zur Leistungsverbesserung.
Krankheiten von Beschäftigten können im Betrieb zunächst als verminderte Arbeitsleistung wahrgenommen oder mit Konflikten in Zusammenhang gebracht werden. Gerade Vorgesetzte nehmen die Symptome psychischer Krankheiten am Anfang oft als Verhaltens- oder Leistungsprobleme wahr (Baer et al. 2011). Dies kann dazu führen, dass sie zunächst auf die disziplinierenden Instrumente des Personalmanagements zurückgreifen, wie eine schriftliche Ermahnung oder ein formelles Verfahren zur Leistungsverbesserung. Wenn psychische Erkrankungen durch Konfliktsituationen am Arbeitsplatz ausgelöst oder verstärkt scheinen, nehmen betriebliche Akteure sie mitunter nicht als eigene Problematik wahr, sondern nur als Nebenfolge des Konflikts. Wird ein gesundheitliches Leiden einer Person bekannt, die bereits mit Vorwürfen mangelnder Leistungen oder Fehlverhaltens konfrontiert wurde, stehen die Vorgesetzten und Personalabteilungen vor der Frage, unter welcher Problemkategorie sie die betreffende Mitarbeiterin weiter in den Blick nehmen sollen. Gesundheitliche Einschränkungen werden dann generell kritischer beurteilt (Williams-Whitt und Taras 2010, S. 543). Die in den Betrieben etablierten Verfahren des Personalmanagements, wie das Disziplinarverfahren und das BGM können als Formate analysiert werden, die bestimmte Problemdeutungen und -definitionen unterstützen. Da die Abgrenzung ihrer Zuständigkeitsbereiche keineswegs eindeutig ist, kann es auch zu Überschneidungen von unterschiedlichen Verfahren kommen.
In den drei Unternehmen des Samples gilt der personalpolitische Grundsatz, dass der Gesundheit der Mitarbeitenden Priorität zukommen soll (Abschn. 9.1.1). Die fehlende Berücksichtigung gesundheitlicher Probleme würde als unmenschlich und rücksichtslos erscheinen. Alle drei Unternehmen pflegen ein Image als soziale Arbeitgeberinnen und wollen eine Rufschädigung vermeiden. Der Umgang mit den Gesundheitsproblemen von Mitarbeitenden stellt mithin ein Prüfstein für die Qualität des Arbeitgebers dar. Dies trifft sogar dann zu, wenn diese Gesundheitsprobleme nicht durch ein ärztliches Attest bestätigt sind, wie das Beispiel von Bernhard Aebischer (Abschn. 8.​1) zeigt.
Trotz der erklärten Absicht von Personalverantwortlichen, klar zwischen Krankheit und Pflichtverletzungen im Bereich Leistung oder Verhalten zu trennen, lassen sich im Datenmaterial verschiedene Formen identifizieren, wie sich die Begleitung von Krankheitsfällen und die betrieblichen Systeme des Leistungsmanagements und Disziplinarverfahrens überschneiden oder zueinander in Wechselwirkungen und Widersprüche treten. Zwischen dem BGM und disziplinarischen Maßnahmen in Unternehmen bestehen unauflösliche Spannungen (Cunningham et al. 2004). Ein grundsätzlicher Widerspruch liegt darin, dass das BGM auf den Erhalt des Beschäftigungsverhältnisses hinarbeitet, während das Disziplinarverfahren in letzter Konsequenz auf dessen Beendigung ausgerichtet ist.
Eine Art der widersprüchlichen Verbindung ergibt sich, wenn eine BGM-Begleitung nur als kurzer Unterbruch eines Disziplinarverfahrens eingesetzt wird, bevor ein Mitarbeiter vom Krankheitsfall zum Disziplinarfall umkodiert wird (Abschn. 9.1.3). Umgekehrt wird das BGM als alternatives Verfahren der „Leistungsverbesserung“ und damit als Instrument der Leistungsteuerung genutzt, indem es Beschäftigte an die Erfüllung von Leistungsvorgaben heranführt (Abschn. 9.1.2). Wenn die Beendigung des Arbeitsverhältnisses beschlossen ist, kann das BGM darüber hinaus in den Dienst des Entlassungsverfahrens gestellt werden, indem es die Beteiligten bei der Gesichtswahrung unterstützt und dadurch aus der Arbeitgeberperspektive zu einer „reibungsloseren“ Abwicklung der Entlassung beiträgt (Abschn. 9.1.4).

9.1 Verflechtungen von Krankheits- und Disziplinarfällen

9.1.1 „Gesundheit hat Priorität“

Die interviewten BGM- und Personalverantwortlichen betonen, dass es wichtig ist, Beschäftigte, die krank sind, von solchen zu unterscheiden, deren Leistung und Verhalten nicht den vom Unternehmen verlangten Standards genügen. Ein Personalverantwortlicher umreißt den Anwendungsbereich des Disziplinarverfahrens:
ausgenommen wenn er erkrankt ist, sondern wirklich ... er WILL nicht und er KANN nicht, ja. Aber nicht jetzt aus medizinischen Gründen. Weil das dürften wir ihm ja nicht als ... Strick anlegen, sondern dann gibt es ... also in den Fällen, wo es wirklich klar ist, Leistung, Verhalten, entsprungen aus dem Mitarbeiter selber.
Der Formulierung, nach der ein fiktiver Mitarbeiter nicht will und nicht kann, schiebt der Personalverantwortliche die Erklärung nach „aber nicht jetzt aus medizinischen Gründen“. Damit geht er auf die Möglichkeit ein, dass jemand nicht wollen oder nicht können kann, weil er krank ist. Maßgebend für die Unterscheidung ist laut dem Personalverantwortlichen das Vorliegen einer medizinischen Erklärung. Das Disziplinarverfahren darf demzufolge angewendet werden, wenn ein Unwille oder ein Unvermögen nicht über eine medizinische Erklärung begründet sind. In diesem Fall kann geschlossen werden, dass sie aus den Beschäftigten selbst „entspringen“, also durch diese verschuldet sind, oder in anderen Worten, dass die Beschäftigten schuldfähig sind. Ein interviewter BGM-Verantwortlicher räumt umgekehrt ein, dass die Unterscheidung, ob ein Unwille oder Unvermögen erkrankungsbedingt sind, in gewissen Fällen nicht einmal durch einen Arzt getroffen werden kann: „Also das kann einem wahrscheinlich auch niemand sagen, das kann auch der Arzt nicht sagen, was IST jetzt.“ Selbst wenn eine Diagnose vorliegt, gibt diese keine eindeutige Richtlinie, welche Verhaltensweisen der Krankheit zuzurechnen sind und welche nicht. Die betrieblichen Akteurinnen müssen diese Komplexität selbst bewältigen.
Ein grundlegendes Format, das die Unterscheidung gewährleisten soll, ist die getrennte Erfassung von Krankheits- und Disziplinarfällen in den Systemen des Personal- und Gesundheitsmanagements. In der Komfortia ergibt sich diese aus der Organisation des BGM als separate Fachstelle. In der Celestia sind das BGM und das Disziplinarverfahren in derselben HR-Einheit angesiedelt. Die Zuordnung zu einer Kategorie erfolgt bei der elektronischen Erfassung des Falls durch Mitarbeitende der Fachstelle. Ob eine Beschäftigte als Krankheits- oder Disziplinarfall erfasst werden soll, ist nicht leicht zu entscheiden, wenn sie krankgeschrieben wurde und ihr zusätzlich eine schlechte Leistung vorgeworfen wird.
In beiden Unternehmen orientiert sich die Zuordnung an der Voreinschätzung der Personen, die den Fall melden und in einer Art und Weise beschreiben, dass er unter einer bestimmten Problemkategorie erscheint. Die BGM-Leiterin der Celestia erklärt, dass Fälle in der Regel so erfasst werden, wie sie von den Vorgesetzten gemeldet werden.
Die Schwierigkeit ist wirklich, dass, wenn ich eine ungenügende Leistung habe und ... der kommt so hinein über den Vorgesetzten, dann tue ich den auch so erfassen. So. Und jetzt merke ich nach einem ... nach zwei Gesprächen, ja sorry, es ist schon ungenügende Leistung, aber es ist aufgrund von der Krankheit, oder. Ist es DANN die ungenügende Leistung, die im Vordergrund steht oder die Krankheit? Und das sind so diese Schnittpunkte, die herauszufinden ist noch sehr schwierig.
Auch wenn aus der Sicht der BGM-Verantwortlichen eine Krankheit für die Leistungsprobleme verantwortlich ist, kann eine Mitarbeiterin also als Fall ungenügender Leistung kategorisiert werden. Wurde sie einmal unter einer Problemkategorie erfasst, ergibt sich daraus eine Eigendynamik, die nicht ohne Weiteres wieder zu stoppen ist. Zwar kann der Fall ans BGM verwiesen werden, aber die Fallakte zur ungenügenden Leistung wurde bereits eröffnet und prägt weiterhin die Wahrnehmung der Beteiligten.
Können sich die BGM-Verantwortlichen mit der Einschätzung durchsetzen, dass es sich eigentlich um einen Krankheitsfall handelt, eröffnen sie einen parallelen BGM-Fall und es kommt zu einem Ab- bzw. Unterbruch des auf die Leistung oder den Verhaltensverstoß bezogenen Verfahrens. Um die beiden Problemfälle separat zu behandeln, wird in der Celestia, wo Disziplinar- und der Krankheitsfälle in derselben Abteilung bearbeitet werden, eine andere Fachverantwortliche mit dem Krankheitsfall betraut. Die Bearbeitung der beiden „Fälle“ wird zudem zeitlich gestaffelt. Eine BGM-Verantwortliche der Celestia erklärt:
man sagt, okay, jetzt musst du zuerst gesund werden. Gesundheit hat IMMER Priorität. Weil erst einen gesunden Menschen kannst du dann wieder so gut begleiten, dass er seine Leistung wieder bringen kann und auch fähig ist, an seinem Verhalten vielleicht etwas zu ändern. Darum, Gesundheit kommt zuerst, aber im Hintergrund kann man auch schon sagen, okay, vielleicht ist es auch vorher Leistung gewesen.
Mit dem Prinzip, der Gesundheit „Priorität“ einzuräumen, lässt sich der Anspruch einlösen, dass man Kranke keinem Leistungsverbesserungs- bzw. Disziplinarverfahren unterwirft. Mit der Formulierung „aber im Hintergrund kann man auch schon sagen, okay, vielleicht ist es auch vorher Leistung gewesen“, räumt die BGM-Verantwortliche ein, dass es aus ihrer Sicht neben der Erkrankung noch weitere Problemursachen gibt. Auch hier nimmt sie eine zeitliche Einordnung vor, indem sie davon ausgeht, dass diese andere Problemursache bereits wirkte, bevor es zur Erkrankung kam. Somit erscheint es als legitim, dass man nach der Genesung zu den Vorwürfen an die Betroffenen zurückkehrt und diese weiterverfolgt.
Die prioritäre Berücksichtigung der Gesundheit ist ein Anliegen, das BGM- und Personalverantwortliche vertreten. Gegenüber Vorgesetzten müssen sie dieses bisweilen durchsetzen. Die Einordnung und entsprechende Behandlung eines Falls können zur umkämpften Frage werden. Dies zeigt der Bericht eines BGM-Verantwortlichen der Komfortia: Er erzählt von einem Fall, der bezüglich schlechter Leistung kritisiert und dann krankgeschrieben wurde. Der BGM-Verantwortliche erinnert sich, dass er sich gegenüber den Vorgesetzten dafür eingesetzt hat, auf die Verbesserung des Gesundheitszustands des Betroffenen zu warten und ihm dann eine weitere Chance zu geben, die Leistungsansprüche seiner Funktion zu erfüllen:
jetzt müsst ihr ihm die Chance geben, zurückzukommen und da könnt ihr ihm schon Ziele setzen, ... nach denen er nachher gemessen wird, aber ihn jetzt EINFACH vor die Tür zu stellen, das ... das ist unethisch, das kannst du NICHT machen.
Trotz seines Plädoyers entschieden sich die Führungskräfte zunächst für die – in rechtlicher Hinsicht unproblematische – Kündigung des Arbeitsverhältnisses, ließen sich aber schließlich durch die Argumente des BGM-Verantwortlichen beeinflussen, wie dieser fortfährt:
jetzt in dem Fall hat es zuerst die Info gegeben, ja du, das ist dann, da trennt man sich dann davon und jetzt letzte Woche, vorletzte Woche ist der Business Partner1 plötzlich gekommen und hat trotzdem nochmal hören wollen, wie ich es jetzt, was ich jetzt dazu zu sagen habe und ... jetzt probiert man es trotzdem. Also man hat wohl gemerkt, ja, es ist wohl doch gerade ein bisschen ein harter Weg, ... ich muss jeweils auch sagen, was hättest ... wie würdest DU reagieren, wenn du in dieser Situation wärst. Dass man die einfach im, aus dem Krankheitsstand, und auch wenn man KANN, wenn man DÜRFTE, rechtlich … ich finde es nicht, wir schreiben uns etwas anderes auf die Fahnen.
Der BGM-Verantwortliche betont, dass er und seine Kolleginnen eine anwaltschaftliche Rolle für die Beschäftigten einnehmen und sich bei den Führungskräften gegen voreilige Entlassungen von gesundheitlich angeschlagenen Personen, denen eine mangelnde Leistung vorgeworfen wird, einsetzen:
ohne uns ... würde man einfach einen low performer, ob er jetzt in einer gesundheitlichen Krise ist oder NICHT, würde man eher mal ... sich verabschieden von ihm.
Zur Verteidigung der im Firmenslang als „low performers“ bezeichneten Beschäftigten bringt er, wie die obigen Zitate belegen, moralische Argumente vor. Eine Kündigung von Kranken kritisiert er als „unethisch“. Er fordert die Beteiligten auf, sich in die Betroffenen hineinzuversetzen und erinnert sie daran, dass der geplante Umgang nicht dem entspricht, was sich das Unternehmen „auf die Fahnen schreibt“. Mit Letzterem ruft er die soziale Verantwortung, die sich das Unternehmen wahrzunehmen zuschreibt, in Erinnerung. Damit betreibt er eine moralische Responsibilisierung der Führungskräfte (Nadai und Canoncia 2019).
Ein Disziplinarverfahren bei Krankheit oder eine Entlassung von Beschäftigten, die krank waren, wird mitunter auch von Vorgesetzten als rechtfertigungsbedürftig wahrgenommen. So entschuldigt der Vorgesetzte Bernhard Aebischers (Fallbeispiel 8.1) die Wiederaufnahme des Disziplinarverfahrens im Interview damit, dass dieses eigentlich eine unterstützende Maßnahme sei, die ihm helfe, sich auf die wesentlichen Prioritäten zu fokussieren. Er versucht damit, einer Maßnahme, die auf die Durchsetzung von Leistungs- und Verhaltensvorgaben zielt, den Anschein einer fürsorglichen Intervention zu verleihen. Dies überzeugt wenig, wenn man auch die Wahrnehmung des Betroffenen kennt, der das Disziplinarverfahren als Schikane erlebt (vgl. Abschn. 9.1.3). Es bezeugt aber die Absicht des Vorgesetzten dem Verfahren, zumindest in der Interviewsituation, einen humanen Anstrich zu geben.
Eine andere Vorgesetzte stellt die Auflösung des Arbeitsvertrags mit einem psychisch erkrankten Mitarbeiter als übereinstimmend mit dessen Interessen dar (vgl. Beispiel Ugo Mantovani, Abschn. 9.1.4). Seine Depression interpretiert sie als Ausdruck, dass es ihm in seiner Arbeitsstelle nicht gefällt und leitet daraus ab, dass es auch für ihn das Beste ist, sich eine andere Stelle zu suchen. Dass er nicht sofort entlassen wird, sondern der Vertrag nach einer Frist von sechs Monaten aufgelöst wird, stellt sie als besonders soziales Vorgehen dar.
Werden der Krankheits- und der Disziplinarfall zeitlich gestaffelt, lautet die Frage, ab wann Beschäftigte wieder als genügend gesund gelten, sodass mangelnde Leistungen oder das Nichterfüllen von Verhaltenserwartungen wieder zum Gegenstand von Kritik und Sanktionierung werden dürfen. Auch wenn sie nicht mehr ärztlich krankgeschrieben sind, sind sie unter Umständen noch nicht so belastbar wie vor der Erkrankung. Wie weit eine fortbestehende eingeschränkte Belastbarkeit berücksichtigt wird, obliegt der Willkür der Vorgesetzten. Im Zweifelsfall berufen sich die betrieblichen Akteurinnen auf das Fehlen einer ärztlichen Krankschreibung und leiten daraus ab, dass wieder die volle Arbeitsleistung von den Betroffenen verlangt werden darf. Eine BGM-Verantwortliche formuliert:
wenn du einen gewissen Prozentsatz wieder arbeitest, ... hat das Unternehmen auch Anspruch, dass es die LEISTUNG für diesen Prozentsatz bekommt.
Ärztliche Atteste, die eine (Teil-)Arbeitsunfähigkeit festlegen, stellen also im Prozess der Reintegration ein relevantes Informationsformat dar, das anzeigt, welche Leistung von einer Person erwartet werden darf. Besteht noch eine Teilarbeitsunfähigkeit, darf noch keine volle Leistung erwartet werden. Wurde die ärztliche Krankschreibung jedoch aufgehoben, darf eine mangelnde Leistung aber wieder dem Verschulden der betroffenen Person zugerechnet werden – ungeachtet der Tatsache, dass die Leistungsfähigkeit auch nach der vollständigen Genesung allenfalls noch weiter eingeschränkt sein kann.
In gewissen Fällen wird aber auch eine ärztlich attestierte Arbeitsfähigkeit nicht als verbindlich anerkannt. Im Datenmaterial sind Fällen dokumentiert, bei denen Vorgesetzte, BGM- oder Personalverantwortliche die Legitimität der Krankheit trotz einer Krankschreibung in Frage stellen (vgl. Abschn. 5.​3.​1). Tritt die Erkrankung erst während eines Disziplinarverfahrens auf, interpretieren sie die Krankheit als Reaktion auf die Überforderung mit der Arbeit oder den Stress im Zusammenhang mit den Vorwürfen mangelnder Leistung. Eine BGM-Verantwortliche beschreibt dies als ein typisches, problematisches Verhaltensmuster einiger Beschäftigter:
Aber ich glaube diese Personen müssen irgendwie schon auch eine Prädisposition dazu haben, dass sie dann krank werden, oder eben, das als Lösung sehen, die Krankschreibung.
Sie unterstellt, dass sich gewisse Beschäftigte aktiv für eine Krankschreibung entscheiden und dass sie sich krankschreiben lassen, ohne wirklich krank zu sein. Diese Vorstellung entspricht der Definition einer „arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit ohne Leistungseinschränkung“ (Hassler 2021, S. 124; Pärli et al. 2015, S. 107 f.), bei der die Krankschreibung erfolgt, um eine Person vor belastenden Bedingungen ihres Arbeitsplatzes zu schützen. Obwohl eine solche Krankschreibung durch Ärztinnen erfolgt und aus deren Perspektive nicht unbegründet ist, wird die Krankschreibung von Personalverantwortlichen und Vorgesetzten als eine Handlungsoption verstanden, von der Beschäftigte frei Gebrauch machen können. Krankheitsabwesenheiten werden in diesem Sinne auch als Feld der Konfliktaustragung und des Widerstands der Beschäftigten aufgefasst (Edwards und Scullion 1982). Der Wille, solche Beschäftigte wieder einzugliedern ist deshalb nach der Einschätzung der zitierten BGM-Verantwortlichen gering.
Dafür, ob überhaupt eine Wiedereingliederung angestrebt werden soll, ist die Bereitschaft der direkten Vorgesetzten entscheidend. In der Überzeugung, dass Krankheitsfälle im Rahmen von Disziplinarverfahren meist einer legitimen Grundlage entbehren, sowie vor dem Hintergrund, dass die Entscheidungsmacht über die Wiedereingliederung bei den Vorgesetzten verankert ist, sieht die oben zitierte BGM-Verantwortliche ihre Rolle vorwiegend als Rückendeckung für die Linienvorgesetzten:
Ich muss AUCH schauen, dass die Linie, ja, dass die Linie halt auch ... geschützt wird, ein Stück weit, oder, vor dem Mitarbeiter. Und manchmal … finde ich dann halt auch, vielleicht gibt es jetzt halt wirklich nur noch das, dass wir [das Arbeitsverhältnis] auflösen.
Dieses Zitat steht im Kontrast zu dem vom oben zitierten BGM-Verantwortlichen postulierten Prinzip der Anwaltschaftlichkeit. Der Kontrast belegt zum einen, dass die Rolle der BGM-Verantwortlichen unterschiedlich ausgelegt werden kann. Zum anderen verweist die Haltung der zitierten BGM-Verantwortlichen auf den strukturell bedingt geringen Spielraum des BGM, eine Wiedereingliederung durchzusetzen. In Konfliktfällen bleibt für BGM-Verantwortliche meist nur, die Auflösung des Arbeitsverhältnisses zu begleiten (vgl. dazu Abschn. 9.1.4). Hier zeigt sich die grundsätzliche Spannung zwischen dem Anspruch des BGM, in jedem Fall eine Wiedereingliederung zu versuchen und der strukturellen Abhängigkeit von den Entscheidungen der Vorgesetzten.

9.1.2 Leistungssteuerung durch das Gesundheitsmanagement

Die Arbeitsteilung zwischen dem BGM und den auf Leistung oder Verhalten bezogenen Verfahren des Personalmanagements beruht auf der Annahme einer eindeutigen Kategorisierbarkeit von Mitarbeitenden als „Krankheitsfälle“ oder als Beschäftigte, die Leistungs- oder Verhaltenserwartungen nicht erfüllen. Da die Kategorisierung jedoch nicht immer eindeutig vorzunehmen ist, lässt sich auch die Arbeitsteilung nicht klar einhalten. So kann es geschehen, dass sich die Interventionen des BGM vor allem darauf ausrichten, dass Beschäftigte die Leistungsvorgaben ihrer Funktion wieder erfüllen. Dies zeigt sich im Fall Bernhard Aebischers (Fallbeispiel 8.1), den der BGM-Verantwortliche während einiger Monate darin unterstützt, die Leistungsziele seiner Funktion als Kundenberater wieder zu erreichen. Der BGM-Verantwortliche berichtet:
ich habe ihm dann nachher auch noch einen Trainer, einen internen, zur Verfügung gestellt, organisiert, ... der mit IHM einfach mal anschauen gegangen ist, WIE arbeitet der, oder. Also was, an was könnte es denn liegen. Und die sind zwei Tage unterwegs gewesen miteinander, haben alles von A bis Z miteinander angeschaut.
Ähnliches geschieht auch im Fall Bruno Ramseiers, einem anderen Kundenberater. Dieser arbeitet hauptsächlich von zu Hause aus und sein Vorgesetzter stellt fest, dass er für den Zeitraum von 14 Tagen nichts verkauft hat. Weil er weiß, dass es Bruno Ramseier nicht gut geht, schaltet er das BGM ein. Die Interventionen des zuständigen BGM-Verantwortlichen beziehen sich vor allem darauf, Bruno Ramseier wieder in der Erfüllung der Leistungsstandards zu unterstützen. Wie im herkömmlichen Leistungsmanagement arbeitet er mit der Vorgabe von Zielen, die der Betroffene in einer bestimmten Frist zu erfüllen hat:
Und ich habe nachher, die nächste Intervention ist gewesen, dass ich ihm ein Ziel gegeben habe, was er bis am nächsten Tag gemacht haben muss. Etwas ... total Einfaches, wirklich basicer ginge es gar nicht und von der Menge her, einfach EINE Offerte im System eingeben. Ist etwas, das man sonst einfach ... in zwei drei Minuten hat man das gemacht, aber ist für ihn fast eine unüberwindbare Hürde gewesen. Und ... am nächsten Tag habe ich NACHGEFRAGT. Bruno, ist es dir gelungen, hast du es gemacht? ... Und nachher hat er mir erzählt, wie er sich schwergetan hat, aber nachher hat er es geschafft.
In einem regulären Verfahren zur Leistungsverbesserung wäre ein solch „einfaches“ Ziel wie das Eingeben einer Offerte vermutlich nicht gesetzt worden. Zudem fragt der BGM-Verantwortliche bereits am nächsten Tag nach, ob es Bruno Ramseier gelungen ist, das Ziel zu erfüllen, um ihm ein rasches Erfolgserlebnis zu verschaffen. In der Folge setzt er ihm weitere, schwierigere Ziele, um ihn behutsam an die von ihm erwartete Leistung heranzuführen. Er fährt fort:
Und das ist so der Punkt gewesen, wo ich habe einhängen können, und von da an ist es vorwärts gegangen. Einfach schrittweise. Und da haben wir halt die Ziele ein bisschen erhöht und geschaut, was könntest du jetzt am nächsten Tag, was sind die Wochenziele, jetzt von dir.
Das schrittweise Erhöhen von Zielen und die Verlängerung der Zeitspanne, in der er diese erreichen soll, unterscheiden sich vom Prinzip nicht grundlegend von der verbreiteten Managementstrategie des Steuerns über Ziele, die periodisch überprüft und anschließend erhöht werden und läuft auf eine Logik der kontinuierlichen Selbstübertreffung hinaus (Nadai und Maeder 2008). Im Fall der „sanfteren“ Leistungssteuerung durch das BGM drohen den Beschäftigten keine unmittelbaren Sanktionen, falls sie die Ziele nicht erreichen. Dennoch ist klar, dass der zeitliche Spielraum für die Leistungsoptimierung nicht unbegrenzt ist. Der BGM-Verantwortliche erwähnt, dass er sich in Sitzungen mit Bruno Ramseiers Vorgesetzten und den zuständigen HR-Verantwortlichen für ihn eingesetzt hat, als diesem das „Messer nahe am Hals“ gestanden habe. Bruno Ramseier erreicht nach einiger Zeit wieder die Leistungsstandards, die ihm als Kundenberater gesetzt sind, sodass keine weiteren disziplinarischen Maßnahmen angeschlossen werden.
Insoweit es zur Aufgabe des BGM gehört, sich dafür einzusetzen, dass gesundheitlich eingeschränkte Beschäftigte weiterhin an ihrem Arbeitsplatz tätig sein können, überrascht es nicht, dass die Unterstützung bei der Erfüllung von Leistungszielen zur Eingliederungsarbeit gehören kann. Wenn diese Unterstützung aber auf eine einseitige Anpassung der Beschäftigten an die Anforderungen der Stelle hinausläuft und die Gesundheitsverträglichkeit von Arbeitsbedingungen nicht hinterfragt wird, wird das BGM zu einem Element des erweiterten Leistungsmanagements. In konventionentheoretischer Perspektive ist dies als Beispiel dafür zu lesen, dass betriebliche Formate wie das BGM in der praktischen Anwendung durch die Akteure interpretiert werden.

9.1.3 Verdrängung des Krankheitsfalls durch den Disziplinarfall

So wie das BGM inoffiziell Aufgaben des Leistungsmanagements übernehmen kann, können auf Leistung und Verhalten bezogene Personalprozesse umgekehrt auch bei BGM-Fällen zur Anwendung kommen. In zwei Fällen des Samples läuft parallel zur BGM-Begleitung ein Disziplinarverfahren. Das Disziplinarverfahren kommt generell bei Verstößen gegen Verhaltensregeln oder beim Verfehlen von Leistungszielen zum Einsatz. Ein Personalverantwortlicher beschreibt es mit den folgenden Worten:
[es] heißt ja nichts anderes als schriftlich mit dem Mitarbeiter festzulegen, WAS ist zu verbessern, ... bis WANN ist es zu verbessern und was passiert, wenn es NICHT besser ist. Also ist schon ein bisschen der Druck hoch, oder und das kann dann auch zur TRENNUNG führen, die Auflösung vom Arbeitsverhältnis.
Dieses Zitat enthält die wesentlichen Elemente, auf denen das Format des Disziplinarverfahrens beider Versicherungsunternehmen beruht2: Erstens wird für die Betroffenen ein Verbesserungsauftrag formuliert, zweitens eine Frist für dessen Erfüllung vorgegeben, drittens wird bei (mehrfacher) Nichterfüllung als Konsequenz eine Entlassung angekündigt und viertens wird all dies schriftlich festgehalten. Installiert werden auf diese Weise kontinuierlich aufeinander aufbauende Bewährungsproben für die Beschäftigten. Wie die meisten formalen Disziplinarverfahren in Unternehmen entspricht das Verfahren dem Modell einer „korrektiven“ Disziplin (Henry 1987). Im Gegensatz zur autoritativen oder „punitativen“ Disziplin gewährt dieses Modell den Beschäftigten ein Mitspracherecht und zeichnet sich durch die Formalisierung und Verschriftlichung des Verfahrens aus (Cooke 2006, S. 690). Es beruht auf einer fortschreitenden Sanktionierung, bei der die Entlassung als letzter Ausweg gilt. Das formale Gewähren eines Mitspracherechts zielt laut Hannah Cooke vor allem darauf ab, disziplinierende Maßnahmen als legitim erscheinen zu lassen und Beschwerden zu verhindern.
Das Disziplinarverfahren setzt auf Druck und Sanktionen, was den im BGM verfolgten Ansätzen der Rehabilitation und des stufenweisen Wiedereinstiegs grundsätzlich zuwiderläuft. Anlass für den Wechsel ins Register des Disziplinarverfahrens ist in den betrachteten Fällen der Eindruck bei Vorgesetzten und Personalverantwortlichen, dass sich die Betroffenen aus mangelndem Willen – also durch eigenes Verschulden – nicht an Verhaltensregeln und Leistungserwartungen halten. Dass sie Letzteres dem fehlenden Willen und nicht etwaigen (Nach-)Wirkungen der psychischen Erkrankung zurechnen, liegt nicht primär daran, dass die Betroffenen gemäß ärztlicher Einschätzung wieder arbeitsfähig sind. Ausschlaggebend dafür ist, dass die Vorgesetzten und weitere betriebliche Akteurinnen die Situation als Konflikt wahrnehmen und die Erkrankung für sie gewissermaßen zu einem Nebenschauplatz wird.
Als betriebliches Format muss auch das Disziplinarverfahren in der Anwendung durch die Akteure interpretiert werden. Im Datenmaterial wird es als Instrument genutzt, Beschäftigte zur Einhaltung von Leistungs- und Verhaltensstandards zu bringen. Zugleich kann es als eine Art Gesinnungsprüfung dienen und als Instrument, um rebellierende Beschäftigte in ihre Schranken zu weisen und im Rahmen eines Konflikts einen Führungsanspruch durchzusetzen.
Mit der Begründung, Bernhard Aebischer (Fallbeispiel 8.1) habe gesagt, es gehe ihm „psychisch besser“, entscheiden sich seine Vorgesetzten nach einer Weile zur Wiederaufnahme des Disziplinarverfahrens. Nach einer Formulierung des direkten Vorgesetzten steht der Aspekt der Gesinnungsprüfung zunächst im Vordergrund. Die Zielvereinbarung, die ihm im Rahmen des Disziplinarverfahrens auferlegt wird, enthält Vorgaben, die man durch eine Willensanstrengung leicht erreichen kann, wie der Vorgesetzte ausführt:
uns ist dabei wichtig, dass er, dass man das auch erreichen KANN, wenn man MÖCHTE, wenn man sich anstrengt, wenn man den WILLEN zeigt, bei dieser Firma arbeiten zu wollen und es hat vieles, auch Sachen, die man ganz EINFACH erreichen kann, wie zum Beispiel ... ich gebe Ihnen ein kleines Beispiel, bei jedem Termin eine Agenda, die die Komfortia sowieso vorgibt, zu hinterlegen, wenn man einen Besuch vorbereitet. […] dort ... wird ja dann auch schon vom Mitarbeiter gezeigt, hat er den Willen, überhaupt ... sich in diesem System zu bewegen oder nicht.
Laut dem Vorgesetzten ist das Erreichen dieser Ziele so einfach, dass es nicht am fehlenden Können, sondern nur am mangelnden Willen liegen kann. In dieser Interpretation des Disziplinarverfahrens geht es also nicht um eine tatsächliche Verbesserung der Leistung der Betroffenen. Stattdessen soll durch das Verfahren die Bereitschaft des Beschäftigten überprüft werden, sich den Erwartungen der Vorgesetzten zu beugen und ihre Vorgaben im Arbeitsprozess umzusetzen. Das Disziplinarverfahren soll ihm in anderen Worten die Gelegenheit geben, seine Anpassung an die Ansprüche der Firma und damit seinen Wert als loyale Arbeitskraft zu beweisen. Es handelt sich hier also um eine Interpretation des Disziplinarverfahrens nach der häuslichen Konvention, die auf das Respektieren von gegenseitigen Verpflichtungen im Rahmen hierarchischer sozialer Beziehungen abhebt.
Darüber hinaus kann das Disziplinarverfahren zur Durchsetzung eines Führungsanspruchs genutzt werden, um rebellierenden Beschäftigte in ihre Schranken zu weisen. Dies wird deutlich am Beispiel von Thomas Sommer, einem 60-jährigen Mathematik-Fachspezialisten, der gemäß der Darstellung seiner späteren Vorgesetzten im Zuge einer Reorganisation seine Führungsfunktion verlor.3 Es wurden ihm neue Aufgaben zugeteilt, die nach seinem Empfinden nicht seinen Qualifikationen entsprachen. Zudem wurde ein Teil seines Teams entlassen, ohne dass er in die Entscheidung einbezogen wurde. Dies löste bei ihm laut seiner späteren Vorgesetzten Wut und Widerstand aus. Über längere Zeit suchte er infolgedessen die Konfrontation mit der Führung. Er wurde verdächtigt, Computerbildschirme zerschlagen zu haben. Zwischenzeitlich wurde er aufgrund einer Depression krankgeschrieben und ließ sich in einer psychiatrischen Klinik behandeln.
Als Thomas Sommer an seinem Arbeitsplatz wiedereinsteigt, wird er durch das BGM begleitet. Der Fokus liegt jedoch nicht auf der Erkrankung, sondern auf seinem Verhalten, das weiterhin als Rebellion gegen das Management empfunden wird. Seine direkte Vorgesetzte nimmt ihn als aggressiv wahr:
Also, er ist vor mich hingestanden, von oben herunter, oder, ein großer Mann, und hat mich angeschrien.
Die zuständige BGM-Verantwortliche beschreibt ihn als gewaltbereit:
[Er war einer,] der ... immer gewechselt hat zwischen ... ich sage jetzt das Kleinkind mit Weinen und ... der brüllende Löwe und zwar innerhalb von zwei Minuten, hin und her […] nachher als so ein bisschen diese weinerliche Phase weg gewesen ist, ist er eher so ein bisschen in diese Gewaltphase gekommen und wir haben nie gewusst, wie gewaltbereit ist er wirklich.
Vor dem Hintergrund des akuten Aggressionspotential, das die Vorgesetzte und BGM-Verantwortliche Thomas Sommer zuschreiben, dominiert trotz seiner psychischen Erkrankung die Bedrohlichkeit seines Verhaltens in ihrer Problemdeutung. Zudem erscheint die Erkrankung im Kontext seiner Rebellion gegen die Umstrukturierung als eine Nebenfolge des Konflikts und der daraus resultierenden psychischen Belastung. Um sich vor den Aggressionen zu schützen, eröffnet die Vorgesetzte mit der Unterstützung der BGM-Verantwortlichen ein Disziplinarverfahren, in dem sie Thomas Sommer konkrete Vorgaben machen, welche Art von Äußerungen und Verhalten sie nicht mehr tolerieren wollen. Das Disziplinarverfahren ist hier ein Instrument, ihn in Schranken zu weisen und das ihm zugeschriebene Aggressionspotential einzudämmen. Letztlich dient es der Behauptung des Führungsanspruchs der Vorgesetzten und der endgültigen Durchsetzung der Umstrukturierungsmaßnahmen.
Das Beispiel beleuchtet eine weitere Funktion, die das BGM für das Unternehmen erfüllen kann, nämlich das Auffangen und Abfedern von Wut- und Widerstandsreaktionen von Mitarbeiterinnen, wie sie zum Beispiel infolge von Reorganisationen auftreten können. Thomas Sommers Krankschreibung kommt sowohl in der Darstellung der Vorgesetzten als auch in derjenigen der BGM-Verantwortlichen nur am Rand vor. Daran zeigt sich, dass die Krankheit von Beschäftigten von Vorgesetzten und BGM-Verantwortlichen nur selektiv berücksichtigt wird. Grundvoraussetzung für die Berücksichtigung gesundheitlicher Probleme ist die Kooperationsbereitschaft von Beschäftigten (Abschn. 6.​1). Erscheint das Verhalten eines Mitarbeiters unkooperativ oder gar destruktiv, steht Letzteres im Fokus der betrieblichen Problembearbeitung.
Begünstigt wird diese selektive Fokussierung durch die Interpretationsfolie der so genannten arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit (vgl. Abschn. 9.1.1). Hierbei schreibt eine Ärztin einen Mitarbeiter lediglich für seinen Arbeitsplatz krank, während er in seinem Privatleben keine gesundheitlichen Einschränkungen erleidet und auch in der Lage ist, anderen Arbeiten nachzugehen. Nach Hassler (2021, S. 125) geht es darum, dem Betroffenen eine „temporäre Exit-Option“ aus einer belastenden Arbeitsplatzsituation zu verschaffen. Der Begriff einer arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit ist jedoch insofern irreführend, als eine Arbeitsfähigkeit auch sonst in Bezug auf den konkreten Arbeitsplatz der Betroffenen ausgesprochen werden kann, wie es gerade bei einer Teilarbeitsfähigkeit der Fall ist. Außerdem halten ärztliche Zeugnisse in der Regel nicht fest, dass es sich „nur“ um eine arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit handelt. Zu einer solchen Interpretation gelangen vielmehr die betrieblichen Akteurinnen anhand der Situation und des Verhaltens der Betroffenen. Insbesondere Krankheiten, die im Rahmen eines Konflikts auftreten, stehen leicht im Verdacht, lediglich Nebenerscheinungen oder gar Ausfluchten zu sein und werden deswegen weniger ernst genommen.
HR- und BGM-Verantwortliche betonen in den Interviews, dass es von großer Bedeutung sei, im Rahmen eines Disziplinarverfahrens die vereinbarten Ziele und den Gesprächsverlauf zu protokollieren und anschließend von den Beteiligten, Betroffenen, Vorgesetzten und HR-Verantwortlichen unterzeichnen zu lassen. Eine Vorgesetzte führt aus:
es gibt zuerst ein Kritikgespräch, dass man dem Mitarbeiter sagt, schau, dieses Verhalten von dir ist nicht stimmig, das PASST nicht und man hat jetzt die und die Erwartung an dich. Und ein bisschen aufschreibt, was ist passiert, was haben wir abgemacht und was haben wir als Erwartung. […] Wird protokolliert, soweit, wird von beiden abgenommen, also von der Führungskraft und vom Mitarbeiter und dann schauen wir mal, wie es weitergeht.
Die Verschriftlichung der Vorgeschichte, der Kritikpunkte und der Ziele erzeugen eine einheitliche Version der Problemsituation, welche die Beteiligten mit ihrer Unterschrift ratifizieren. Da Disziplinarverfahren von Führungskräften eröffnet und vorbereitet werden, ist die als allgemeinverbindlich erklärte Version stark durch ihre Perspektive geprägt. Das Mitspracherecht, das den Beschäftigten gewährt werden soll, besteht somit lediglich eingeschränkt. Die betroffenen Beschäftigten haben wenig Spielraum, ihre Problemsicht einzubringen und werden durch die Anlage des Verfahrens dazu geführt, mit ihrer Unterschrift die Version ihrer Vorgesetzten zu bestätigen. Für die Vorgesetzten ist die Verschriftlichung ein Mittel, mit dem sie ihren Forderungen Verbindlichkeit verleihen. Nach der Unterzeichnung erhalten die Betroffenen eine Version des Protokolls. Für Bernhard Aebischer lösen die schriftlichen Vereinbarungen ein Gefühl des Kontrolliertwerdens aus:
ich werde KONTROLLIERT, ich muss diese Dokumente bei jedem Einzelgespräch DABEI HABEN, die wollen von mir in Original wissen, was ich GEMACHT habe.
Die Situation der Unterzeichnung einer solchen Vereinbarung erlebt er als Zwang:
Dann muss ich mir jetzt im Nachhinein auch überlegen, ich habe ja das UNTERSCHRIEBEN. … MANN. ... Zu diesem Zeitpunkt habe ich die Chance gar nicht gehabt, zu überlegen. Ich habe diese Vereinbarung ja nicht mitnehmen dürfen.
Aus der Perspektive des Managements dient die Verschriftlichung des Verfahrens der rechtlichen Absicherung im Fall einer späteren Entlassung. Kommt es zu einer moralischen oder sogar gerichtlichen Anfechtung, eignen sich die Protokolle als Nachweis für die Bemühungen des Unternehmens um einen fairen Prozess (Jones und Saundry 2012, S. 255). So belegen sie, dass eine Mitarbeiterin mehrfach verwarnt wurde und die Chance erhielt, sich an transparenten Verhaltenserwartungen zu orientieren. Die Formalisierung und Verschriftlichung des Verfahrens dienen somit als wesentliche Stützen zur Herstellung „legitimer“ Personalmaßnahmen.

9.1.4 Legitimierung und Gesichtswahrung: die Rolle des BGM bei Entlassungen

Wenn sich Vorgesetzte entscheiden, Beschäftigte zu entlassen, die vorher krankheitsbedingt durch das BGM begleitet wurden, setzt sich dieses für eine „faire“ Beendigung des Arbeitsverhältnisses ein und unterstützt die beteiligten Akteurinnen bei der Gesichtswahrung. Auch damit übernimmt es Funktionen, die nicht direkt mit Gesundheit und Wiedereingliederung zu tun haben. Die Herstellung von legitimen Entscheidungen über disziplinierende Maßnahmen bis hin zur Entlassung wird, wie oben bereits ausgeführt, durch das Format des Disziplinarverfahrens gestützt. Zu vermeiden ist aus der Sicht von BGM- und HR-Verantwortlichen eine oft von Linienvorgesetzten verlangte Entlassung ohne Vorwarnung, die für die Betroffenen nicht nachvollziehbar ist (Jones und Saundry 2012, S. 255). Der Komfortia-Leitfaden zum Disziplinarverfahren hält eingangs fest:
HR Business Partner sind immer wieder mit der Situation konfrontiert, dass Mitarbeitende entlassen werden sollen aufgrund von Leistungs- oder anderen Problemen. Fragt man nach, wurden diese Themen mit den Mitarbeitenden nicht oder nur ungenügend besprochen. In den meisten Fällen sind die Vorkommnisse nicht dokumentiert […]. Für den Mitarbeitenden kommen solche Vorwürfe oft völlig überraschend.
Eine Entlassung muss dem Leitfaden zufolge vorbereitet sein durch vorangegangene, ausreichende Besprechungen sowie eine schriftliche Dokumentation der Probleme. Die Vorwürfe dürfen für die Betroffenen nicht „überraschend“ kommen, sondern sie sollen durch das Disziplinarverfahren schrittweise auf die drohende Konsequenz einer möglichen Entlassung vorbereitet werden. Die Dokumentationspflicht erstreckt sich auch auf die regulären periodischen Leistungsbeurteilungen, wie die BGM-Leiterin der Celestia festhält.
wenn es dann darum geht, um einen Leistungs- eben um einen Bewährungseinsatz4, dann nachher schaut man auch immer die PM5 an. Oder nach dem Motto, wenn du immer ... also der 3er ist in der Mitte und den 6er erreicht niemand, aber wenn du immer 3er gehabt hast, ... dann kannst du nicht einen rausstellen wegen ungenügender Leistung.
Auch in der periodischen Leistungsbeurteilung müssen die Leistungsprobleme abgebildet sein, damit die Vorwürfe nicht aus der Luft gegriffen erscheinen. Obwohl das Disziplinarverfahren kein Kriterium zur Gerechtigkeit von Beschäftigungsentscheidungen bereithält, wird allein durch seine Einhaltung aus der Sicht der Interviewten gewährleistet, dass Entlassungen als fair gelten können. Eine Personalverantwortliche erklärt:
Aber da GIBT es schon eine Weisung, wo die Komfortia sagt, he, wir möchten fair gehen, wir möchten klar kommunizieren und ... ist auch gut für die Linie, also für die Vorgesetzten, die wissen, ... wie muss ich mich daran halten, weil ... ich kann nicht einfach immer nie etwas sagen und dann plötzlich ... so ((schlägt mit der Faust auf den Tisch)) jetzt will ich nicht mehr.
Die „Fairness“ der Entlassung beruht darauf, dass die betroffenen Beschäftigten vorgewarnt waren und eine zweite Chance erhielten – also darauf, dass sich das Unternehmen nachweislich darum bemüht hat, das Arbeitsverhältnis zu erhalten. Diese Art von Legitimität entspricht der Konzeption einer Legitimation durch Verfahren nach Niklas Luhmann (1983). Luhmann zufolge wird mit der Instituierung von Verfahren die Idee verbunden, dass sie eine von Machthabern unabhängige Entscheidung ermöglichen, wobei ausgeblendet wird, dass die Verfahren der Legitimierung ebendieser Macht dienen. Verfahren ermöglichen nur das Zustandekommen von Entscheidungen, indem sie die Kommunikation kanalisieren, nicht jedoch deren Wahrheit oder Gerechtigkeit. Legitimität, die Luhmann als generalisierte Bereitschaft zum „motivlosen Akzeptieren“ bzw. eine „generalisierte Bereitschaft, inhaltlich noch unbestimmte Entscheidungen innerhalb gewisser Toleranzgrenzen hinzunehmen“ beschreibt (ebd. S. 28), wird durch Verfahren aber dennoch hergestellt. Diese beruht auf der Herstellung eines „sozialen Klimas, das die Anerkennung verbindlicher Entscheidungen als Selbstverständlichkeit institutionalisiert und sie nicht als Folge einer persönlichen Entscheidung, sondern als Folge der Geltung der amtlichen Entscheidung ansieht“ (ebd. S. 34). Nach Luhmann ermöglichen Verfahren also ein kollektives „Lernen“ bzw. eine Anpassung der kollektiven, als selbstverständlich akzeptierten Erwartungen.
Im Disziplinarverfahren der beiden Versicherungsunternehmen geht es um eine Anpassung der Erwartungen der Betroffenen (wie auch der anderen beteiligten Akteurinnen). Diese soll erreicht werden, indem man sie Schritt für Schritt auf die Kritik an ihren Leistungen oder ihrem Verhalten aufmerksam macht und sie auf die drohenden Sanktionen vorbereitet. Mit dem Erreichen eines Fairnessempfindens bei den Betroffenen wollen die Unternehmen mitunter verhindern, dass diese nach ihrer Entlassung rechtliche Schritte unternehmen. Die BGM-Leiterin der Celestia erklärt: „auf der ANDEREN Seite geht es natürlich auch darum, dass wir … dadurch, dass wir drin sind, auch sehr viele Rechtsfälle … gar nicht … zum Thema machen lassen können“.
Für Vorgesetzte bringt das Disziplinarverfahren jedoch den Nachteil mit sich, dass sie unliebsame Beschäftigte länger in ihren Teams behalten müssen als sie wollen, wie die BGM-Leiterin der Celestia ausführt. Sie empfiehlt daher in Führungsschulungen, Leistungs- und Verhaltensprobleme „frühzeitig“ zu melden, damit ein Disziplinarverfahren eingeleitet werden kann und man die Arbeitsverhältnisse schneller auflösen kann. Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass das Format des Disziplinarverfahrens die Vorgesetzten auch von einem gewissen Rechtfertigungsaufwand entlastet, indem es zur Legitimierung von Sanktionen und Entlassungen beiträgt.
Das Disziplinarverfahren stellt also ein Format zur Gewährleistung von Entlassungen dar, die möglichst wenig Angriffsfläche bieten. Darüber hinaus stellt die Auflösung des Arbeitsvertrags „in gegenseitigem Einvernehmen“ ein weiteres Format dar, das zur Akzeptanz von Entlassungen beitragen soll. Arbeitgeberseitige Kündigungen haben aus der Sicht der HR- und BGM-Verantwortlichen den Status einer „Ultima Ratio“, wie es ein Personalverantwortlicher formuliert und werden nach Möglichkeit vermieden. Gerade im Kontext einer (bis vor Kurzem bestehenden) Arbeitsunfähigkeit erscheint die Kündigung durch den Arbeitgeber als unsozial. Eine arbeitgeberseitige Kündigung wird zudem als Nachteil für die Betroffenen bei der weiteren Arbeitssuche gesehen, die ihren Wert auf dem Arbeitsmarkt mindert. Eine aus HR- und BGM-Sicht „sozialverträglichere“ Variante der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses ist die so genannte Aufhebung, d. h. die Auflösung des Arbeitsvertrags in deklariertem gegenseitigem Einvernehmen. Diese stelle die Betroffenen dadurch besser, dass sie eine längere Kündigungsfrist und allenfalls sogar Unterstützung bei der beruflichen Umorientierung erhalten. Beschäftigte, die sich noch im Genesungsprozess befinden, sollen sich in dieser Zeit erholen, um dann gesund auf Stellensuche gehen zu können. Zentral erscheint auch, dass die Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht im Konflikt erfolgt, was ein negatives Signal bezüglich der sozialen und beruflichen Kompetenzen der Betroffenen aussenden würde. Der Auflösungsvertrag dient sowohl der Gesichtswahrung des Unternehmens als soziale Arbeitgeberin als auch derjenigen des Betroffenen als valable Arbeitskraft. Es sei angemerkt, dass sich die Qualität als „sozialer“ Arbeitgeber hierbei darauf beschränkt, gesundheitlich angeschlagenen Mitarbeitenden keine allzu nachteiligen Konditionen bei der Entlassung zu bieten (Nadai et al. 2019, S. 160), was man höchstens als stark reduzierte Interpretation einer Arbeitgeberverantwortung bezeichnen kann.
Wie sich im Material zeigt, kann auch das BGM als betriebliches Format dazu beitragen, Entlassungen als „fair“ erscheinen zu lassen. Zur Rolle der BGM-Verantwortlichen kann es nämlich gehören, Vorgesetzten, die zur Kündigung entschlossen sind, die Möglichkeit einer einvernehmlichen Vertragsauflösung zu unterbreiten. Dies geschieht im Beispiel des 34-jährigen Ugo Mantovani, Mitarbeiter einer Abteilung, die Schadenfälle bearbeitet. Als er zum zweiten Mal wegen einer Depression ausfällt, schickt er seiner Vorgesetzten Gerda Rensch kommentarlos ein Attest. Auf ihre Kontaktversuche reagiert er in den ersten Wochen nicht, bis sie ihn mit einer eingeschriebenen Kündigungsandrohung dazu auffordert, sich zu melden. Durch den Kontakt wird für Gerda Rensch absehbar, dass Ugo Mantovani mehrere Monate fehlen wird. Für sie ist es damit eine beschlossene Sache, dass sie auf den frühestmöglichen Zeitpunkt kündigen will. Sie erinnert sich:
In einer ersten Wut drin steht man auch mal hin und sagt, der muss mir gar nicht mehr kommen, ich will den gar nicht mehr sehen, das BRINGT mir einfach nichts, das ist nur ARBEIT und NERVEN und sonst gar nichts.
Gerda Rensch unterstellt Ugo Mantovani, dass die Krankheit nicht so gravierend sein kann und rückt davon ausgehend nicht den Krankheitsfall, sondern seine Unzuverlässigkeit in den Vordergrund. Der Impuls zur schnellstmöglichen Kündigung wird jedoch durch die BGM-Verantwortliche Nicole Wagner gebremst. Sie schlägt vor, über einen Auflösungsvertrag zu verhandeln. Gerda Rensch lobt nachträglich dieses Vorgehen und bringt es mit der sozial verantwortlichen Haltung der Firma in Verbindung:
und dort ist wirklich die Komfortia so weit und sagt, nein, hör zu, lass ihn wieder kommen, gib ihm diese Möglichkeit, dass er sich aus dem Arbeitsprozess heraus wieder eingliedern kann und schlussendlich muss ich sagen, doch, es ist die richtige Entscheidung gewesen, auch wenn ich so im ersten Moment das Gefühl gehabt habe, ((lacht)) nein, ich kann das nicht, ich habe die Schnauze voll. Aber im zweiten Moment muss ich sagen, das ist das, was die Komfortia auszeichnet.
Die BGM-Verantwortliche stellt den Wunsch der Vorgesetzten, ihren Mitarbeiter zu entlassen, nicht in Frage, sondern bemüht sich in der Folge um eine Variante der Entlassung, die sowohl für die Vorgesetzte und das Unternehmen als auch für den Betroffenen gesichtswahrend ist.
Damit ein Auflösungsvertrag zustande kommt, muss Einvernehmlichkeit bestehen. Wie das Beispiel Ugo Mantovanis zeigt, können BGM-Verantwortliche einen Beitrag zur Herstellung dieser „Einvernehmlichkeit“ leisten. Die Beschreibungen der Vorgesetzten Gerda Rensch wie auch des Mitarbeiters Ugo Mantovani stützen die Interpretation, dass die BGM-Verantwortliche Nicole Wagner den Wunsch nach einem Auflösungsvertrag zwischen den beiden Vertragsparteien vermittelt hat. Gerda Rensch erinnert sich, dass Nicole Wagner die Beendigung des Arbeitsverhältnisses über einen Auflösungsvertrag mit Ugo Mantovani „intensiv besprochen“ hat und ihm dabei half, dies „als Chance“ zu sehen. Davon ausgehend lässt sich mutmaßen, dass sie es als ihren Auftrag ansah, Ugo Mantovanis Einverständnis zu gewinnen und so eine einvernehmliche Variante der Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu ermöglichen. Ugo Mantovani erinnert sich, dass er in einem der Gespräche mit Nicole Wagner äußerte, dass er in Bezug auf seine Arbeit „die Schnauze gestrichen voll hat“. An Nicole Wagners Reaktion erinnert er sich wie folgt:
dann hat sie gesagt, ja, also, sie geht mit dem HR schwätzen, wie es aussieht und so, und dann hat sie es eigentlich vorab so ... so ein bisschen gemanagt.
Was Nicole Wagner konkret „gemanagt“ hat, bleibt unklar. Deutlich wird aber, dass sie aus seiner Bekundung von Unzufriedenheit den Auftrag ableitete, die Perspektiven zur Veränderung der Situation zu klären („wie es aussieht und so“). Aus der Charakterisierung, dass Nicole Wagner es „vorab“ gemanagt hat, lässt sich schließen, dass sie noch während der Zeit seiner Arbeitsunfähigkeit, also bevor er wieder an den Arbeitsplatz zurückkehrte, den Auflösungsvertrag in die Wege leitete. Dass Nicole Wagner seinen Wunsch nach einer Veränderung selektiv als Wunsch zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses interpretierte, kommentiert Ugo Mantovani im Interview nicht. Vielmehr lässt seine Erzählung das Bemühen erkennen, den Ausgang der Situation als seinen eigenen Wünschen entsprechend darzustellen.
Nicole Wagner lenkt Ugo Mantovanis Deutung seiner eigenen Wünsche und Bedürfnisse somit in eine Richtung, die mit den Wünschen seiner Vorgesetzten konform sind. Er erinnert sich, dass sich „im Nachhinein“, also nachdem er Nicole Wagner von seiner Unzufriedenheit erzählt hat, zeigte, dass seine Vorgesetzte „ähnlich tickt“ und „gespürt“ hat, dass er „weg will“. Seine vormals als diffuse Unzufriedenheit formulierte Perspektive hat er in dieser Formulierung selbst zum Wunsch, das Unternehmen zu verlassen, zugespitzt. Mantovani legt im gesamten Interview auffälligen Wert darauf, die Beendigung des Arbeitsverhältnisses als seinen eigenen Wunsch auszuweisen:
Aufhebungsvertrag ist eigentlich beidseitiges Einvernehmen. Aber eben, es ist ja auf Wunsch von mir, weil, ich habe gesagt, ein halbes Jahr gebe ich mir Zeit, mich zu bewerben, das sieht eigentlich auch alles ganz gut aus.
An anderen Stellen relativiert er mit seiner Wortwahl, dass die Beendigung des Arbeitsverhältnisses von Anfang an seinen Wünschen entsprach:
und so [mit dem Auflösungsvertrag] ist es im Prinzip eigentlich der Entscheid von mir, was ja eigentlich auch stimmt.
Die Ausdrücke „im Prinzip“ und „was ja eigentlich auch stimmt“ geben Anlass zur Vermutung, dass er erst mit der Zeit zu dieser Ansicht gelangte. Durch den Auflösungsvertrag erscheint die Beendigung des Arbeitsverhältnisses als seinen Wünschen entsprechend. Ihm wird nicht gekündigt, vielmehr kann er die Vertragsauflösung auf diese Weise als Konsequenz aus seiner Unzufriedenheit mit seiner Arbeitssituation rahmen. Dies deutet auf einen Prozess des Cooling out hin, der nach der dargelegten Analyse im Wesentlichen durch die BGM-Verantwortliche vorangetrieben wurde.
Als Cooling out bezeichnet Erving Goffman in seinem 1952 erschienen Aufsatz On Cooling the Mark Out den sozialen Prozess, eine Person, deren Selbstbild und Status durch Scheitern bedroht sind, mit ihrem Statusverlust zu versöhnen. Dabei werden der Person neue Selbstdeutungen angeboten, die ihr helfen sollen, sich mit der veränderten Situation abzufinden (vgl. Nadai 2007). Nicole Wagner unterstützt Ugo Mantovani nicht nur darin, die Beendigung des Arbeitsverhältnisses als seinen eigenen Wünschen entsprechend zu verstehen, sondern auch in einer Selbstdeutung, der zufolge es ihm an einer anderen Arbeitsstelle viel besser gehen wird. Zur bevorstehenden Auflösung seines Vertrags resümiert er zum Ende des Interviews, dies sei „das Beste, was [ihm] passieren“ konnte.
Cooling out kann als eine weitere Funktion angesehen werden, die das BGM in Unternehmen erfüllt (vgl. auch Hassler 2021, S. 168–172). Ein solches erfolgt nicht nur bei Beschäftigten, denen eine Entlassung droht, sondern auch bei solchen, die nach ihrer Erkrankung nicht mehr in ihrer angestammten Funktion tätig sein können, oder auch bei Unzufriedenheiten nach Reorganisationen, wenn Beschäftigte die ihnen neu zugewiesene Funktion als Degradierung erleben.

9.2 Widersprüchliche Logiken des Personalmanagements

Das BGM und das Disziplinarverfahren lassen sich als betriebliche Formate beschreiben, die unterschiedliche und widersprüchliche Deutungen und Herangehensweisen an die Probleme transportieren, die sich Vorgesetzten und Personalverantwortlichen in Bezug auf Beschäftigte stellen. Das BGM stützt die Interpretationsfolie der unverschuldeten Krankheit, während das Disziplinarverfahren die Deutung eines durch die Mitarbeiterin verschuldeten Fehlverhaltens oder Leistungsproblems nahelegt; das BGM steht für Therapie und Wiedereingliederung, während das Disziplinarverfahren auf Druck und Sanktionen setzt und in letzter Konsequenz auf die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zielt. Wie in Abschn. 9.1 dargelegt, können beide Formate des Personalmanagements aber auf unterschiedliche Weise interpretiert und angewendet werden. So kann in der Begleitung eines Mitarbeiters durch das BGM nicht die Bewältigung der Krankheit und des beruflichen Wiedereinstiegs im Vordergrund stehen, sondern das Erreichen von Leistungsvorgaben oder eine Begleitung im Hinblick auf die Beendigung des Arbeitsverhältnisses. BGM-Verantwortliche tragen auf verschiedene Weise dazu bei, Managemententscheidungen gegenüber Beschäftigten durchzusetzen. Zum Beispiel können sie bei der Durchsetzung von Reorganisationen eine Rolle spielen, indem sie Widerstandsreaktionen von Beschäftigten unter dem Label „gesundheitlicher Probleme“ auffangen und abfedern oder diese mit der Perspektive ihrer drohenden Entlassung versöhnen. Das Disziplinarverfahren wird umgekehrt von den Interviewten nicht nur als Sanktionsmaßnahme dargestellt, sondern auch als „zweite Chance“ für Beschäftigte, die man – rechtlich legal – auch direkt hätte entlassen können.
Das Beispiel psychischer Erkrankungen von Beschäftigten verdeutlicht, dass Krankheit und das Verfehlen von Leistungs- bzw. Verhaltenszielen aus der Sicht des Personalmanagements der untersuchten Unternehmen verwandte Probleme darstellen. Beide müssen hinsichtlich ihrer unterstellten Auswirkungen auf die betriebliche Produktivität gemanagt werden. Der Umgang mit solchen Beschäftigten stellt zugleich das Selbstverständnis, ein fairer Arbeitgeber zu sein, auf die Probe. In den folgenden Abschnitten führe ich die These aus, dass das BGM und das Disziplinarverfahren beide zur Aufrechterhaltung eines personalpolitischen Kompromisses zwischen diesen unterschiedlichen Anforderungen beitragen.
Die Situation, dass gesundheitlich angeschlagene Beschäftigte Leistungs- oder Verhaltenserwartungen nicht erfüllen, bedeutet für Unternehmen eine Konfrontation widersprüchlicher Logiken, die in der Beschäftigungsbeziehung Relevanz haben. Ein Verfehlen von Leistungszielen kann dazu führen, dass Einbußen bezüglich Produktivität entstehen. Das sofortige Aussprechen einer Kündigung auf den frühestmöglichen Zeitpunkt würde in den untersuchten Unternehmen umgekehrt als unsozial erscheinen, da sich alle drei als sozialverantwortliche Arbeitgeber verstehen und präsentieren. In dieser Situation treffen also widerstreitende Wertigkeiten und entsprechende Prinzipien der Koordination aufeinander.
Anstelle eines Streits, welcher Koordinationslogik Priorität eingeräumt werden soll, können gemäß der Soziologie der Konventionen Kompromisse gebildet werden, die den direkten Konflikt dieser Logiken unterdrücken, ohne eine Entscheidung herbeizuführen:
In einem Kompromiss einigt man sich auf gütlichem Wege, das heißt, man verständigt sich darauf, die Auseinandersetzung auszusetzen, ohne dass sie sich durch die Durchführung einer Prüfung in einer einzigen Welt auf einvernehmliche Weise wirklich hat beseitigen lassen. Die Kompromisssituation bleibt hybrid, aber der Streit ließ sich vermeiden. Wesen, die in verschiedenen Welten Relevanz haben, können durchaus noch präsent sein, ohne dass sie zu Meinungsverschiedenheiten Anlass geben, sollte man ihrer gewahr werden. (Boltanski und Thévenot 2007, S. 367).
Kompromisse stellen also „Hybride“ dar, in denen verschiedene Koordinationslogiken präsent sind. Nach Lisa Knoll (2015, S. 13) werden „[i]n einem Kompromiss unterschiedliche Wertigkeiten ineinander gewoben […], ohne dass ihre Unterschiedlichkeit problematisiert wird.“ Als „Hybride“ sind Kompromisse jedoch kritikanfällig und fragil. Stabiler werden sie durch Institutionalisierung, also wenn die verschiedenen „Welten“ zugehörigen Elemente dauerhaft zusammengefügt und als Ganzes mit einer eigenen Identität ausgestattet werden.
Mit dieser Begrifflichkeit lassen sich das BGM und das Disziplinarverfahren als Formate eines institutionalisierten Kompromisses analysieren. Beide enthalten Elemente, die Personalmaßnahmen als sozial verantwortlich und damit als gesellschaftlich legitim erscheinen lassen sollen und dienen gleichzeitig der Kontrolle von Personalkosten und der Optimierung von Produktivität. Durch das wiederholte Durchführen von Bewährungsproben, in denen die Beschäftigten in den Worten eines Vorgesetzten vor allem den „guten Willen“ zeigen müssen, sich den Erwartungen des Unternehmens anzupassen, räumt das Disziplinarverfahren der häuslichen Konvention ein gewisses Gewicht ein. Sie bietet den Beschäftigten die Möglichkeit sich gegenüber ihren Vorgesetzten, „ehrerbietig“ zu verhalten, indem sie die mit ihrer sozialen Position verbundenen Pflichten akzeptieren und dies im Rahmen der institutionalisierten Bewährungsprobe demonstrieren (Boltanski und Thévenot 2007, S. 237). Zugleich ist die Anzahl der vorgesehenen Bewährungsproben begrenzt. Nach mehrfacher Wiederholung kann es zu einer Kündigung kommen, wodurch die entstehende Produktivitätseinbuße und damit die industrielle Konvention in Rechnung gestellt wird. Das Disziplinarverfahren stellt durch seine Formalisierung ein Instrument dar, das die Beendigung des Arbeitsverhältnisses insofern als legitim erscheinen lässt, als ein transparent kommuniziertes, klar geregeltes Prozedere eingehalten wird.
Wird zusätzlich das BGM involviert, kann zunächst die Genesung der betroffenen Beschäftigten in den Fokus gestellt werden. Das Nichterfüllen von Leistungs- und Verhaltenserwartungen erscheint mit dem Blick auf eine (möglicherweise) im Hintergrund stehende psychische Erkrankung als unverschuldet. Die Pflicht, Leistungsvorgaben zu erfüllen, kann so vorübergehend aufgehoben werden. An die Beschäftigten wird stattdessen die Erwartung gerichtet, im Rahmen des Möglichen zu einer schnellen Genesung beizutragen (vgl. Abschn. 6.​1.​1). Die Betrachtung der Situation unter dem Aspekt von Gesundheitsproblemen führt also zu einer temporären Neudefinition der Pflichten der Betroffenen und verstärkt zugleich die Pflicht des Unternehmens, eine soziale Verantwortung wahrzunehmen. Personalmaßnahmen erscheinen in den beiden Versicherungsunternehmen, wie aus dem bisher Dargestellten folgt, dann als angemessen und fair, wenn Gesundheitsprobleme von Beschäftigten als Faktoren für eine verminderte Leistung oder ein „schwieriges“ Verhalten berücksichtigt werden. Das BGM, das als betriebliche Fachstelle die Gesundheit der Beschäftigten ins Zentrum stellt, trägt entscheidend dazu bei, Personalmaßnahmen in dieser Hinsicht als fair erscheinen zu lassen und dadurch die Qualität des Unternehmens als „soziale“ Arbeitgeberin hervorzubringen. Diese „soziale“ Qualität ist indes als stark limitiert zu beurteilen: Die Verantwortung beschränkt sich in den untersuchten Betrieben darauf, während einer begrenzten Zeitspanne Bemühungen zur Wiedereingliederung zu unternehmen. Wenn die Betroffenen die Leistungsanforderungen ihrer Stelle nach einem bis maximal zwei Jahren noch nicht erfüllen, wird das Arbeitsverhältnis in der Regel aufgelöst. Dies entspricht dem Muster einer „temporären Duldung“ von Arbeitskräften mit gesundheitlichen Einschränkungen (Nadai et al. 2019, S. 164–168).
Das Vorliegen einer ärztlich attestierten Arbeitsunfähigkeit führt umgekehrt nicht immer dazu, dass eine eingeschränkte Leistungsfähigkeit als unverschuldet wahrgenommen wird. Mit der Interpretationsfolie einer „arbeitsplatzbezogenen“ Arbeitsunfähigkeit können auch ärztlich bescheinigte Gesundheitsprobleme als Ausdruck von Unbehagen an der Arbeitsstelle oder als eine Art von Widerstand gegen Weisungen des Managements gedeutet werden. In diesem Fall erscheinen die Pflichten kranker Beschäftigter verletzt und die über die häusliche Konvention, d. h. die Kooperation und Pflichterfüllung der Beschäftigten begründete Verantwortung entfällt. Dies kann dazu führen, dass auch bei Kranken ein Disziplinarverfahren durchgeführt wird. Hierin offenbart sich ein weiterer Charakterzug, den die soziale Verantwortung gegenüber gesundheitlich eingeschränkten Beschäftigten in den untersuchten Unternehmen annimmt: Die Unterstützung des BGM bei der Reintegration am Arbeitsplatz wird nicht als selbstverständliches Anrecht betrachtet, sondern als unter der Bedingung von Wohlverhalten zugestandenes Privileg.
Die Forschungsliteratur zur Arbeitsmarktintegration psychisch Erkrankter geht davon aus, dass ein systematischeres Erkennen und Berücksichtigen psychischer Erkrankungen als Ursachen von Leistungs- und Verhaltensproblemen den Erhalt von Arbeitsplätzen erleichtern würde (OECD 2014, S. 40; Baer et al. 2011). Wie das Datenmaterial der vorliegenden Studie zeigt, führt die Einordnung als gesundheitliches Problem in den drei Unternehmen aber nicht zwingend zu stärkeren Bemühungen um den Arbeitsplatzerhalt. Der Einbezug des BGM schafft zwar theoretisch die Gelegenheit, die Problemsituation unter dem Vorzeichen der gesundheitlichen Einschränkung und im Hinblick auf das Ziel der Arbeitsintegration zu rahmen. Sind die betrieblichen Akteurinnen jedoch der Meinung, dass die Betroffenen sich nicht gemäß den Erwartungen an die betriebliche Krankenrolle verhalten, fehlt aus ihrer Sicht die Grundlage für eine weitere Beschäftigung und Wiedereingliederung.
Im personalpolitischen Kompromiss zwischen Optimierung von Kosten und Produktionsabläufen einerseits und der Berücksichtigung einer sozialen Verpflichtung gegenüber gesundheitlich angeschlagenen Beschäftigten andererseits wird durch das BGM und das Disziplinarverfahren nur eine schwache Interpretation betrieblicher sozialer Verantwortung verankert, die zeitlich begrenzt und vom kooperativen Verhalten der Betroffenen abhängig ist. Soziale Verantwortung wird bisweilen auf das Einhalten bestimmter äußerlicher Formen reduziert, wie das prozedurale Berücksichtigen von Gesundheitsproblemen oder die wiederholte Thematisierung von Leistungs- und Verhaltenserwartungen im Rahmen von Disziplinarverfahren. Diese Verfahren dienen primär dazu, eine Wahrnehmung von Legitimität zu erzeugen und sich gegenüber Kritik weniger anfechtbar zu machen.
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Fußnoten
1
Ausdruck für Personalverantwortliche, die Ansprechpersonen für Linienvorgesetzte sind.
 
2
Für den Industriebetrieb liegen dazu keine Daten vor.
 
3
Die Fallrekonstruktion beruht auf dem Interview mit der direkten Vorgesetzten von Thomas Sommer, sowie der zuständigen BGM-Verantwortlichen. Mit Thomas Sommer selbst konnte kein Interview geführt werden.
 
4
Ausdruck für Disziplinarverfahren.
 
5
Damit ist die periodische Leistungsbewertung der Beschäftigten gemeint.
 
Metadaten
Titel
Krankheit und die Fairness von Personalmaßnahmen
verfasst von
Anna Gonon
Copyright-Jahr
2023
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-41117-6_9

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