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2002 | Buch

Vom Egozentrismus zum Universalismus

Entwicklungsbedingungen moralischer Urteilskompetenz

verfasst von: Thomas Bienengräber

Verlag: Deutscher Universitätsverlag

Buchreihe : Sozialwissenschaft

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Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
1. Problemstellung
Zusammenfassung
Als im Jahr 1995 in den Medien veröffentlicht wurde, daß ein internationaler Erdölkonzern plane, eine seiner Erdölplattformen auszurangieren und im Meer zu versenken (vgl. Ulrich 1996), reagierte die Öffentlichkeit größtenteils mit Empörung auf diesen Sachverhalt1. Es herrschte weitgehende Übereinstimmung in der öffentlichen Meinung darüber, daß dieses Vorhaben als verwerflich zu bezeichnen wäre. Liest man aber bspw. den Brief, den Martin Luther King 1963 aus dem Gefängnis in Birmingham schrieb und in dem er die Frage nach „gerechten“ und „ungerechten Gesetzen„ aufwirft (vgl. Garz 1996, 120–121), so gibt es möglicherweise nicht so große Übereinstimmung hinsichtlich der Frage, ob das Verhalten dieses Bürgerrechtlers, das zu seiner Verhaftung geführt hatte2, „richtig„ oder „falsch„ war, und die Reaktionen sind wahrscheinlich von „Zustimmung“ bis „Empörung“ weit gestreut. Gemeinsam ist den beiden beschriebenen Situationen jedoch, daß sie dazu geeignet sind, dem Leser eine Entscheidung darüber abzuverlangen, ob die beschriebenen Sachverhalte als „positiv„ oder als „negativ„ zu bewerten sind. Solche Urteile werden anhand bestimmter Ansichten, Einstellungen oder auch Einschätzungen darüber gefüllt, welche Verhaltensweisen im Umgang mit anderen Menschen als „gut„ oder „böse„, „richtig„ oder „falsch„ einzuschätzen sind (vgl. Kohlberg 1997 a, 7), und diese Urteile, mit denen eine bestimmte eigene oder fremde Handlung oder Vorgehensweise, die möglicherweise mittelbaren oder unmittelbaren Einfluß auf andere Menschen hat, bewertet wird, lassen sich als „moralische Urteile„ bezeichnen. Bei der Beschäftigung mit diesem Thema eröffnet sich ein Gebiet, das „schon vor langem als ein zentraler Problembereich der Sozialwissenschaften erkannt worden ist (ebd.)3.
Thomas Bienengräber
2. Die Stufentheorie von Lawrence Kohlberg — Beschreibung und Analyse
Zusammenfassung
Bei der Fähigkeit, moralische Urteile zu fällen, handelt es sich nicht um eine Begabung, die bereits bei der Geburt vorhanden ist; vielmehr wird sie im Laufe des menschlichen Lebens bei dem einen Individuum in starker, bei dem anderen in weniger starker Weise ausgeprägt. Der amerikanische Psychologe Lawrence Kohlberg hat eine Theorie entwickelt, derzufolge diese Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit abhängig von bestimmten Faktoren über verschiedene Niveaus und unterschiedliche Stufen verläuft, den kognitionszentrierten entwicklungspsychologischen Ansatz, der auch unter dem Begriff der Stufentheorie der moralischen Entwicklung bekannt ist. Er basiert im wesentlichen auf dem strukturgenetischen Ansatz der kognitiven Entwicklung des schweizer Psychologen Jean Piaget.
Thomas Bienengräber
3. Die Konzeption der Entwicklungsbedingungen moralischen Denkens nach Wolfgang Lempert — Beschreibung und Analyse
Zusammenfassung
Wolfgang Lempert versucht mit seiner Konzeption sozialer Bedingungen der Entwicklung moralischen Denkens einen Beitrag zur Analyse von Veränderungen moralischer Kompetenzen innerhalb der Arbeitswelt zu leisten. Weil diese Entwicklung in Schule und Elternhaus vorbereitet und durch die begleitende außerberufliche Sozialisation beeinflußt wird, nimmt er dabei die Gesamtheit moralisch relevanter sozialer Anregungspotentiale und Barrieren im Leben der Individuen in den Blick. Zentraler theoretischer Bezugspunkt seines Ansatzes, der in Anknüpfung an Piaget von einem interaktionistischen Verständnis der Beziehungen zwischen dem Individuum und der es umgebenden Umwelt ausgeht, ist die im vorigen Kapitel analysierte Stufentheorie von Kohlberg. Wie auch er sieht Lempert die mögliche Ursache für eine Veränderung der moralischen Urteilsfähigkeit in den Einflüssen, denen ein Mensch in seiner sozialen Umwelt ausgesetzt ist. Während Kohlberg jedoch nicht zwischen den verschiedenen Lebensbereichen differenziert, in denen Individuen miteinander interagieren, sondern seine Erkenntnisse, die er bei seinen Untersuchungen in Schulen, Gefängnissen oder Besserungsanstalten gewinnen konnte, in Form von allgemeinen Entwicklungsvoraussetzungen formuliert (vgl. Kohlberg 1986, 21 – 51; 1997, 31–34), richtet Lempert seinen Blick vor allem auf das berufliche Umfeld, in dem sich die Individuen bewegen, speziell auf die Ausbildungs- und Arbeitsstätten. In diesen Umgebungen können seiner Ansicht nach die sozialen Strukturen so gestaltet sein, daß sie einen bestimmten Einfluß auf die Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit ausüben.
Thomas Bienengräber
4. Vergleich der Analyseergebnisse
Zusammenfassung
Nachdem in den beiden vorigen Kapiteln die zentralen Begriffe des kognitionszentrierten entwicklungspsychologischen Ansatzes von Kohlberg und die der Konzeption der Entwicklungsbedingungen nach Lempert einer semantischen Analyse unterzogen wurden, folgt an dieser Stelle die Prüfung, ob die gleichlautenden Ausdrücke tatsächlich in ihren pragmatischen Intensionen übereinstimmen bzw. ob die Autoren trotz verschieden lautender Begriffe dennoch die gleichen Sachverhalte meinen. Als Referenz werde ich die Stufentheorie Kohlbergs heranziehen, da Lemperts Grundannahmen über die Ontogenese moralischer Urteilskompetenz hauptsächlich auf dieser basieren.
Thomas Bienengräber
5. Die Struktur der moralischen Urteilskompetenz
Zusammenfassung
Gemäß der Intensionsbestimmung aus Abschnitt 2.3 sind moralische Urteile sensu Kohlberg allgemeingültige, universalisierbare Präskriptionen mit einem kognitiven Anteil, die auf das Auffinden gerechter Lösungen für Situationen ausgerichtet sind, in denen sich unterschiedliche Orientierungen verschiedener Personen oder sozialer Gruppierungen gegenüberstehen. Strukturiert sind sie durch die soziomoralische Perspektive und die Gerechtigkeitsoperationen. Als Voraussetzung zum Fällen und Begründen solcher Urteile benötigt das Individuum moralische Urteilskompetenz. Um diese Kompetenz zu erwerben und weiterzuentwikkeln, muß der Mensch, Kohlberg gemäß, über bestimmte logisch-kognitive Fähigkeiten verfügen sowie dazu in der Lage sein, sich in bestimmter Weise in andere Personen hineinzuversetzen, und er muß kognitive Konflikte einer bestimmten Art bewältigen. Durch Anregungen aus dem sozialen Umfeld kann die Genese dieser Voraussetzungen vorangetrieben werden, wobei sich besonders eine solche Umgebung als förderlich erweist, die Kohlbergs Vorstellungen von einer günstigen moralischen Atmosphäre entspricht, welche das Erleben und Verarbeiten dieser intrapersonalen Konflikte ermöglicht und begünstigt.
Thomas Bienengräber
6. Soziale Einflüsse auf die Entwicklung der Struktur moralischer Urteilskompetenz
Zusammenfassung
Mit der Untersuchung der sozialen Faktoren, die Einfluß auf die Entwicklung moralischer Urteilskompetenz ausüben, ist der Fokus der Betrachtung nicht länger ausschließlich auf das Individuum gerichtet. Jetzt stehen nicht mehr vorrangig die internen Strukturen im Vordergrund, sondern die externen Umstände, welche die Entwicklung der erstgenannten fördern oder behindern können. Diese Unterscheidung bringt Oser mit den Begriffen der strukturrelevanten und der strukturformenden Elemente zum Ausdruck. Danach sind die erstgenannten „jene Merkmale, die ein Schema bestimmen. Mit ihrer Hilfe läßt sich die Position eines Individuums z. B. auf dem konkret-operationalen Denkniveau oder auf der Stufe 3 der Kohlberg-Skala charakterisieren. Strukturformende Elemente hingegen sind jene Operationen, die (durch Intervention) ein struktural höheres Denken stimulieren“ (Oser 1981, 49–50). In diesen Begrifflichkeiten ausgedrückt wurden bisher vor allem die strukturrelevanten Elemente moralischer Urteilsfähigkeit identifiziert, wohingegen jetzt der Blick auf die strukturformenden Faktoren fällt. Den Ansatzpunkt bilden nun jedoch nicht die bereits von Lempert identifizierten sozialen Bedingungen, sondern vielmehr die im vorigen Kapitel erarbeiteten „Partialkompetenzen“ moralischer Urteilsfähigkeit, also die einzelnen psychischen Dispositionen, die in ihrer Gesamtheit ein Individuum dazu befähigen, moralische Urteile zu fällen. Von diesen ausgehend werden im folgenden die sozialen Elemente bestimmt, die die Entwicklung der kognitiven, perzeptiven und affektiven Struktur„bausteine“ beeinflussen, und sich damit auf die Entwicklung moralischer Urteilskompetenz auswirken.
Thomas Bienengräber
7. Entwicklungsbedingungen moralischer Urteilskompetenz
Zusammenfassung
Nachdem in Kapitel 6 die sozialen Milieus identifiziert wurden, die sich förderlich oder hinderlich auf die Entwicklung der in Kapitel 5 identifizierten Elemente moralischer Urteilskompetenz auswirken können, folgt in diesem Kapitel die Synthese der Entwicklungsbedingungen für diese einzelnen Partialkompetenzen mit den sozialen Bedingungen, die in ihren unterschiedlichen Ausprägungen die Entwicklung des Gesamtkonstrukts der moralischen Urteilskompetenz auf die sechs Stufen des präkonventionellen, des konventionellen und des postkonventionellen Niveaus beeinflussen.
Thomas Bienengräber
8. Die Entwicklung moralischer Urteilskompetenz in der kaufmännischen Berufsausbildung
Zusammenfassung
Anhand der Aussagen zu den Entwicklungsbedingungen, die in den Kapiteln 6 und 7 getroffen wurden, konnte eine Übersicht erstellt werden (vgl.Tabelle 8), in der alle identifizierten Einflußgrößen (in der Tabelle als „Häufigkeit“, „Wichtigkeit“ und „Merkmale“ bezeichnet) in ihren jeweils möglichen Kombinationen zusammengefaßt wurden und ihr erwarteter Einfluß auf die Entwicklung moralischer Urteilskompetenz prognostiziert wurde, sowohl hinsichtlich seiner Richtung (eher förderlich/neutral/eher hinderlich) als auch seiner Stärke (von „stark“ über „mittel“ hin zu „schwach“). Weil moralische Urteilsfähigkeit jedoch aus fünf einzelnen Strukturelementen besteht, deren Genese sich wiederum in Abhängigkeit einzelner sozialer Bedingungen vollzieht, ergibt sich bei der Betrachtung des postulierten Zusammenhangs zwischen Häufigkeit, Wichtigkeit und Dimensionsausprägung rein rechnerisch zunächst eine Menge von 156 einzelnen Hypothesen, die, multipliziert mit den sechs Stufen, zu einer Gesamtmenge von 936 möglichen Einzelhypothesen über den Zusammenhang bestimmter sozialer Einflußfaktoren mit korrespondierenden psychischen Dispositionen führen. Da sich die Fragestellung dieser Arbeit aber auf die Entwicklungsbedingungen des „Gesamtgebildes“ der moralischen Urteilskompetenz bezieht und damit nur mittelbar auf die Genese von deren einzelnen „Bausteinen“, läßt sich diese Anzahl auf zwei Haupthypothesen reduzieren1. Die erste befaßt sich noch auf einer relativ hohen Betrachtungsebene mit der Frage, ob die unterschiedlichen Ausprägungen der in den vorigen Kapiteln identifizierten sozialen Bedingungen tatsächlich mit der Entwicklung moralischer Urteilskompetenz in Zusammenhang stehen.
Thomas Bienengräber
9. Zusammenfassung und Ausblick
Zusammenfassung
Besonders im Hinblick auf die Befunde, die sich aus den Überprüfungsversuchen der oben aufgestellten Hypothesen ergeben haben, wäre vielleicht in Anlehnung an Lempert (1993, 29) zu formulieren: „Es sollte (und könnte) also weiter geforscht werden“. Zwar ist es gelungen, auf Basis theoretischer Überlegungen einige Fragen zu beantworten, die die Lempert-Konzeption offen läßt. Doch wie so oft bei sozialwissenschaftlichen Untersuchungen sind auch in diesem Fall mit der Beantwortung einiger Fragen zugleich zusätzliche Probleme sichtbar geworden (vgl. Rafee/Abel 1979, 30).
Thomas Bienengräber
10. Literaturverzeichnis
Thomas Bienengräber
Backmatter
Metadaten
Titel
Vom Egozentrismus zum Universalismus
verfasst von
Thomas Bienengräber
Copyright-Jahr
2002
Verlag
Deutscher Universitätsverlag
Electronic ISBN
978-3-322-97676-5
Print ISBN
978-3-8244-4484-7
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-322-97676-5