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1998 | Buch

Müll — Die gesellschaftliche Konstruktion des Wertvollen

Die öffentliche Diskussion über Abfall in Deutschland und Frankreich

verfasst von: Reiner Keller

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
Einleitung
Zusammenfassung
In der vorliegenden Untersuchung wird im Rückgriff auf einen diskursanalytischen Ansatz die öffentliche Diskussion über das ‚Hausmüllproblem‘ in der Bundesrepublik Deutschland und in Frankreich im Zeitraum von 1970–1995 vergleichend analysiert. Die Arbeit ist in acht Kapitel gegliedert. Das erste Kapitel stellt den theoretischen Bezugsrahmen der Untersuchung vor. Dabei wird die Bedeutung und Entwicklung der Praxis des industriegesellschaftlichen Umgangs mit Abfällen diskutiert. Die öffentlichen Auseinandersetzungen über den ‚angemessenen‘ Umgang mit Abfällen werden in einer Theorie der Institutionalisierung ökologischer Kommunikation verortet. Daran anschließend wird im zweiten Kapitel die diskursanalytische Perspektive der Arbeit entwickelt. Der konzeptuelle Rahmen und das konkrete methodische Vorgehen werden erläutert. Während der Umgang mit Abfällen den allgemeinen thematischen Bezugspunkt der Untersuchung darstellt, ist die Medienberichterstattung der spezifische Ort, an dem dieses Thema untersucht wird. Im dritten Kapitel werden deswegen die Ergebnisse medien- und kommunikationswissenschaftlicher Analysen der massenmedialen Umweltberichterstattung mit einer Fokussierung auf den deutsch-französischen Vergleich diskutiert und die vorliegende Arbeit in dem breiteren Spektrum von Medienanalysen verortet. Im vierten Kapitel wird die gesellschaftliche Infrastrukturgeschichte des Umgangs mit Müll seit dem Mittelalter vorgestellt. Der räumliche Fokus liegt auf dem Aufbau der kommunalen Entsorgung in Deutschland und Frankreich.
Reiner Keller
1. Der Müll der Gesellschaft
Zusammenfassung
Abfall ist Gegenstand unmittelbarer lebensweltlicher Erfahrungen. Er entsteht jeden Tag aufs neue, ist sichtbar, muß gelagert werden, er stinkt, er ist schmutzig, er muß weggebracht werden. Der Abfall, dessen Entsorgung in der Moderne technisch gesichert schien, wird seit Anfang der 70er Jahre in vielen westlichen Industriegesellschaften zum neuen, kontroversen öffentlichen Problem. Im vorliegenden Kapitel wird zunächst der gesellschaftliche Stellenwert des Abfalls untersucht. Dabei werden die strukturellen Ursachen der Abfallentstehung in den modernen kapitalistischen Industriegesellschaften erörtert. Soziale Verwendungs- und Definitionsketten von Objekten und Ideen lassen sich in eine Vielzahl von konkreten, dingbezogenen Entscheidungssituationen und Handlungen aufschlüsseln, die Entwertungsprozeduren implizieren: Wie lange wird etwas aufgehoben? Wer hebt was auf? Was kommt als Wertloses in den Müll? Eine Diskussion über die Veränderung sozialer Verwendungsketten ist ein Konflikt über Abfalldefinitionen, über Grenzverschiebungen im Bereich dessen, was als Abfall zu gelten hat, und auch über den (Un)Wert der Abfallentstehung ‚an sich‘.
Reiner Keller
2. Hausmüll als Thema öffentlicher Diskurse
Zusammenfassung
Im vorliegenden Kapitel werden zunächst der Untersuchungsgegenstand und die Fragestellung der Untersuchung erläutert. Daran anknüpfend wird die diskursanalytische und konstruktivistische Konzeption und Anlage der vorliegenden Arbeit und das zugehörige methodische Instrumentarium vorgestellt. Diskurse werden als institutionalisierte Bedeutungssysteme begriffen, deren Binnenstruktur sich über die Rekonstruktion von Interpretationsrepertoires, story lines und Rahmen (Deutungsmustern) erfassen läßt. Die Massenmedien bilden die ausgezeichnete Arena fir öffentliche Diskurse. Der Ländervergleich ermöglicht eine Kontrastierung, die Aufschlüsse über industriegesellschaftlich Allgemeines und länderspezifisch Besonderes in den Abfalldebatten gibt. Schließlich werden die empirischen Grundlagen und das konkrete Vorgehen bei Datenerhebung und Datenauswertung beschrieben. Zum Einsatz kommt eine pragmatische Variante interpretativ-hermeneutischer Textanalyse.
Reiner Keller
3. Umwelt und Abfall in der Presseberichterstattung
Zusammenfassung
Seit den 60er Jahren sind die Debatten um die ökologische Selbstgefährdung moderner Gesellschaften zu einem Dauerthema öffentlicher Rede geworden. Die von warnenden Wissenschaftlern, protestierenden Anwohnern, sozialen Bewegungen und politischen Parteien getragenen Auseinandersetzungen um Umweltverschmutzungen haben eine enorme institutionenbildende Dynamik entfacht. Das wichtigste Forum dieser Diskurse sind die Massenmedien, die Umweltberichterstattung hat stark zugenommen. Sie ist eingebunden in Berichterstattungsroutinen und das berufliche Selbstverständnis der Journalisten. In der ‚Herstellung‘ von Umweltmeldungen agieren die Massenmedien nicht als kollektiver Gesamtakteur, vielmehr lassen sich bis hinein in die Ressorts einzelner Tageszeitungen unterschiedliche journalistische Selbstverständnisse und Stile der Berichterstattung beobachten. In Frankreich verläuft die Entwicklung der Umweltberichterstattung wellenförmig. Vertreter der Umweltschutzbewegung haben kaum Zugangschancen zu den primär an der staatlichen Administration orientierten Medien. In Deutschland kann dagegen von einer linearen Entwicklung ausgegangen werden. Nach und nach treten die Umweltverbände als Vertreter legitimer Anliegen an die Seite der ‚offiziellen‘ Informationsquellen. Die Entwicklung der Berichterstattung ist geprägt von den Prozessen der Institutionalisierung und Professionalisierung umweltbezogener Presse- und PR-Arbeit bei allen wichtigen gesellschaftlichen Akteuren.
Reiner Keller
4. Eine kurze Geschichte des Mülls
Zusammenfassung
Der Aufbau der kommunalen Müllentsorgungsinfrastruktur beginnt in den Städten Europas im Mittelalter.1 Verwertbare organische und anorganische Bestandteile des Mülls werden genutzt, nicht verwertbare Reste beseitigt. Die Haupttechnik der Beseitigung ist die Deponierung außerhalb der Kommunen. Der Ausbau der Infrastruktur folgt der Leitidee einer Ordnung öffentlicher und privater Räume im Zeichen von medizinischer und sozialer Hygiene. Die öffentliche Moral und Praxis hygienischer Disziplinierung verändert die tradierten Normen und Praktiken des Umgangs mit Abfällen, Schmutz und Sauberkeit. Die organisierte städtische Abfallentsorgung, die Entwertung der Abfälle als nutzbare Güter durch medizinisch induzierte Gefährdungsvorwürfe, das Aufkommen von Ersatzstoffen (chemische Dünger) und neuen Technologien (Müllverbrennung) führen nach und nach zum Niedergang des von den Abfällen lebenden Kleingewerbes und zur Müllbeseitigung als dominierender Entsorgungspraxis. Kriegs- und knappheitsbedingt kommt es wiederholt zu staatlich-administrativen Mülltrennungs- und Verwertungspolitiken, die darauf zielen, Teile der Abfälle aus dem Beseitigungsprozeß herauszuziehen. Bis lange nach dem zweiten Weltkrieg bestehen allerdings auch lebensweltlich eingeschliffene Praktiken der Weiterverwendung von Abfallstoffen. Die Entwicklung des Umgangs mit Hausabfällen bis Ende der 60er Jahre wird nachfolgend zunächst allgemein und dann vertiefend für Deutschland und Frankreich beschrieben. Das Kapitel endet mit einem Überblick über die aktuelle abfallwirtschaftliche Situation in beiden Ländern.
Reiner Keller
5. Chronik einer angekündigten Katastrophe: Die bundesdeutsche Abfalldiskussion
Zusammenfassung
Gegenstand des vorliegenden Kapitels ist der Verlauf der öffentlichen Debatten über Hausmüll in der Bundesrepublik Deutschland seit Beginn der 70er Jahre. Der Schwerpunkt der Analyse liegt auf der neueren Abfallgesetzgebung. Die wesentlichen Stationen der gesetzlich-administrativen Bearbeitung des Abfalls in diesem Zeitraum sind:
  • das Abfallbeseitigungsgesetz (AbfG) von 1972 als erstes und umfassendes Rahmengesetz zur Abfallfrage;
  • das Abfallwirtschaftsprogramm (AbfWP) der Bundesregierung von 1975, in dem unter dem Eindruck der Ölkrise die Idee der Abfallverwertung prominent wird;
  • die Novellierung des AbfG von 1986 durch das Gesetz über die Vermeidung und Entsorgung von Abfällen, in dem die umweltproblematischen Aspekte des Abfalls betont und der Vermeidungsgedanke eingeführt wird;
  • die Verpackungsverordnung (VerpackVO) von 1991, die auf eine Reduzierung des Verpackungsmülls zielt;
  • die TA Siedlungsabfall von 1993, die enge Kriterien für Abfalldeponierung vorschreibt und damit die Müllverbrennung als primäre Beseitigungstechnologie durchsetzt;
  • das Gesetz zur Förderung der Kreislaufwirtschaft und Sicherung der umweltverträglichen Beseitigung von Abfällen von 1994, das die Abfallgesetzgebung unter neuen Prämissen organisiert.1
Reiner Keller
6. Chronik eines angekündigten Sieges: Die französische Abfalldiskussion
Zusammenfassung
Im Jahre 1975 kommt es in Frankreich zu einer ersten umfassenden Abfallgesetzgebung, die den Aufbau einer ordnungsgemäßen Abfallbeseitigung und die Nutzung der Abfälle als Rohstoffquelle ordnet. Erst 1992 werden im Kontext angekündigter bzw. auszuführender EG-Richtlinien neue, abfallbezogene Regelungen verabschiedet. Eine französische Variante des DSD wird eingefiihrt, die Abfallbeseitigung neu geregelt. Die wesentlichen Stationen der französischen Abfallgesetzgebung sind:
  • das Gesetz vom 15.7.75 über die „Élimination des déchets et à la récupération des matériaux“ (‚Gesetz über Abfallbeseitigung und Rohstoffrückgewinnung‘) als erstes und grundlegendes Rahmengesetz;
  • der „Plan National pour l’Environnement“ (‚Nationaler Umweltplan‘) aus dem Jahre 1990, der eine grundlegende Neuorientierung der französischen Umweltpolitik vorsieht;
  • das „Décret Emballages“ (‚Verpackungsverordnung‘) vom 1.4.92 bezüglich der Verwertung von Verkaufsverpackungen;
  • das Gesetz vom 13.7.92 über die „Élimination des déchets ainsi qu’aux installations classées pour la protection de l’environnement“ (‚Gesetz über Abfallbeseitigung und im Hinblick auf Umweltschutz klassifizierungspflichtige Anlagen‘), in dem die Abfallbeseitigung grundlegend neu geordnet wird; und
  • das Dekret vom 31.8.92 über die „Limitation et contrôle de l’importation des déchets“ (‚Verordnung zur Begrenzung und Kontrolle von Abfallimporten‘), in dem Regelungen für den Abfallimport enthalten sind.1
Reiner Keller
7. Politisierte und technisierte Kultur ökologischer Kommunikation: Die Abfalldiskurse in Deutschland und Frankreich im Vergleich
Zusammenfassung
In den beiden vorangehenden Kapiteln wurde der Verlauf der Abfalldiskussion in Deutschland und Frankreich diskutiert. Während in der Bundesrepublik Deutschland zunächst die Abfallbeseitigung, dann jedoch — im Hinblick auf globale Rohstoffknappheit — die Abfallverwertung und Kreislaufführung der Abfälle im Vordergrund steht, hatte in Frankreich im Hinblick auf nationale Rohstoffknappheit zunächst die Abfallverwertung Priorität. Deren Vorrang ist inzwischen wiederum der Abfallbeseitigung gewichen. Unterhalb der Ebene dieser allgemeinen Tendenzen zeigt sich freilich ein komplexes Bild von Gemeinsamkeiten und Differenzen.
Reiner Keller
8. Die gesellschaftliche Konstruktion des Wertvollen: Zusammenfassung
Zusammenfassung
Die vorliegende Studie hat sich aus diskursanalytischer Perspektive mit der öffentlichen Diskussion über das ‚Hausmüllproblem‘ in der Bundesrepublik Deutschland und in Frankreich befaßt. Abfall ist nicht nur ein materiales Problem der wohlhabenden Industriegesellschaften, sondern auch eine relativ bestimmte Kategorie, die auf der Ebene gesellschaftlicher Symbolsysteme als potentielle Gefährdung oder Störung gesellschaftlicher Ordnungsstrukturen wahrgenommen wird. Das heißt einerseits, daß Gesellschaften sich durch die Ausgrenzung bzw. die Kontrolle von Abfall stabilisieren. Auf der anderen Seite eignet sich die Mobilisierung von alternativen Abfalldefinitionen zur Infragestellung etablierter gesellschaftlicher Ordnungsgefüge. Innerhalb von modernen Gesellschaften konkurrieren typischerweise unterschiedliche Ordnungs- und damit auch Abfallvorstellungen, die in der Diskussion über Umweltverschmutzung in exemplarischer Form gebündelt werden. Umweltkonflikte, und insbesondere Auseinandersetzungen über die Defmition und Bedeutung von Abfall, können als Prozesse der gesellschaftlichen Konstruktion des Wertvollen verstanden werden, in denen die Verhältnisse von Gesellschaft, materieller Kultur und Natur ausgehandelt und damit gesellschaftliche Umweltkulturen erzeugt werden. Eine soziologische Theorie der Institutionalisierung von Umweltkulturen führt länderspezifische Unterschiede des Stellenwertes der ‚Umweltfrage‘ nicht auf nationale (kulturelle) Traditionen zurück, sondern begreift sie als Ergebnis aktueller Bedeutungskämpfe zwischen kollektiven Akteuren; deren Ressourcen und Chancen, öffentliches Gehör zu finden, werden durch das bestehende Institutionengefige und die daran gekoppelten ‚Definitionsverhältnisse‘ bestimmt.
Reiner Keller
Backmatter
Metadaten
Titel
Müll — Die gesellschaftliche Konstruktion des Wertvollen
verfasst von
Reiner Keller
Copyright-Jahr
1998
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-322-99391-5
Print ISBN
978-3-531-13166-5
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-322-99391-5