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1994 | Buch

Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit

Begriffe, Positionen, Praxisfelder

verfasst von: Hans-Gerd Jaschke

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
Einleitung
Zusammenfassung
Der epochale, kaum voraussehbare Umbruch in Europa hat Weltbilder und Problemhaushalte durcheinandergebracht, die jahrzehntelang in der europäischen Nachkriegsordnung gültig waren. Das Ende des Ost-West-Konflikts, die deutsche Wiedervereinigung und die Wanderungsbewegungen in und nach Europa bringen eine Fülle ungelöster Folgeprobleme mit sich. Das Bewußtsein einer offenen, schwer überschaubaren künftigen Entwicklung prägt den Zeitgeist Mitte der neunziger Jahre. Prognosen über den Fortgang der Dinge leiden unter kürzer werdenden Verfallsdaten. Auf Jahre und Jahrzehnte gerichtete Lebensperspektiven schmelzen, besonders in Osteuropa, auf die Überschaubarkeit weniger Monate zusammen. Die sozialen Konflikte und Verteilungskämpfe nehmen unter Bedingungen der ökonomischen Rezession und einer dramatisch anwachsenden sozialen Ungleichheit im internationalen, im nationalen und regionalen Maßstab sowie auch innerhalb der einzelnen Gesellschaften zu.
Hans-Gerd Jaschke
I. Grundbegriffe und Gegenstandsbereiche in der gegenwärtigen Diskussion
Zusammenfassung
Seitdem es eine steigende Anzahl fremdenfeindlicher Gewalt und anhaltende Wahlerfolge von Parteien des Rechtsaußen-Spektrums gibt, haben die Debatten darüber an Intensität zugenommen. Waren es vor 1989 eher randständige Bereiche der Sozialwissenschaften, die sich der Thematik Rechtsextremismus annahmen, so haben die Diskussionen heute längst breitere Teile interdisziplinärer Bemühungen ebenso erreicht wie die tagespolitischen und intellektuellen Kommentare und Debatten. Wie auch bei den kurzzeitigen Konjunkturen des Rechtsextremismus zuvor, etwa beim Aufstieg der NPD 1966 bis 1969, ist auch diesmal ein hoher Erwartungsdruck entstanden. Politik und Gesellschaft erwarten schnelle und überzeugende Gegenrezepte. Dabei fällt nicht nur ein breites Spektrum von Deutungen auf, sondern auch die Spaltung in heterogene, kaum miteinander verbundene Diskussions- und Publikationszusammenhänge und die teils beliebige, teils ideologische, teils an frühere Diskurse anknüpfende Begriffswahl. Es ist von Rechtsextremismus, -radikalismus und -populismus die Rede, von Fremden- und Ausländerfeindlichkeit, Xenophobie, Rassismus, Neorassismus, Autoritarismus, Neofaschismus, von der Neuen Rechten oder auch der Rechten schlechthin. All diese Begriffe sind mehr oder weniger moralisch aufgeladen. Sie dienen zur Bezeichnung von politischen Sachverhalten, sie drücken aber auch die moralische Position dessen aus, der sie verwendet. Der Benutzer grenzt sich ab von dem Bezeichneten. Nicht wenige Bücher und Artikel sind deshalb so unbefriedigend, weil die Grundbegriffe nicht geklärt werden, manche politische Diskussionsveranstaltung über Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit leidet darunter, daß die Teilnehmer mit den Begriffen je unterschiedliche Deutungen verknüpfen. Als im Dezember 1993 die russische liberal-demokratische Partei ein Viertel der Wählerstimmen bei den Parlamentswahlen erreichte, wurde ihr Vorsitzender Schirinowski in den Medien als Rechtsextremist, Antisemit, Neofaschist oder auch als Konservativer bezeichnet.
Hans-Gerd Jaschke
II. Zugänge und Erklärungsansätze, dargestellt an zentralen Begriffen
Zusammenfassung
Seit dem Aufstieg der Rechtsaußen-Parteien und der Zunahme der Gewalt von rechts ist sowohl die Nachfrage wie auch das Angebot an Deutungen und Interpretationen sprunghaft angestiegen. Politik, Medien, Gewerkschaften und politische Bildung verlangen nach Erklärungen und Handlungskonzepten, um diesen Entwicklungen zu begegnen. Die Sozialwissenschaften hingegen scheinen schon deshalb überfordert, weil es in der Bundesrepublik keine kontinuierlich betriebene, institutionell verankerte Rechtsextremismus-Forschung gibt. Sie ist in der Politologie wie auch in den Erziehungswissenschaften und der Soziologie seit Jahrzehnten immer nur ein Randthema gewesen, das von einigen wenigen Forschem bearbeitet wurde. Schon deshalb verfügen wir derzeit nicht über eine zumindest in Fachkreisen akzeptierte Theorie des Rechtsextremismus, die als Erklärungsmodell herangezogen werden könnte.
Hans-Gerd Jaschke
III. Umgangsformen und Praxisfelder
Zusammenfassung
Seit 1989/90, der spürbaren Zunahme des Drucks von rechts, stellt sich mehr als zuvor die Frage des angemessenen demokratischen Umgangs mit dem Problem Rechtsextremismus. Aus einer sozialwissenschaftlichen Sicht war auch zuvor die Frage des institutionellen Umgangs eine lange vernachlässigte theoretische Schlüsselfrage, denn Rechtsextremismus existiert nicht isoliert, sondern ist umstellt und wird in vielfältigster Weise institutionell „bearbeitet“ (Jaschke 1991). Wahlerfolge und steigende Militanz bringen jedoch das politische System in einen ungewohnten Legitimationsdruck, der überzeugende Antworten und Gegenmaßnahmen erfordert. In den politischen Debatten werden immer wieder verschiedene Akteure genannt, denen die Abwehr des Rechtsextremismus zugewiesen wird: die Familie, die Schule, die politische Bildung, die Justiz, die Polizei, die Medien. Sie können repressiv, symbolisch oder auch normvermittelnd tätig werden und beeinflussen sowohl den Protest von rechts wie auch die demokratische Gegenwehr. Über die wechselseitigen Interaktionen und ihre Folgen ist noch immer wenig bekannt. Der Auftrag und der Handlungsrahmen der Institutionen ist nicht identisch mit den Wirkungen.
Hans-Gerd Jaschke
Ausblick
Zusammenfassung
Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit heute sind latente oder offene, politisch organisierte oder im vorpolitischen Raum verbleibende kollektive Orientierungsmuster, die den erreichten Stand der Demokratisierung mit ethnozentristischen und autoritär nationalistischen Attitüden blokkieren und zurücknehmen wollen. Der Unterschied zwischen Demokratie und Rechtsextremismus verläuft an der Trennlinie von Demos und Ethnos: Fundamentales Regulativ der Demokratie ist die auf liberalen Prinzipien basierende Verfassung, Kern des Rechtsextremismus ist der Glaube an das Kollektiv, das ethnisch homogene Volk, die historische Schicksalsgemeinschaft der Deutschen. Der Effekt rechtsextremistischer Politik zeigt sich nicht nur in Wahlergebnissen, Gewaltstatistiken und einer Politik der Konzessionen an die Rechtsaußen-Forderungen. Entscheidend sind vielmehr alltägliche Verhaltensmuster in der Spannbreite zwischen Toleranz und anpolitisierter Aggression, zwischen Solidarität und nationalistischer Überheblichkeit. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts und der Vergleich mit anderen europäischen Gesellschaften nötigt zu einer dauerhaften Aufmerksamkeit gegenüber den verschiedenen Artikulationsformen. Eine institutionalisierte kontinuierliche Auseinandersetzung mit Fragen des Rechtsextremismus in Schulen, Universitäten, Erwachsenenbildung und Publizistik als demokratische Konsequenz aus dieser Geschichte könnte jenseits des nach Wahlergebnissen oder Gewaltketten periodisch wiederkehrenden Handlungsdrucks zu einer durchaus produktiven „Normalisierung“ des Umgangs beitragen. Wenn möglichst viele Bürger möglichst dauerhaft am Gegenbild von Demokratie lernen, was Demokratie ist, könnte auch der medial produzierte Mechanismus immer neuer Wellen von moralischer Empörung durchbrochen werden.
Hans-Gerd Jaschke
Backmatter
Metadaten
Titel
Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit
verfasst von
Hans-Gerd Jaschke
Copyright-Jahr
1994
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-322-99575-9
Print ISBN
978-3-531-12679-1
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-322-99575-9