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Open Access 2023 | OriginalPaper | Buchkapitel

18. Digitalisierung und Risikotransfer

Wie im Zuge der Digitalisierung neue Geschäftsmodelle entstehen

verfasst von : Torsten Oletzky

Erschienen in: Risiko im Wandel

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Digitale Innovationen leisten einen wesentlichen Beitrag zur Weiterentwicklung des Geschäftsmodells der Versicherung. Inzwischen erreichen diese Innovationen auch das Herzstück des Geschäftsmodells Versicherung, die Risikotragung und den Risikotransfer. Aus diesem Grund werden die Auslöser für diese Veränderungen analysiert und Anwendungsbeispiele aus verschiedenen Bereichen vorgestellt, in denen InsurTech Start-ups neue Modelle der Risikotragung und des Risikotransfers entwickeln oder bekannte Modelle unter Einsatz digitaler Technologien neu interpretieren und ihnen so zu neuen Marktchancen verhelfen.

18.1 Einleitung

Seit einigen Jahren ist die Digitalisierung der Geschäftsmodelle eines der beherrschenden Themen der Versicherungswirtschaft. Eine Gründungswelle hat eine völlig neue Gruppe von Marktteilnehmern hervorgebracht, die InsurTech-Start-ups (kurz: InsurTechs). Und auch die etablierten Versicherer stellen die Digitalisierung ihrer Geschäftsmodelle in ihrer Kommunikation inzwischen weit nach vorne (vgl. Allianz 2016).
Im Mittelpunkt der Diskussion steht meist das vertriebliche Potenzial einer digitalisierten Kundenschnittstelle, zum Beispiel im Kontext Digitaler Ökosysteme, sowie die Optimierung vorhandener Geschäftsprozesse des Back-Offices, zum Beispiel durch den Einsatz von KI-Algorithmen. Diese digitalen Innovationen leisten einen wesentlichen Beitrag zur Weiterentwicklung des Geschäftsmodells der Versicherung. Die Digitalisierung hat darüber hinaus aber auch das Potenzial, neue Impulse für das Herzstück des Geschäftsmodells der Versicherung zu geben, die Risikotragung und den Risikotransfer.
Viele der Innovationen aus der ersten Phase der Digitalisierung der Versicherungswirtschaft gingen von InsurTechs aus. Im folgenden Abschnitt erfolgt zunächst ein Blick auf die Entwicklung dieser neuen Marktteilnehmer. Anschließend werden der Einfluss der Digitalisierung auf die Risikotragung und die dafür verantwortlichen Auslöser entlang bereits realisierter Anwendungsbeispiele analysiert. Das Kapitel schließt mit einer kurzen Zusammenfassung und dem Ausblick auf potenzielle zukünftige Entwicklungen im Hinblick auf das Zusammenspiel von Digitalisierung und Risikotragung.

18.2 Entwicklung der InsurTech-Landschaft

Etwa im Jahr 2010 begann eine Gründungswelle von jungen Digitalunternehmen in der Versicherungswirtschaft.

18.2.1 Typologie der Geschäftsmodelle

Eine exakte Erfassung und Typisierung dieser für die Versicherungswirtschaft relevanten Neugründungen ist schwierig, da sich viele Neugründungen zu Beginn oftmals noch unterhalb der Wahrnehmungsschwelle bewegen und auch die Abgrenzung der Geschäftsmodelle nicht immer eindeutig ausfällt. Typischerweise unterscheidet man aber drei Grundtypen von Geschäftsmodellen in der Gruppe der InsurTechs (vgl. Capgemini und EFMA 2020, S. 12):

18.2.1.1 Digitale Versicherer („Full Carriers“)

Diese Unternehmen bilden die gesamte Wertschöpfungskette eines Versicherers ab. Sie versuchen Wettbewerbsvorteile durch eine Digitalisierung der angebotenen Produkte sowie der eingesetzten Prozesse zu erzielen und fokussieren sich oftmals auf digital affine Kundengruppen. Prominente Beispiele für diese Gruppe sind das amerikanische Start-up Lemonade bzw. in Deutschland Unternehmen wie ottonova und Wefox Insurance.

18.2.1.2 Digitale Vertriebsmodelle („Distributors“)

Insbesondere in der ersten Gründungswelle haben sich viele Neugründungen auf den digitalen Vertrieb konzentriert. So konnten sie digitale Geschäftsmodelle anbieten, ohne von vornherein eine komplette Back-Office-Plattform bauen und regulatorische Solvenzanforderungen erfüllen zu müssen. Das Berliner Start-up CLARK ist ein Beispiel für dieses Geschäftsmodell.

18.2.1.3 Digitale Dienstleister („Enablers“)

Die mit Abstand größte Gruppe der InsurTechs bilden die Digitalen Dienstleister. Sie konzentrieren sich auf einen oder wenige Prozesse aus dem Versicherungsgeschäftsmodell und versuchen diese(n) zu optimieren. Damit ihre Dienstleistung dem Endkunden zugutekommen kann, müssen Sie mit (traditionellen) Versicherern kooperieren. Erfolgreiche Beispiele für diese Gruppe finden sich u. a. im Bereich der Schadenbearbeitung wie das Londonder Start-up Tractable und die Berliner KI-Experten von omni:us.

18.2.2 Regionale Spezifika in der Entwicklung

InsurTechs wurden und werden in allen großen Versicherungsmärkten gegründet. Eine große Rolle in der Entwicklung spielten (wie auch in anderen Branchen) die USA und das Silicon Valley. Die Start-up-Datenbank Crunchbase zählt alleine für die USA aktuell 561 aktive InsurTechs (vgl. Crunchbase 2021).
Die in den USA entstandenen Geschäftsmodelle waren häufig auch Vorbild für europäische Gründer beim Aufbau ihrer InsurTechs. Wichtige InsurTech-Standorte in Europa sind London, Paris und Berlin, wobei die Entwicklung in Deutschland traditionell dezentraler verläuft als in anderen Ländern. Aktuell sind in Deutschland 185 InsurTechs aktiv (vgl. New Players Network 2021, S. 5).
Während die Anzahl der InsurTechs in den ersten Jahren der Entwicklung stark anstieg, scheint die Entwicklung inzwischen wenigstens im deutschsprachigen Raum ein Plateau erreicht zu haben (vgl. Oliver Wyman und Policen Direkt 2021, S. 4).
Gleichzeitig werden vor Jahren gegründete InsurTechs, die ihre ersten Entwicklungsschritte erfolgreich absolviert haben, reifer und professioneller. Diesen Unternehmen gelingt es zunehmend, durch neue Kapitalrunden die erforderlichen Mittel für die Ausweitung ihrer Marktpräsenz sowie weitere Innovationen zu beschaffen.
Bei der Verteilung der Geschäftsmodelle innerhalb der Gruppe der InsurTechs zeichnen sich teils deutliche regionale Unterschiede ab. Während in den USA die Gruppe der Digitalen Versicherer eine größere Bedeutung hat, entscheiden sich in Europa gerade einmal vier Prozent der Gründer für das Geschäftsmodell des „Full Carriers“. In Europa hat dafür die Gruppe der Digitalen Vertriebsmodelle eine größere Bedeutung (vgl. Capgemini und EFMA 2020, S. 14).
Eine mögliche Erklärung für regionale Unterschiede im Hinblick auf die Verteilung der Geschäftsmodelle sind regulatorische Einflüsse. Der Umgang der verschiedenen Aufsichtsbehörden mit den neugegründeten Marktteilnehmern unterscheidet sich mitunter gravierend. Während sich die britische FCA für den Ansatz der „Regulatory Sandbox“ − ein vereinfachtes regulatorisches Verfahren zum Test innovativer, digitaler Geschäftsmodelle − entschieden hat, setzt die deutsche BaFin ausschließlich auf den Grundsatz der Proportionalität. Beide Ansätze können grundsätzlich den Weg für neue innovative Marktteilnehmer frei machen. Allerdings wurde die BaFin zuletzt für die Ankündigung verschärfter Anforderungen an die finanzielle Ausstattung von InsurTechs kritisiert (vgl. Bitkom 2021).

18.3 Einfluss der Digitalisierung auf die Risikotragung

Die Entstehung der InsurTechs hatte zunächst wenig Einfluss auf den Kern des Geschäftsmodells Versicherung, das heißt die Organisation des Risikotransfers. Die InsurTechs boten digitale Prozessoptionen im Front-End („Distributors“), im Back-End („Enablers“) oder im gesamten Prozessspektrum („Full Carriers“) an, ohne den Kern des Geschäftsmodells in Frage zu stellen.
Inzwischen entstehen jedoch zunehmend Geschäftsmodelle, die dieses Paradigma aufgeben und entweder neue Modelle der Risikotragung entwickeln oder altbekannte Modelle wieder aufgreifen und in der digitalen Welt adaptieren. Analysiert man die Impulsgeber für diese Entwicklung, so lassen sich drei wesentliche Auslöser für diese Entwicklung identifizieren:
1.
Regulatorische Anforderungen,
 
2.
neue Interpretationen des Versichertenkollektivs sowie
 
3.
neue Technologien.
 
Die hieraus resultierenden Trends werden in den folgenden Abschnitten beschrieben und anhand von konkreten Beispielen näher erläutert.

18.3.1 Regulatorische Einflüsse

Eine wesentliche Herausforderung für Start-ups in allen Wirtschaftsbereichen ist die Sicherstellung einer ausreichenden Finanzierung. Für externe Investoren sind Investitionen in Start-ups mit einem hohen Maß an Unsicherheit verbunden, da das Geschäftsmodell noch nicht etabliert ist und den Investoren aufgrund der fehlenden Unternehmenshistorie kaum Daten zur Beurteilung des mit ihrer Investition verbundenen Risikos zur Verfügung stehen. Es ist daher bei der Finanzierung von Start-ups üblich, die Finanzierung in mehreren Finanzierungsrunden durchzuführen und die weitere Finanzierung jeweils an Meilensteine in der Unternehmensentwicklung zu knüpfen (vgl. Hahn 2018, S. 27 ff.).
In einer Finanzierungsrunde erhält das Start-up i. d. R. ausreichende Mittel, um die Entwicklung der nächsten sechs bis 24 Monate zu finanzieren. Werden wesentliche Meilensteine nicht erreicht oder verändern sich Rahmenbedingungen zum Negativen, so erhält das Start-up keine Folgefinanzierung und muss aus dem Markt ausscheiden. Der typische Finanzierungszyklus beginnt mit einer Eigenfinanzierung durch die Gründer („Boot-Strapping“) gefolgt von einer oder mehreren Anschubfinanzierungen durch externe Geldgeber („Seed Round“). Nachdem ein erstes Produkt zur Marktreife entwickelt wurde, können sich weitere Finanzierungsrunden anschließen („Series A, B, …“) bis das Start-up an den Kapitalmarkt geht („Going Public“) (vgl. Investopedia 2021). In Abb. 18.1 sind die einzelnen Schritte dieses typischen Finanzierungsablaufs dargestellt.
Dieses Grundprinzip der schrittweisen Finanzierung von Start-ups ist für InsurTechs, deren Geschäftsmodell eine Lizenz als Versicherer erfordert, nicht ohne Weiteres umsetzbar. So fordert die deutsche BaFin seit Anfang 2021, dass
„künftige (InsurTech-) Neugründungen über deutlich mehr Eigenmittel verfügen, als dies bei Vorgängern der Fall war. Sie müssen schon am Tag ihres Zulassungsantrags vollständig ausfinanziert sein, damit sie keine ergänzenden Finanzierungsrunden mehr benötigen“. (BaFin 2021, S. 27)
Die ohnehin schon aufwändige Neugründung von Digitalen Versicherern wird mit derartigen Forderungen weiter erschwert. Wer also das Geschäftsmodell Versicherung in Deutschland digital anbieten möchte, die geforderten finanziellen Solvabilitätsmittel aber nicht bereits an Tag 1 nachweisen kann, muss nach anderen Wegen suchen.
Der Ausweg, den InsurTechs zunehmend für sich entdecken, ist das Geschäftsmodell des Assekuradeurs (englisch: „Managing General Agent“ − kurz: MGA). Der Assekuradeur ist ein Mehrfachagent, der historisch vor allem in der (See-)Transportversicherung tätig war und dort spezialisierte Risiken zeichnete. Der Assekuradeur ist nicht der Risikoträger, nimmt aber viele von dessen klassischen Aufgaben wahr – der Assekuradeur vereinnahmt Prämien, zeichnet Risiken und reguliert die Schäden der Kunden (vgl. Pickel 2017).
Der Assekuradeur zeichnet dabei die von ihm geprüften Risiken direkt in die Bilanz eines mit ihm kooperierenden Versicherers, der über die erforderliche Lizenz der Versicherungsaufsicht verfügt. Der Assekuradeur benötigt folglich keine eigene Lizenz als Versicherer.
Für viele InsurTechs hat sich das Geschäftsmodell des Assekuradeurs zum Königsweg für die Gründung entwickelt. Dieses Geschäftsmodell ermöglicht eine relativ weitgehende Abdeckung der Wertschöpfungskette der Versicherung, ohne die umfangreichen Anforderungen an die Gründung eines Digitalen Versicherers mit Lizenz erfüllen zu müssen. Im deutschsprachigen Raum wurden jüngst insbesondere im Bereich der Gewerbeversicherung neue digitale Assekuradeure gegründet. Angesichts der höheren Eigenkapitalanforderungen der BaFin an Digitale Versicherer gehen Digitalisierungs- und InsurTech-Experten davon aus,
„dass das Geschäftsmodell der digitalen Assekuradeure auch künftig das bevorzugte sein wird, wenn es darum geht, einen digitalen und unabhängigen Alleskönner quasi auf der grünen Wiese aufzubauen“. (New Players Network 2021, S. 3)
Die Annahme, das Geschäftsmodell des Digitalen Assekuradeurs sei die Lösung für alle Probleme bei der Risikotragung durch InsurTechs, wäre jedoch zu einfach. Die Kooperation zwischen Digitalen Assekuradeuren und etablierten Versicherern als deren Risikoträger setzt das Vertrauen der Versicherer in die versicherungstechnischen Fähigkeiten ihrer Kooperationspartner sowie geeignete Anreiz- und Kontrollmechanismen voraus. Ein Spezialfall sind konzerngebundene InsurTechs wie Freeyou (DEVK) und AdamRiese (W&W Gruppe/Württembergische), die als Ausgründung oder durch spätere Übernahme vollständig durch etablierte Versicherer kontrolliert werden. Aufgrund der Durchgriffsmöglichkeiten der Muttergesellschaften treten Kontrollprobleme hier nicht oder nur in einem deutlich geringeren Umfang auf. Anders sieht dies bei unabhängigen InsurTechs wie Cogitanda oder getsafe aus, die sich für das Geschäftsmodell des Digitalen Assekuradeurs entscheiden.
Das Geschäftsmodell von Cogitanda kommt dem historischen Modell des Assekuradeurs sehr nahe. Der Wettbewerbsvorteil des Unternehmens ergibt sich aus einem überlegenen Verständnis eines speziellen Risikos (in diesem Fall des Cyber-Risikos). Der Versicherer als Kooperationspartner kauft sich durch die Kooperation mit dem Digitalen Assekuradeur das Know-how für die Zeichnung bestimmter Risiken ein, über das er selbst nicht in ausreichendem Umfang verfügt. Das Geschäftsmodell von getsafe setzt demgegenüber auf die Entwicklung besonders einfacher, für digitale Prozesse geeigneter Produkte. Die hinter diesen Produkten stehenden Risiken (Haftpflicht, Hausrat, Rechtsschutz, Zahnzusatz, Kfz-Haftpflicht und Kasko) sollte der zeichnende Versicherer wenigstens so gut verstehen wie der Assekuradeur, der die Risiken in die Bilanz des Versicherers einliefert. Hier unterscheidet sich das digitale Geschäftsmodell vom historischen Vorbild insofern, als die Expertise des Assekuradeurs weniger die Risikobeurteilung als die Digitalprozess-taugliche Aufbereitung der Produkte umfasst.
Diese beiden sowie zahlreiche weitere Beispiele zeigen, dass die Digitalisierung in Verbindung mit einer zunehmend restriktiveren Praxis der Versicherungsaufsicht einem fast vergessenen Geschäftsmodell der Risikotragung zu einer Renaissance und der Verbreitung weit über die ursprüngliche Nische hinaus verhelfen kann.

18.3.2 Neue Interpretationen des Versichertenkollektivs

Das Misstrauen gegenüber Versicherern ist in der breiten Öffentlichkeit weit verbreitet: „Wenn’s drauf ankommt, zahlen die eh nicht“ denken viele Kunden (vgl. Oberhuber o. J.; vgl. Müller-Peters 2017, S. 26).
Das war nicht immer so. Das Modell des modernen Versicherungsunternehmens hat seine Ursprünge in der auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit basierenden Absicherung von Risiken, zunächst noch im Umlageverfahren. Es schlossen sich Menschen mit ähnlich gelagerten Risiken zusammen, um ihre Risiken in der Gemeinschaft zu tragen und so individuelle Notlagen zu vermeiden. Ein wesentlicher Treiber dabei waren die Gilden bzw. Zünfte, in denen sich bestimmte Berufsgruppen zusammengeschlossen hatten. Diese übernahmen versicherungsähnliche Aufgaben im Krankheits- bzw. Todesfall (vgl. Koch 2012, S. 15 ff.).
Durch die Absicherung der Risiken in eng definierten Gruppen in Verbindung mit der daraus resultierenden sozialen Kontrolle konnte Fehlverhalten zu Lasten der Gemeinschaft (Moral Hazard) verhindert werden. Unternehmen in der Rechtsform des VVaG berufen sich noch heute auf diese Wurzeln, auch wenn sich ihr Geschäftsmodell dem der Versicherungsaktiengesellschaften inzwischen weitgehend angenähert hat. In ihren Ursprüngen kleine Selbsthilfeeinrichtungen haben sich über die Zeit zu großen Versicherungskonzernen entwickelt, da ein effizienter Risikoausgleich im Kollektiv nur mit wachsenden Kollektivgrößen zu erreichen war. Mit den größeren Kollektiven entstanden neue Herausforderungen, denn die zunehmende Informationsasymmetrie produziert Folgekosten für die Versichertengemeinschaft.
Mit der Digitalisierung und dem Internet ist es deutlich leichter geworden, Gruppen von Menschen mit gleichgelagerten Interessen auch über große Distanzen zu vernetzen; die Metapher des „Globalen Dorfes“ hat eine ganz neue Bedeutung erhalten. Vor diesem Hintergrund erscheint es naheliegend, dass InsurTechs im Zuge der Digitalisierung nach Wegen zurück zu den Ursprüngen des Versicherungsmodells auf Gegenseitigkeit suchen. Unter dem Oberbegriff „Peer-to-Peer-Insurance“ sind so neue Modelle der Risikotragung entstanden bzw. alte Modelle wiederbelebt worden.
In Deutschland bietet das bereits im Jahr 2010 gegründete deutsche InsurTech Friendsurance eine relativ simple Peer-to-Peer-Insurance-Lösung an. Friendsurance bringt Gruppen von ca. zehn Versicherungsnehmern zusammen und setzt auf deren bestehenden Versicherungsverträgen auf. In den bereits bestehenden und später vermittelten Verträgen erhöht Friendsurance die Selbstbeteiligung (SB). Die dadurch eingesparten Versicherungsprämien fließen in einen Pool, aus dem im Schadenfall die Selbstbeteiligung der Pool-Teilnehmer finanziert wird. Die Versicherungsnehmer erhalten bei geringer Schadenlast ihres Kollektivs einen Bonus. Eine Zahlungsunfähigkeit des Pools bei zu vielen Schadenfällen wird durch „eine Art Rückversicherung“ verhindert; in Abb. 18.2 ist dieses Prinzip anhand eines Rechtsschutzversicherungsvertrags dargestellt (vgl. Friendsurance o. J.).
Friendsurance selbst agiert nicht als Versicherer, sondern als Makler, und bedient sich konventioneller Versicherungsverträge. Die Peer-to-Peer-Komponente beschränkt sich auf den Selbstbehalt im konventionellen Versicherungsvertrag. Die Innovation im Hinblick auf die Risikotragung bleibt in diesem Fall also überschaubar.
Deutlich weiter geht das britischen Start-up LAKA mit seinem Versicherungsmodell. Anders als klassische Versicherer berechnet LAKA nicht ex-ante einen Risikobeitrag und eine Versicherungsprämie, sondern stellt den Kunden monatlich ex-post eine Rechnung auf der Grundlage der tatsächlichen Schadenbelastung des Portfolios. Da der Beitrag unmittelbar an der tatsächlichen Schadenbelastung des Portfolios anknüpft, bleibt für Vorbehalte gegenüber dem Versicherer wenig Raum. Einen Anreiz, berechtigte Schadenansprüche abzulehnen, hat der Versicherer in dieser Konstellation offensichtlich nicht. Die maximale Beitragsbelastung wird auch in diesem Modell durch einen Rückversicherungsvertrag auf das Niveau eines konventionellen Versicherungvertrages begrenzt (vgl. LAKA o. J.).
LAKA vermarktet dieses Modell aktuell als Versicherung für hochwertige Fahrräder über entsprechende Netzwerke gezielt an Fahrrad-Enthusiasten. Die Überlegung hierbei ist, dass diese Zielgruppe den versicherten Gegenstand besonders sorgfältig behandeln und schützen wird und sich so durch positive Risikoselektion Kostenvorteile realisieren lassen. LAKA agiert dabei als MGA (Assekuradeur) mit der Zurich UK als Risikoträger im Hintergrund. Diese Art der Risikoselektion kann offensichtlich nicht auf jeden beliebigen Versicherungskontext übertragen werden; seine Stärken in der Risikoselektion entfaltet das Modell in bestimmten Nischen-Situationen bei hochwertigen Versicherungsgegenständen mit Liebhaber-Charakter.
Allerdings könnte das LAKA-Geschäftsmodell mit der Umkehrung des Versicherungsprinzips auch in völlig anderen Kontexten einen interessanten Wettbewerbsvorteil generieren. So könnte ein derart gestaltetes Versicherungsmodell zum Beispiel in konservativen muslimischen Gesellschaften und Kundenkreisen als Sharia-konformes „Takaful“-Produkt eingesetzt werden (vgl. Littlejohns 2019).

18.3.3 Neue Technologien – Blockchain und Smart Contracts

In dem Maße, in dem Digitale Technologien die Vernetzung zahlreicher Nutzer zu geringen Transaktionskosten ermöglichen, gewinnen Überlegungen an Boden, Finanzdienstleistungen in digitalen Netzwerken unter vollständiger Umgehung von Intermediären wie Banken und Versicherern anzubieten. Das wichtigste Beispiel hierfür sind Blockchain-basierte Kryptowährungen wie Bitcoin, Ethereum oder Cardano. Die konzeptionelle Grundlage für diese wurde im Jahr 2008 mit dem Aufsatz „Bitcoin: A Peer-to-Peer Electronic Cash System“ gelegt (Nakamoto 2008).1
Die Blockchain gehört zur Gruppe der Distributed-Ledger-Technologien. Die Grundidee dieser Gruppe von Technologien besteht darin, Transaktionen dezentral so zu dokumentieren, dass jede an der Transaktion beteiligte Partei über eine identische Kopie des „Ledgers“ (Hauptbuchs) verfügt. Manipulationen an diesem Ledger werden durch einen Konsensmechanismus unter den beteiligten Parteien verhindert. Das Vertrauen in die Integrität dieses Verfahrens (Nachvollziehbarkeit und Fälschungssicherheit) wird durch die Technologie selbst sichergestellt. Damit braucht es keinen Intermediär – im Beispiel der Kryptowährungen also keine Bank – um die Korrektheit der Abläufe des Systems zu garantieren (vgl. Voshmgir 2016, S. 8).
Wenn es mit der Blockchain im Zahlungsverkehr möglich ist, durch neue Geschäftsmodelle Banken als Intermediäre vollständig zu umgehen, liegt die Frage nahe, ob eine ähnliche Entwicklung auch für Versicherungen denkbar ist. Verschiedene Studien stellen hierzu konkrete Überlegungen an (vgl. zum Beispiel McKinsey 2016; vgl. Cognizant 2017).
Neue Möglichkeiten entstehen durch die Block-Chain-Technologie im Versicherungskontext vor allem in der Kombination mit sogenannten „Smart Contracts“. Anders als es der Name vermuten lässt, sind „Smart Contracts“ keine Verträge im juristischen Sinne, sondern einfache Computerprogramme, die auf einer Blockchain gespeichert automatisch eine Aktion auslösen, sobald ein zuvor festgelegtes Kriterium erfüllt wird. Das Signal, ob bzw. wann das Kriterium erfüllt ist, liefert eine externe Datenquelle (das „Orakel“). Smart Contracts erlauben so die Automatisierung von Vorgängen mit einem für alle Beteiligten verlässlichen Ergebnis und die Vermeidung unnötiger Transaktionskosten und Zeitverluste (vgl. IBM o. J.).
Die Kombination aus Blockchain und Smart Contract macht es möglich, Prozesse der Risikotragung mit deutlich geringeren Transaktionskosten zu organisieren. Damit der Mechanismus funktionieren kann, muss das Kriterium für die Leistung im Schadenfall als einfaches „Wenn-Dann-Kriterium“ formulierbar und eine verlässliche Datenquelle für die Überprüfung des Kriteriums verfügbar sein. Ein naheliegendes Anwendungsgebiet für diese Technologie sind Mikroversicherungen im Bereich der Landwirtschaft von Entwicklungsländern. Traditioneller Versicherungsschutz ist hier oftmals nicht verfügbar, da die mit einer manuellen Risiko- und Schadenprüfung verbundenen Transaktionskosten angesichts der geringen Versicherungssummen nicht tragbar wären. Die Auslöser der Schadenereignisse wie Dürre oder Starkregen/Überschwemmung lassen sich wiederum relativ exakt über meteorologische Datenbanken erfassen und entsprechende Datenbanken existieren bereits. Diese Datenbanken können relativ problemlos als Orakel für die Auslösung der Versicherungsleistung verwendet werden und Start-ups wie etherisc spielen bei der Entwicklung dieser Blockchain-basierten Lösungen eine zentrale Rolle. Bereits im Einsatz ist eine solche Lösung u. a. in Sri Lanka (vgl. Berkenkopf 2019).
Ein weiterer Anwendungsbereich für die Blockchain-Technologie in der Versicherungswirtschaft ist die Absicherung komplexer und besonders hoher Risiken, an denen häufig zahlreiche Versicherer in Mitversicherungsgemeinschaften und als Rückversicherer beteiligt sind. Eine Gruppe von derzeit 21 großen Industrie- und Rückversicherern hat sich in der Brancheninitiative B3i die Verbesserung der Versicherung durch reibungslosen Risikotransfer mittels Blockchain zum Ziel gesetzt. Die Grundidee ist hier die Vereinfachung des Datenaustauschs zwischen den an einer Versicherungstransaktion beteiligten Parteien. Die Technologie vermeidet Reibungsverluste, die durch Duplizierung und Qualitätsminderung von Daten entstehen, und garantiert, dass die Gegenparteien eine unanfechtbare einheitliche Sicht auf die gemeinsamen Daten haben (vgl. B3i o. J.).
Im Gegensatz zu den Blockchain-Anwendungen bei Kryptowährungen und Mikroversicherungen ist der Kreis der möglichen Teilnehmer an der Blockchain im Fall von B3i eng begrenzt. Solche Modelle nennt man auch „Private Blockchain“ oder „Konsortium-Blockchain“. Der (IT-)Ressourcenbedarf zur Absicherung der Integrität der Blockchain ist in dieser Ausgestaltungsform deutlich geringer als bei den großen „Public Blockchains“.

18.4 Zusammenfassung und Ausblick

Nachdem zunächst das vertriebliche Potenzial einer digitalisierten Kundenschnittstelle und die Optimierung vorhandener Geschäftsprozesse des Back-Offices im Mittelpunkt der Bemühungen zur Digitalisierung der Versicherung von InsurTechs und Versicherern standen, finden sich inzwischen zunehmend Digitalisierungsansätze, die den Kern des Geschäftsmodells Versicherung − den Risikotransfer − in den Fokus nehmen.
Diese digitalen Innovationen leisten einen wesentlichen Beitrag zur Weiterentwicklung des Geschäftsmodells der Versicherung. Auslöser hierfür sind regulatorische Einflüsse, neue Interpretationen des Versichertenkollektivs und die Verfügbarkeit neuer Technologien. Hieraus entstehen Entwicklungen wie die Renaissance des Geschäftsmodells des Assekuradeurs, eine neue Interpretation des Gegenseitigkeitsprinzips in Geschäftsmodellen der „Peer-to-Peer“-Versicherung und parametrische Versicherungsmodelle auf der Grundlage der Blockchain-/Smart-Contract-Technologie. Viele dieser Anwendungsbeispiele wurden von neuen Marktteilnehmern (InsurTechs) entwickelt und haben heute noch Nischen-Charakter. Die nächsten Jahre werden zeigen, ob diese Modelle mit der zunehmenden Professionalisierung der InsurTechs, dem weiteren technologischen Fortschritt und der Adaption der Modelle durch etablierte Versicherer den Weg aus der Nische finden werden.
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Fußnoten
1
Beim Namen des Autors handelt es sich um ein Pseudonym; die tatsächliche Identität des Autors ist bis heute unbekannt.
 
Literatur
Zurück zum Zitat BaFin (2021): Aller Anfang ist teuer, in BaFin-Journal 1/2021, S. 26–28. BaFin (2021): Aller Anfang ist teuer, in BaFin-Journal 1/2021, S. 26–28.
Zurück zum Zitat Cognizant (2017): Blockchain: A Potential Game Changer for Life Insurance, Cognizant World Headquarters, Teaneck, USA. Cognizant (2017): Blockchain: A Potential Game Changer for Life Insurance, Cognizant World Headquarters, Teaneck, USA.
Zurück zum Zitat Hahn, C. (2018): Finanzierung von Start-up-Unternehmen, 2. Aufl., SpringerGabler, Wiesbaden.CrossRef Hahn, C. (2018): Finanzierung von Start-up-Unternehmen, 2. Aufl., SpringerGabler, Wiesbaden.CrossRef
Zurück zum Zitat Koch, P. (2012): Geschichte der Versicherungswirtschaft in Deutschland, Verlag Versicherungswirtschaft, Karlsruhe. Koch, P. (2012): Geschichte der Versicherungswirtschaft in Deutschland, Verlag Versicherungswirtschaft, Karlsruhe.
Zurück zum Zitat Müller-Peters, H. (2017): Die Wahrnehmung und Bewertung von telematikbasierten Versicherungstarifen. In: Müller-Peters, Horst; Wagner, Fred (Hg.): Geschäft oder Gewissen? Vom Auszug der Versicherung aus der Solidargemeinschaft. Goslar 2017, ISBN 978-3-00-055896-2, Seite 21–47. Müller-Peters, H. (2017): Die Wahrnehmung und Bewertung von telematikbasierten Versicherungstarifen. In: Müller-Peters, Horst; Wagner, Fred (Hg.): Geschäft oder Gewissen? Vom Auszug der Versicherung aus der Solidargemeinschaft. Goslar 2017, ISBN 978-3-00-055896-2, Seite 21–47.
Zurück zum Zitat Pickel M. (2017): Assekuradeur, in: Wagner F. (Hrsg.): Gabler Versicherungslexikon, 2. Auflage, 2017, Gabler Verlag, S. 60. Pickel M. (2017): Assekuradeur, in: Wagner F. (Hrsg.): Gabler Versicherungslexikon, 2. Auflage, 2017, Gabler Verlag, S. 60.
Zurück zum Zitat Voshmgir, S. (2016): Blockchain, Smart Contracts und das Dezentrale Web, Technologiestiftung Berlin. Voshmgir, S. (2016): Blockchain, Smart Contracts und das Dezentrale Web, Technologiestiftung Berlin.
Metadaten
Titel
Digitalisierung und Risikotransfer
verfasst von
Torsten Oletzky
Copyright-Jahr
2023
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-37071-8_18