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2017 | Buch

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Diskurswächter

Zur Methodik, Legitimität und Rolle des Gerichtshofs im demokratisch-rechtsstaatlichen Entscheidungsprozess

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Über dieses Buch

Das Buch nimmt die aktuelle Kritik am EGMR zum Anlass, die Grundsatzfrage zu stellen, welche Rolle dieser gegenüber dem demokratisch-rechtsstaatlichen Entscheidungsprozess seiner Vertragsstaaten einnehmen sollte. Denn die Kritik an der Legitimität des Gerichtshofs, die momentan im Vereinigten Königreich am drastischsten formuliert wird, wirft berechtigte demokratietheoretische Frage auf und ist ernst zu nehmen. Neben einer detaillierten rechtstheoretischen und -methodischen Bewertung der Rechtsprechung wird die Kritik auch aus staatstheoretischer Sicht behandelt. Hierbei werden jeweils interdisziplinär Erkenntnisse der Philosophie sowie der Sprach- und Politikwissenschaften herangezogen. Nach einer ausführlichen Analyse anhand der Wiener Vertragsrechtskonvention werden objektivistische Auslegungsansätze (wie original meaning oder positivisme sociologique) erörtert und zurückgewiesen. Die Kontrolle der Einhaltung prä-existenter Normen ist als alleiniges Erklärungs- und Rechtfertigungsmodell jedenfalls defizitär. Aufgabe des Gerichtshofs ist es auch, den demokratisch-rechtsstaatlichen Entscheidungsdiskurs an seine korrekte Funktionsweise zu binden, seine normative Rationalität sicherzustellen sowie hierfür die Tatsachengrundlage zu prüfen. Hierbei kommt der margin of appreciation und dem sie maßgeblich bestimmenden Faktor der Legitimität der kontrollierten Entscheidung besondere Bedeutung zu. Sie verhindert ihrerseits, dass der Gerichtshof aus seiner Rolle fällt, die darin besteht, als Wächter dieses Diskurses einen Beitrag dazu zu leisten, dass die Institutionen demokratischer Rechtsstaaten ihrer Rolle entsprechen.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
Kapitel 1. Einleitung
Zusammenfassung
Was ist die Rolle des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegenüber dem demokratisch-rechtsstaatlichen Entscheidungsprozess seiner Vertragsstaaten? Die Frage nach Grund, Grenzen und Funktion von Menschenrechten wird erst in kritischen Situationen aktuell, wenn etablierte Rechtfertigungsmuster nicht mehr zu tragen vermögen. Für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg stellte sich die Frage nach der Funktion der Menschenrechte, über die er wacht, und nach seiner eigenen Rolle lange Zeit nicht. Der historische Zweck der Menschenrechte, die Wiederholung schwersten Unrechts zu verhindern, und die rechtliche Bindung seiner Entscheidungen an die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), genügte zur Rechtfertigung seiner Stellung.
Björnstjern Baade

Erster Teil. Methodik und Legitimationsbedürftigkeit der Entscheidungen des Gerichtshofs

Frontmatter
Kapitel 2. Die Anwendung der Wiener Vertragsrechtskonvention durch den Gerichtshof
Zusammenfassung
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist gem. Art. 19 und 32 EMRK beauftragt, die in der Konvention anerkannten Menschenrechte zu schützen. Ihm obliegt ihre Auslegung und Anwendung. Seine Einrichtung stellt einen Übergang von der im Völkerrecht den Normalzustand darstellenden Auto-Interpretation von Verträgen durch die Vertragsstaaten selbst zu einer Delegation dieser Befugnis an einen Dritten dar, der unabhängig und unparteiisch sein soll. Als Gericht hat der Gerichtshof seine Befugnisse justizförmig auszuüben. Er ist nicht, wie etwa der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen, als politisches Organ geschaffen worden, sondern hat die Konvention juristischer Methodik entsprechend anzuwenden.
Björnstjern Baade
Kapitel 3. Die objektivistische Kritik der Auslegungspraxis des Gerichtshofs
Zusammenfassung
Die skizzierte Auslegungspraxis des Gerichtshofs wird sowohl in der wissenschaftlichen Literatur, aber auch von Politik und Medien, regelmäßig in einer Weise kritisiert, die deutlich objektivistische Tendenzen zeigt.
Björnstjern Baade
Kapitel 4. Kritik und Funktion der Verhältnismäßigkeit
Zusammenfassung
Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Beschränkung eines Rechts ist ebenso wie die Abwägung in der Anwendung positiver Verpflichtungen ein fester und ganz wesentlicher Bestandteil der Konventionsrechtsprechung. Gleichzeitig aber ist dieses Verfahren sehr grundsätzlicher Kritik ausgesetzt, die seine Eignung als Entscheidungsverfahren in Frage stellt. Da diese Methodenkritik wiederum eng mit der Frage nach der Rolle des Gerichtshofs verbunden ist, ist sie entsprechend eingehend zu untersuchen.
Björnstjern Baade
Kapitel 5. Besondere Rechtsfiguren des Gerichtshofs und ihre methodische Einordnung
Zusammenfassung
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bedient sich in seiner Rechtsprechung regelmäßig zweier Auslegungsfiguren, welchen im Vergleich zur Praxis anderer internationaler Spruchkörper oder auch nationaler Gerichte oft eine gewisse Besonderheit zugeschrieben wird: die autonome und die dynamische bzw. evolutive Auslegung, welche eng mit dem Begriff des living instrument verbunden sind. Die Besonderheit dieser Figuren gibt regelmäßig Anlass zur Kritik der Selbstermächtigung und dem Vorwurf, nicht der etablierten völkerrechtlichen Methodik zu folgen. Im Folgenden wird daher untersucht werden, ob sich diese vermeintlich besonderen Figuren in den bereits abgesteckten methodischen Rahmen einordnen lassen.
Björnstjern Baade
Kapitel 6. Die Rationalität der Entscheidungen des Gerichtshofs
Zusammenfassung
Eine ganz grundlegende Kritik am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und seiner Rolle gegenüber den demokratisch-rechtsstaatlichen Entscheidungssystemen der Vertragsstaaten stellt die Frage nach der Rationalität seiner Entscheidungen. Die Auslegungen der Konvention, besonders aber die Abwägungen, die er im Rahmen der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vornimmt, treffen auf den Vorwurf, nicht objektiv-rational, sondern subjektiv-willkürlich zu sein.
Björnstjern Baade
Kapitel 7. Zwischenergebnis zum Ersten Teil: Das Problem der Letztbegründung und die Sehnsucht nach absoluter Rechtssicherheit
Zusammenfassung
Die Feststellung, dass die juristische Entscheidung im konkreten Einzelfall gerade nicht durch die Norm determiniert ist, das Ergebnis nicht aus dem Normtext oder ihm externen Entitäten herausgelesen werden kann, läuft einer gängigen Vorstellung von Recht und einer Erwartung von Rechtssicherheit zuwider. Die Erfüllung des Legitimationsdrucks, die in einer objektivistischen Vorstellung allein durch den Input der Norm geleistet wird, wird unzureichend. Die Entscheidung des Gerichts im konkreten Fall lässt sich über Normtext- und Methodenbindung nur bis zu einem gewissen Grad als Entscheidung des Normtextgebers verstehen, ist aber dennoch wichtige Ausgangsvoraussetzung für die volle Legitimation einer Entscheidung. Die Verantwortung für die Entscheidung und damit Kritikpotential an Personen, Verfahren, Vorgehen und Auswirkungen kann nicht vollständig abgewälzt werden. Denn die eigentliche Entscheidung des Juristen verschwindet nicht mehr hinter dem, was die Norm eben bedeutet. In den meisten Fällen kann nicht einfach auf die Regelung verwiesen werden, welche eine andere Entscheidung rechtlich unmöglich gemacht hätte.
Björnstjern Baade

Zweiter Teil. Der Gerichtshof im demokratisch-rechtsstaatlichen Entscheidungsprozess

Frontmatter
Kapitel 8. Der demokratische-rechtsstaatliche Prozess
Zusammenfassung
Um die Funktion von Menschenrechten in der demokratischen Organisationsform, die allen Staaten des Europarats gemein und von der Konvention gefordert ist, untersuchen zu können, muss bestimmt werden, was Demokratie eigentlich beinhaltet. In dieser Hinsicht wird dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und seiner Rechtsprechung regelmäßig eine dünne Demokratietheorie nachgesagt. Während nationale Verfassungsgerichte auf einen dichten, substantiellen, historisch wie kulturell gewachsenen Demokratiebegriff zugreifen könnten, müsse der Gerichtshof sich auf einen engen, kompromissbeladenen Begriff beschränken.
Björnstjern Baade
Kapitel 9. Die Funktion der Konventionsrechte
Zusammenfassung
Was nun ist in der beschriebenen Demokratiekonzeption die Funktion der Rechte, welche die Europäische Konvention für Menschenrechte verbürgt? Der Ausgleich zwischen privater und öffentlicher Autonomie sowie die Abgrenzung der Freiheitssphären der Bürger obliegt grundsätzlich dem demokratisch-rechtsstaatlichen Prozess. Das, was sein soll, ist durch den demokratisch legitimierten Gesetzgeber, die über Gesetze an seine Entscheidungen rückgekoppelten Gerichte und die Verwaltung sowie die von ihm abhängige Regierung zu bestimmen.
Björnstjern Baade
Kapitel 10. Die Rolle des Gerichtshofs
Zusammenfassung
Der Gerichtshof ist in den letzten Jahren mehr und mehr unter einen Legitimationsdruck geraten, dem er in dieser Konstanz und Intensität zuvor nicht begegnen musste. An einigen high-profile-Fällen entzündete sich, teils dramatisch, die Frage nach Grund und Grenzen seiner Entscheidungsbefugnis.
Björnstjern Baade
Kapitel 11. Schlussbetrachtungen
Zusammenfassung
Napoleon Bonaparte soll einmal gesagt haben, eine Verfassung müsse kurz und dunkel sein. Die EMRK ist über weite Teile in kurzen Sätzen verfasst, deren Bedeutung auf den ersten Blick durchaus im Dunkeln liegen kann. Dies ist insofern von Vorteil, als sie hierdurch unmittelbar an offensichtliche moralische Intuitionen anknüpfen kann. Niemand darf der Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unterworfen werden. Jedermann hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Jede Person hat das Recht auf ein faires Verfahren. Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz. Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung.
Björnstjern Baade
Backmatter
Metadaten
Titel
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Diskurswächter
verfasst von
Björnstjern Baade
Copyright-Jahr
2017
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Electronic ISBN
978-3-662-54280-4
Print ISBN
978-3-662-54279-8
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-662-54280-4