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2017 | Buch

Kommunikationswissenschaft im internationalen Vergleich

Transnationale Perspektiven

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Über dieses Buch

Die Kommunikationswissenschaft hat sich national unterschiedlich entwickelt, unterliegt aber auch transnationalen Einflüssen. Der Band vergleicht kommunikationswissenschaftliche Forschung in Europa, den USA und exemplarisch einigen Schwellenländern. Welche Großregionen geben den Ton an? Gilt der Blick in die USA für alle Fachcommunities? Herrschen in der Theoriebildung nationale oder transnationale Referenzgrößen vor? In Bezug auf welche Basistheorien und welche Theorien mittlerer Reichweite? Im Mittelpunkt stehen zwei Forschungsbereiche, die die meisten nationalen Fachgemeinschaften miteinander teilen: die Öffentlichkeits- und die Nutzungsforschung. Welche Ausprägungen haben sie international und wie reagieren sie auf aktuelle Prozesse wie die Globalisierung und die Digitalisierung?

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
Kommunikationswissenschaft vergleichend und transnational. Eine Einführung
Zusammenfassung
Diese Einführung zu dem Herausgeberband „Kommunikationswissenschaft im internationalen Vergleich. Transnationale Perspektiven“ erklärt nicht nur Entstehung und Anlage dieses Buchs, sondern verdeutlicht auch Hauptlinien heutiger kommunikationswissenschaftlicher Forschung unter den Bedingungen von fortschreitendem medialen und sozialen Wandel. Neben gewachsenen Unterschieden in der Sozial- und Ideengestalt der Kommunikationswissenschaft verschiedener Länder findet ein Transfer von Wissen statt. Diese Transferprozesse vermitteln sich u. a. über persönliche Kontaktmilieus und transnationale Zitationen. In der Fachentwicklung der Kommunikationswissenschaft spielten stets Annäherungs- wie auch Abgrenzungsbemühungen (letztere v. a. in institutioneller Hinsicht) gegenüber sogenannten Schwester- und Mutterwissenschaften wie der Soziologie eine Rolle (vgl. Wilke 2016 für Deutschland). Darüber hinaus hat das ambivalente Verhältnis der Kommunikationswissenschaft in zahlreichen Ländern zur US-Kommunikationsforschung eine besondere Rolle gespielt. Die US-Kommunikationsforschung war und ist anziehender Pol für andere Fachgemeinschaften, gleichzeitig bildet sie aber auch eine Abgrenzungsfolie (bis hin zur Ablehnung ihrer funktionalistischen Ausprägungen etwa in Lateinamerika). Ein Blick in die Vergangenheit macht auch deutlich, dass Verstrickungen der Kommunikationswissenschaft und -forschung mit den autoritären und totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts oft noch nicht aufgearbeitet worden sind. Derzeit sind wissenschaftspolitische Standardisierungsprozesse in Bezug auf ,erfolgreiche‘ Kommunikationsforschung innerhalb der Universitäten zu verzeichnen (etwa via Messung von Publikationsleistungen oder Drittmitteln). Eine große Herausforderung in terminologischer, theoretischer und methodologischer Hinsicht stellen überdies digitale Medienumgebungen und ihre gewandelten Produktions- und Rezeptionsprozesse dar.
Stefanie Averbeck-Lietz, Maria Löblich

Einzelstudien: Europäische Entwicklungen

Frontmatter
From Cultural Studies to Impact Factor: Media and Communication Research in the United Kingdom
Zusammenfassung
Dieses Kapitel analysiert die Entwicklung der Kommunikations- und Medienwissenschaft im Vereinigten Königreich. Im ersten Teil werden Hauptmerkmale der historischen Entwicklung der Kommunikationswissenschaft auf der Insel herausgearbeitet. Im folgenden Abschnitt wird die Medien- und Kommunikationswissenschaft in die stark neoliberal geprägte britische Wissenschaftslandschaft eingeordnet. Der politische Fokus auf Impactfaktoren und spezifische Evaluierungsformen wissenschaftlichen Erfolgs werden ebenfalls diskutiert. Der sogenannte „practice turn“ dient als Beispiel für die direkte Einflussnahme politischer Entscheidungen auf das Forschungsfeld. Die Medien- und Kommunikationswissenschaft im Vereinigten Königreich beschäftigte sich in ihren Anfängen mit wichtigen gesellschaftlichen Fragen. Die Veränderungen in der Hochschulpolitik der letzten Jahre erschweren es ForscherInnen mehr und mehr, innovative Projekte außerhalb der vorgegebenen Bahnen durchzuführen.
Caitriona Noonan, Christine Lohmeier
Die Anerkennung und Entwicklung der Kommunikationswissenschaft in den Niederlanden
Zusammenfassung
Dieser Beitrag befasst sich mit der Entwicklung der Kommunikationswissenschaft in den Niederlanden. Der Fokus liegt auf der Universität Amsterdam von der Epoche Baschwitz zur Epoche McQuail sowie der Universität Nijmegen seit 1950. Die Institutionalisierung einer eigenständigen Kommunikationswissenschaft war in den Niederlanden nicht einfach und hatte mit zahlreichen (wissenschafts-)politischen Hindernissen zu kämpfen. Erste Impulse kamen von der Zeitungswissenschaft im Nachbarland Deutschland; ab den 1980er Jahren spätestens prägte sich eine deutlich anglofon betonte Orientierung aus. Dieser Artikel geht sowohl auf die Akteure der Institutionalisierung als auch auf strukturelle Begrenzungen, Hindernisse und Chancen ein.
Joan Hemels
Communication Sciences in Flanders: A History
Zusammenfassung
Dieses Kapitel thematisiert die Entwicklung der Kommunikationswissenschaft als eine Forschungsdisziplin in Flandern, dem nördlichen, niederländisch-sprachigen Teil von Belgien. Es werden sowohl strukturelle Faktoren als auch die Rolle von Einzelpersonen analysiert. Die Studie verdeutlicht die Bedeutung von strukturellen und institutionellen Faktoren, die erheblich zur Entwicklung der Disziplin beigetragen haben. Hierbei wird auf die föderale politische Struktur des Landes eingegangen, die die Entscheidungsgewalt bezüglich der Hochschulbildung vom Belgischen Staat auf die flämischen und wallonischen Gemeinden überträgt. Ebenso wird die „Versäulung“ der Gesellschaft genannt, eine bestimmte belgische Form der Konkordanzdemokratie, die die Bürger ‘von der Wiege bis zur Bahre‘mittels unterschiedlicher religiös-ideologischer Organisationen leitet, die sich bis in die Universitäten erstreckt. Des Weiteren wird der Kampf um die Legitimität der Disziplin innerhalb der Sozialwissenschaften betrachtet und es wird eine bestimmte Deutung der Demokratisierung der Ausbildung thematisiert, welche zur langjährigen Betonung der pädagogischen statt der Forschungsaspekte flämischer Wissenschaft führte. Darauf folgt ein Blick auf die wechselnden Schwerpunkte in der flämischen Kommunikationsforschung. Es werden die frühen (1945–1970) Einflüsse der Studien der deutschen Publizistik/Massenkommunikation und der US-amerikanischen „mass communications“ sowie die anschließende Ausweitung und Neuorientierung bestehender Forschungstraditionen ab den 1970er-Jahren sowohl in Hinsicht auf theoretische Modelle als auch auf Medien und Inhalte beschrieben. Daraus entwickelte sich neben der Verbreitung der bereits existierenden Forschungstraditionen zur Massenkommunikation vor allem eine kritische, deutende Sichtweise. Das Kapitel schließt mit der These ab, dass die momentane internationale Orientierung flämischer Kommunikationswissenschaftler auf das frühe starke Interesse ihrer Vorgänger für internationale Vorgänge in dem Feld zurückzuführen ist.
Jan Van den Bulck, Hilde Van den Bulck
Die Mediengesellschaft und ihre Wissenschaft im Wandel. Disziplinäre Genese und Wandelprozesse der Kommunikationswissenschaft in Deutschland 1945–2015
Zusammenfassung
Medieninnovationen und Medienwandel, Nachfrage nach Wissen um Kommunikation, Medien und Öffentlichkeit seitens der Gesellschaft sowie die Professionalisierung von Medienleuten sind die externen Referenzen, die die kognitive, institutionelle und soziale Identität des Fachs Kommunikationswissenschaft in Deutschland seit seinen Anfängen als Zeitungskunde vor 100 Jahren begleiten und beeinflussen. Inwieweit diese fachhistorischen Entwicklungsprinzipien die Genese und den Wandel der Ideen- und Sozialgestalt des Fachs seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 bis heute geprägt, stimuliert und vorangetrieben haben und wie sich in der Folge das Fach- und Selbstverständnis der deutschen Kommunikationswissenschaft immer wieder verändert haben, diese Fragen stehen im Mittelpunkt dieses Überblicks.
Erik Koenen, Christina Sanko
The French Context of Internet Studies: Sociability and Digital Practice
Zusammenfassung
Internet Studies stellen ein wichtiges, aktuelles Feld für die Kommunikations- und Medienwissenschaft dar. Das Aufkommen einer „Digital-Kultur“ (Doueihi 2011) und die fortschreitende Mediatisierung des Alltags fordern jede nationale Forschungslandschaft heraus. In diesem Beitrag beabsichtigen wir daher nicht, die Gesamtheit der französischen Medien- und Kommunikationswissenschaft zu präsentieren. Das Feld und seine akademisch etablierte Disziplin, Informations- und Kommunikationswissenschaften (SIC, Sciences de l’information et de la communication), ist zu vielfältig und komplex. Wir möchten jedoch die Entstehung und historische Erdung des für die SIC zentralen Phänomens der Internet Studies in der Konvergenz von Telematik und Rezeptionsforschung in Frankreich darstellen. Beide Felder, sowohl Telematik als auch Publikumsforschung, profitieren von nützlicher Pionierarbeit: Die Arbeiten zu Kino und Kulturkonsum sowie die frühen Arbeiten in Frankreich zum Thema “Kommunikationsmaschinen“ (Schaeffer 1970) und insbesondere zu der französischen Minitel/Teletel Erfahrung (1980–1995) haben die Forschung für das digitale Zeitalter vorbereitet, jetzt, da multiple screens und terminals in einer „Konvergenzkultur“ (Jenkins) gedeihen. Es besteht eine hohe Nachfrage nach User- und Nutzungsdaten von den (nicht ganz so) alten TV-Nutzer-Panels bis zu den heutigen digital analytics. Gleichzeitig soll ein transnationaler Bezug gewürdigt werden. Der Einfluss von in die Vereinigten Staaten ausgewanderten europäischen ForscherInnen empirischer Kommunikationswissenschaft auf die französische Forschung trug nicht nur zur Entstehung der frühen Beispiele der institutionalisierten Kommunikationswissenschaft in Frankreich bei, sondern auch zu einer Verbreiterung der Erforschung von Medienöffentlichkeiten über das Angebot und die von den Medien und der Kulturindustrie produzierten Inhalte hinaus, nämlich unter Bezugnahme auf soziale Kontexte und kollektive Dynamiken. Diese Herangehensweisen bergen wertvolle Erfahrungen für die Internet Studies und die Erforschung sogenannter digitaler Spuren, um mehr über kulturelle Praxen zu lernen. Die Herausforderungen “digitaler Methoden” profitieren von der zentralen Stellung des Kulturbereiches in Frankreich und von sozialer Nutzung und Praxis als akademischen Kernkonzepten.
Carsten Wilhelm, Olivier Thévenin
Die spanische Kommunikationswissenschaft auf dem Weg zu internationaler Anerkennung. Ein Abriss der Fachgeschichte
Zusammenfassung
Trotz günstiger Strukturziffern der spanischen Kommunikationswissenschaft besteht weiter Spielraum, um sie im Rahmen der Universität besser aufzustellen. Auf den folgenden Seiten werden die Vergangenheit und die Gegenwart dieser Disziplin in Spanien durchlaufen, um zu zeigen, dass eine Asymmetrie zwischen der institutionellen und der intellektuellen Dimension charakteristisch gewesen ist. Es werden Annahmen eingeführt, die die Entstehung und den Fortbestand dieses Phänomens erklären wollen. Eine erste Analyse der gegenwärtigen Situation zeigt, dass eine qualitätsorientierte Wissenschaftspolitik scheinbar geholfen hat, diese Asymmetrie zu verringern und die breit aufgestellte spanische Wissenschaftsgemeinschaft ihre epistemologische Kapazität erhöht hat und in naher Zukunft auf internationaler Ebene bekannter sein wird als sie es in der Vergangenheit war.
Ivan Lacasa-Mas
Studying the Career of Ideas as Reception History: Habermas’ Strukturwandel and Finnish Media Studies, 1970s to 2010s
Zusammenfassung
Die Erforschung der Aneignung wissenschaftlicher Ideen befasst sich mit der Art und Weise, wie Informationen von WissenschaftlerInnen gemeinsam genutzt, geteilt und kommuniziert werden. In historisch-systematischer Weise wird im folgenden Kapitel Aufschluss darüber gegeben, wie wissenschaftliche Kommunikation in der Praxis stattfindet. Jürgen Habermas’ Buch über den “Strukturwandel der Öffentlichkeit” (1962) wurde von den Publizistik- und MedienwissenschaftlerInnen in Westdeutschland zunächst einmal ignoriert und auch im englischsprachigen Teil des Feldes brauchte das Buch 30 Jahre, um Anerkennung zu finden. Der Artikel greift die finnische Rezeption des “Strukturwandels” auf und veranschaulicht, wie unterschiedliche kontextabhängige Faktoren, so herkömmliche wissenschaftliche Denkmuster und Paradigmen, nationale Universitätstraditionen, politische und andere Interessen von WissenschaftlerInnen sowie deren Sprachkenntnisse zu unterschiedlicher Bewertung und Würdigung von Habermas’ Klassiker führten. Zuerst wird die allgemeine Rezeptionsgeschichte des Buches in Finnland in den 1970er und 1980er-Jahren thematisiert. Daraufhin wird anhand von fünf Interpretationsstrategien und Diskursen präzisiert, wie Habermas nach 1990 verstanden wurde. Abschließend wird darauf verwiesen, dass „English-only media studies“ während der letzten Jahrzehnte zur Norm geworden sind und im Zuge dessen zu (mehr) Weltoffenheit aufgerufen.
Tarmo Malmberg
Zur Entwicklung der Kommunikationsforschung in der tschechischen Universität und Gesellschaft
Zusammenfassung
Der Text umreißt die Entwicklung des Interesses der Fachwelt an den Medien im tschechischen Sprachraum: von den Überlegungen seitens Jan Ámos Komensky (Comenius) über die Rolle von Zeitungen bis zur Gegenwart. Die methodologische Grundlage beruht auf dem Nachvollzug des Fachinteresses an medialer Kommunikation als Bestandteil der Erforschung der Gesellschaftsentwicklung in sozial-kommunikativer, soziologischer und geschichtlicher Hinsicht. Der Beitrag erfasst die Gründung bedeutender Forschungs- und Bildungsinstitutionen in einzelnen Etappen und herausragende Persönlichkeiten, die mit diesen betreffenden Etappen verbunden sind.
Jan Jirák, Barbara Köpplová
Kommunikationswissenschaft in Österreich. Öffentlichkeit(en) aus (trans-)nationaler Perspektive
Zusammenfassung
Auch für die österreichische Kommunikationswissenschaft war und ist die Befassung mit Öffentlichkeit zentral. In diesem Beitrag wird ausgehend von einer kritischen Diskussion darüber, was für oder gegen die Erforschung nationaler Wissenschafts- und Fachkulturen spricht, sowie einem Blick zurück auf die Etablierung der Kommunikationswissenschaft als akademische Disziplin in Österreich, untersucht, ob es auch bei der Erforschung (trans-)nationaler Öffentlichkeit(en) einen österreichischen Weg zwischen „Austrifizierung“ und „Internationalisierung“ gibt. Mittels Metaanalyse „österreichischer“, zwischen 1990 und 2013 erschienener Publikationen zu Öffentlichkeit, können verschiedene inhaltliche Schwerpunkte identifiziert werden. So wurde insbesondere zu Gegen- und Bewegungsöffentlichkeiten, Geschlecht und Öffentlichkeiten, Neue Medien und Öffentlichkeiten, Europäischer Öffentlichkeit sowie ökonomischen Bedingungen von Öffentlichkeit geforscht – und dabei doch überwiegend eine nationale Perspektive eingenommen.
Martina Thiele
Publizistik- und Kommunikationswissenschaft in der Schweiz. „Uses-and-Gratifications“ und „Europäische Öffentlichkeit“
Zusammenfassung
„Journalistik“ und „Publizistik“ wurden in der Schweiz zwar vergleichsweise schon relativ früh als Themengebiete an den Universitäten Zürich und Fribourg angeboten, aber die wissenschaftliche Institutionalisierung des Fachs „Publizistik- bzw. Kommunikationswissenschaft“ erfolgte eher langsam und erst relativ spät. Dies ist nicht zuletzt eine Folge davon, dass es sich bei der Schweiz um einen Kleinstaat mit vergleichsweise wenigen Universitäten handelt. In diesem Beitrag wird in einem ersten Schritt die akademische Professionalisierung des Fachs skizziert, und in einem zweiten Schritt wird an zwei Fallstudien – der Uses-and-Gratifications-Ansatz der Mediennutzung und das Thema Europäische Öffentlichkeit in den Schweizer Medien – der Beitrag der schweizerischen Publizistikwissenschaft mit Blick auf die internationale bzw. europäische Kommunikationswissenschaft dargestellt und kritisch befragt.
Heinz Bonfadelli

Einzelstudien: Außereuropäische Entwicklungen

Frontmatter
Faulty Reception: The Institutional Roots of U.S. Communication Research’s Neglect of Public Sphere Scholarship
Zusammenfassung
Dieser Beitrag untersucht die Besonderheiten der Rezeption des Öffentlichkeitskonzepts (Public Sphere) von Habermas in der US-amerikanischen Communication Research anhand wissenssoziologischer Faktoren. Dabei heben wir zwei zusammenwirkende Faktoren hervor, die für die verspätete und insbesondere unvollständige Rezeption der habermasschen Ideen mitverantwortlich zeichnen: (1) Die nach dem Zweiten Weltkrieg stattfindende Institutionalisierung der angehenden Wissenschaftsdisziplin „Kommunikation“ aus bis dahin bestehenden Journalism Schools und auf Rhetorik spezialisierten Speech Departments heraus; sowie (2) den spezifischen Verlauf der Übersetzung und der transnationalen Aneignung des Public-Sphere-Konzepts von Habermas in den 1990er Jahren. Wir argumentieren, dass das institutionelle Fundament der Kommunikationswissenschaft in den USA mit dazu beigetragen hat eine grundständige Auseinandersetzung mit „public sphere“ durch KommunikationswissenschaftlerInnen zu verhindern oder zumindest zu verzögern. Unsere hier nur teilweise getestete Hypothese lautet, dass das relativ zu den Nachbardisziplinen gesehen niedrige Prestige der Kommunikationswissenschaft innerhalb der amerikanischen Universitätskultur für die Art und Form, wie Ideen und Konzepte in der Disziplin aufgenommen, dort verarbeitet und aus dieser wieder exportiert werden, mitverantwortlich ist. Im Fall der Public Sphere nehmen wir an, dass Habermas‘ Arbeit zuerst von amerikanischen Geschichtswissenschaftlern und Vertretern der traditionellen Social Sciences aufgenommen worden ist und erst dann, in einem zweiten Schritt aus solchen Disziplinen mit höherem Prestige an die Kommunikationswissenschaft gewissermaßen „weitergereicht“ worden ist. Die Public Sphere ist, so unsere Annahme, in der US-Kommunikationswissenschaft, in Anlehnung an das bekannte Modell von Lazarsfeld und Katz (1955) gesprochen, in einem Two-Step-Flow angekommen. Aufgrund des in der Geschichte ihrer Institutionalisierung wurzelnden anhaltend niedrigen Prestiges der Kommunikationswissenschaft erwarteten wir für die Rezeption des Public Sphere Konzepts, dass diese charakterisiert sein würde durch eine insgesamt „leichtere“ Auseinandersetzung, eine verzögerte Übernahme, ein einseitiges Zitationsmuster (Kommunikationswissenschaftler zitieren, aber werden nicht zitiert) und wenige „Botschafter“ des Konzepts innerhalb des Feldes, denen eine Schlüsselrolle für die Rezeption und künftige Deutung des Konzepts innerhalb der Disziplin zukommt. Um unsere Annahme zu testen, wurde eine vergleichende Analyse von Journalbeiträgen, die Habermas und die Public Sphere (HPS) zitieren, im Zeitverlauf unternommen. Dafür haben wir zehn Communication Journals aus den USA mit zehn (bezüglich Relevanz und Status in der Disziplin) vergleichbaren Journals aus drei anderen US-Disziplinen verglichen: der Politikwissenschaft, Soziologie und Geschichte. Auf Basis von Volltext, Titel/Abstract und Keyword-Suchen wurden der Zeitverlauf, die Häufigkeit und die Wechselseitigkeit von HPS-Referenzen untersucht. Die Journal-Analyse bestätigte unsere ursprüngliche Annahme, was die Rolle von Botschaftern und Übersetzungspionieren innerhalb des Feldes betraf: Die entsprechenden kommunikationswissenschaftlichen Beiträge erschienen später und in geringerer Häufigkeit. Zudem bestätigte sich, dass Zitationen von kommunikationswissenschaftlichen Beiträgen wesentlich seltener waren, als das umgekehrte Zitationsmuster, also Zitationen von Historikern, Politikwissenschaftlern und Soziologen durch KommunikationswissenschaftlerInnen. Generell wurden die kommunikationswissenschaftlichen Artikel deutlich weniger zitiert als jene aus den benachbarten Disziplinen. Wir folgern daraus, dass die Legitimationsprobleme der Disziplin in den USA intellektuelle Konsequenzen haben. Im untersuchten Fall zeigt sich dies darin, dass zwar Ideen und Konzepte in die Disziplin einreisen, aber es kaum einen Rückreiseverkehr und Wiederexport aus der Kommunikationswissenschaft gibt. Das Beispiel von Habermas und der Public Sphere kann, so nehmen wir an, stellvertretend für eine grundsätzlich bestehende Situation gelesen werden.
Jefferson Pooley, Christian Schwarzenegger
Critical Concerns and Commercial Interests: The Historical Development and Incipient Consolidation of Communication Research in Mexico
Zussamenfassung
Das Kapitel bietet einen Überblick über die Entwicklung und gegenwärtige Ausrichtung der Kommunikationsforschung in Mexiko. Der Artikel beginnt mit einem Abriss der Entstehung von kommunikationswissenschaftlichen Instituten im Land. Daraufhin werden die 1960er und -70er Jahre thematisiert: Diese ersten Jahrzehnte der Ausbildung und Erforschung von Kommunikation und Medien in Mexiko waren von der Annahme kritischer Ansätze und eines stark theoriegeleiteten Forschungsansatzes geprägt. Es folgt eine Analyse verschiedener Faktoren und struktureller Bedingungen, die sich auf die Quantität und Qualität von empirischer Forschung und den wachsenden Anstieg wissenschaftlicher Veröffentlichungen ausgewirkt haben. Des Weiteren wird die schwierige Beziehung mexikanischer KommunikationswissenschaftlerInnen zu privaten Werbe-, Marketing- und Meinungsforschungsagenturen diskutiert sowie der geringe Einfluss des wissenschaftlichen Kommunikationssektors auf die Erarbeitung und Einführung von Regulierungsbestimmungen sowie die Medien - und Telekommunikationspolitik generell. Zum Schluss werden Fortschritt und Festigung der Kommunikations- und Medienwissenschaft in Mexiko und die Herausforderungen diskutiert, die mexikanische WissenschaftlerInnen in den nächsten Jahren zur Sprache bringen sollten.
José Carlos Lozano
Brazilian Research in Communication: Historical Synopsis and Reflexive Trends of Academic Work in an Emerging Country
Abstract
Brasilianische Kommunikationsforschung gründete und entwickelte sich im Zuge der institutionellen Modernisierung der Medien im Kontext internationaler Kapitalströme nach dem Militärputsch von 1964. Der folgende Artikel dokumentiert diesen Verlauf und hebt die dafür wesentliche wissenschaftliche Literatur hervor. Drei Entwicklungsphasen lassen sich unterscheiden: Die erste Phase zeichnet sich durch den Einfluss von nordamerikanischen Kommunikationsvorstellungen aus, im Zuge derer Kommunikation als ein Mittel angesehen wurde, um institutionelle Innovationen zu verbreiten. Das entsprach Entwicklungskonzepten, die am Ciespal (International Center for Higher Studies on Communication in Latin America) favorisiert wurden. Ab Mitte der 1970er Jahre richtete sich die kommunikationswissenschaftliche Forschung dann auf die Medien als Reproduzenten der dominanten Ideologie, in einem Land, das der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Vorherrschaft durch den nordamerikanischen Imperialismus ausgesetzt war. Ende der 1980er Jahre begann die dritte Phase, welche von der neuen lateinamerikanischen Schule kommunikationswissenschaftlichen Denkens beeinflusst war. In dieser Phase wendete die Kommunikationswissenschaft den Blick auf Rezeptions- und Aneignungsphänomene im Kontext kultureller Hybridisierung und Globalisierung. Derzeit ist die Forschung erkenntnistheoretisch fragmentiert. Bestimmte Zeichen deuten jedoch daraufhin, dass sich in der nahen Zukunft die brasilianische Kommunikationsforschung mit der Forschung in anderen Schwellen- und Entwicklungsländern verbinden wird: Nicht zuletzt, indem die ForscherInnen in die Analyse der Eingliederung aller Gesellschaftsschichten und ihrer entsprechenden Populärkultur in die neue technologische Welt investieren.
Francisco Rüdiger, Ana Carolina Escosteguy
Die Entwicklung der Kommunikationsforschung und -wissenschaft in Ägypten. Transnationale Zirkulationen im Kontext von Kolonialismus und Globalisierung
Zusammenfassung
Der Beitrag erörtert die Entwicklung der ägyptischen Kommunikationswissenschaft seit ihren Anfängen in den 1930er Jahren. Ägypten ist geprägt von (post-)kolonial bedingten Wissenstransfers aus Europa und den USA, die häufig als Abhängigkeit interpretiert, gleichzeitig aber reproduziert werden. Allerdings ist wiederum Ägypten für die arabische Welt ein Kristallisationspunkt für den Transfer von Studiengängen, Personal und Lehrbüchern in die Region und somit ein exzellentes Beispiel für die transnationale Zirkulation von Wissen.
Carola Richter, Hanan Badr
Media/Communication Studies and Cultural Studies in Japan (1920s–1990s): From ‘Public Opinion’ to the ‘Public Sphere’
Zusammenfassung
Dieser Aufsatz befasst sich mit zwei Momenten der Geschichte der Medien- und Kommunikationswissenschaft in Japan, den Anfängen der Disziplin in der Vorkriegszeit und dem Aufkommen eines kritischen kommunikations- und medientheoretischen Ansatzes in den 1980er und 90er Jahren, der mit der Rezeption des Habermasschen Öffentlichkeitsbegriffs einherging. Im ersten Teil des Aufsatzes wird der Fokus auf die Theoretisierung von „Presse“ und „öffentlicher Meinung“ durch Vertreter des Faches Zeitungswissenschaft (shinbungaku) sowie des marxistischen und sozialpsychologisches Spektrums gelegt. Im zweiten Teil wird auf die Rezeption der (British) Cultural Studies in Japan seit den 1980er Jahren eingegangen, die auf eine Zeit der Dominanz von aus den USA stammenden positivistisch-sozialwissenschaflichen Ansätzen der Mass Communication Research in den 1950er und 60er und stark depolitisiert-postmodernistischer medienwissenschaftlicher Ansätze in den 1970er und 80er Jahren gefolgt ist.
Akihiro Kitada, Fabian Schäfer
Country Overviews
Zusammenfassung
The overviews are in the order of the book chapters and written by the same authors.
Stefanie Averbeck-Lietz
Metadaten
Titel
Kommunikationswissenschaft im internationalen Vergleich
herausgegeben von
Stefanie Averbeck-Lietz
Copyright-Jahr
2017
Electronic ISBN
978-3-531-18950-5
Print ISBN
978-3-531-17995-7
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-531-18950-5