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2011 | Buch

Diskursforschung

Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen

verfasst von: Reiner Keller

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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Über dieses Buch

Das Buch gibt im ersten Teil einen interdisziplinären Überblick über den aktuellen Stand der Diskursforschung und erläutert die wichtigsten diskurstheoretischen Grundlagen. Im zweiten Teil wird das forschungspraktische Vorgehen bei sozialwissenschaftlichen Diskursanalysen - von der Entwicklung der Fragestellung über die Auswahl von Daten, deren Analyse bis hin zur Interpretation und Präsentation der Ergebnisse - detailliert beschrieben. Mit seiner didaktisch aufbereiteten Darstellung wendet sich das Buch an Studierende und Lehrende der Soziologie, der Politik- und Geschichtswissenschaften und angrenzender Disziplinen, die sich im Rahmen der Methodenausbildung, von Studienprojekten und Abschlussarbeiten mit Diskurskonzepten auseinandersetzen wollen sowie allgemein an SozialwissenschaftlerInnen, die bezüglich der Konzeption und Durchführung eigener Forschungsvorhaben an Grundlagen und Umsetzungsmöglichkeiten der Diskursforschung interessiert sind.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
1. Die Aktualität der Diskursforschung
Zusammenfassung
Seit dem ersten Erscheinen der vorliegenden Einführung in die Diskursforschung im Jahre 2003 hat sich das Feld der sozialwissenschaftlichen Analyse von Diskursen enorm ausgeweitet und in seinen Ansätzen vervielfältigt. Dies gilt insbesondere für den deutschsprachigen Raum – hier ist die Konjunktur der Diskursforschung sehr viel stärker zu beobachten als in englisch- oder französischsprachigen Kontexten. Davon zeugen einige zwischenzeitlich entstandene Buchreihen, Überblickswerke, Netzwerkbildungen, eine Vielzahl von Tagungen, Online-Zeitschriften und Webplattformen sowie zahlreiche Monographien und Sammelbände, die in dieser kurzen Einführung nicht alle angemessen gewürdigt werden können. Zu den wichtigsten Trends des letzten Jahrzehnts gehört sicherlich die deutliche Weiterentwicklung der Diskursforschung in den Sprachwissenschaften, die Brückenschläge zu den Sozialwissenschaften vornimmt, sowie die zunehmende Beschäftigung mit Fragen der Analyse audiovisueller Daten bzw. multimodalen Datenformaten. Vergleicht man die älteren und neueren Auflagen mancher deutschsprachigen Einführungen (zur Kritischen Diskursanalyse oder zur Historischen Diskursanalyse), dann liegt es nahe, von einer Tendenz zur ‚Versozialwissenschaftlichung der Diskursforschung‘ und insoweit von einem deutlichen Beleg für den Ansatz der vorliegenden Handreichung zu sprechen. In den nachfolgenden Ausführungen wurden die Verweise da aktualisiert, wo sich das als nötig erwies, um den angesprochenen Dynamiken Rechnung zu tragen. An wenigen Stellen wurden die Ausführungen erweitert, soweit der eng gesetzte Rahmen der Buchreihe dies zulässt.
Reiner Keller
2. Ansätze der Diskursforschung
Zusammenfassung
Der Begriff ‚discourse‘ meint im angelsächsischen Sprachalltag ein einfaches Gespräch, eine Unterhaltung zwischen verschiedenen Personen. In der französischen bzw. den romanischen Sprachen ist ‚discours‘ (‚discorso‘) eine geläufige Bezeichnung für eine ‚gelehrte Rede‘, einen Vortrag, eine Abhandlung, Predigt, Vorlesung und dergleichen mehr. Seit einigen Jahren taucht auch in der deutschen Alltagssprache der Begriff ‚Diskurs‘ auf, meist, um damit ein öffentlich diskutiertes Thema (z.B. der Hochschulreformdiskurs), eine spezifische Argumentationskette (z.B. ‚der neoliberale Diskurs‘) oder die Position/Äußerung eines Politikers, eines Verbandssprechers (etwa ‚der Gewerkschaftsdiskurs‘) usw. in einer aktuellen Debatte zu bezeichnen, zuweilen auch, um von organisierten Diskussionsprozessen zu sprechen. Dennoch ist ‚Diskurs‘ als nicht-wissenschaftlicher Begriff im Englischen und Französischen sehr viel geläufiger, und auf diesen Begriffsverständnissen beruht zum größten Teil seine wissenschaftliche Karriere. Dabei wird unter ‚Diskurs‘ auch in den Sozial- und Geisteswissenschaften sehr Unterschiedliches verstanden. Das gilt sowohl für die theoretische Konzeptualisierung im Hinblick auf disziplinspezifische Forschungsinteressen wie auch für die methodische Umsetzung in konkreten Forschungsprojekten. In den letzten Jahren sind insbesondere im englischsprachigen Raum eine Vielzahl von Einführungs- und Überblickdarstellungen zum Diskursbegriff erschienen. Sie dokumentieren die enorme Verbreitung von diskursbezogenen Perspektiven in verschiedenen Disziplinen und auch quer zu Disziplingrenzen. Mehrere Publikationsreihen und Zeitschriften wie „Discourse & Society“ oder „Discourse Studies“, aber auch Workshops, Tagungen und Summer Schools haben sich als Foren entsprechender Diskussionen etabliert. Im disziplinübergreifenden Überblick können einige, in sich wiederum differenzierte Akzentuierungen des Diskursbegriffs unterschieden werden. Die wichtigsten Grundideen werden nachfolgend exemplarisch vorgestellt. Zuvor möchte ich die wissenschaftliche Karriere des Diskursbegriffs kurz beleuchten.
Reiner Keller
3. Der Forschungsprozess
Zusammenfassung
Jedes Projekt der Diskursforschung bedarf zunächst einer Klärung seiner diskurstheoretischen Grundlagen. Dafür machen die in Kapitel 2 vorgestellten Ansätze je unterschiedliche Vorschläge. An die theoretische Verortung schließen methodologische Reflexionen über die ‚Passungen‘ von Fragestellung, Datenmaterial und Methoden an. Erst danach bzw. in Auseinandersetzung damit erfolgt die konkrete empirisch-methodische Umsetzung eines Forschungsvorhabens. Diskursforschung ist durch ein unhintergehbares Reflexivitätsverhältnis gekennzeichnet, über das sie sich im Klaren sein sollte: Sie produziert nicht Wahrheit, sondern Aussageereignisse, die selbst Teil eines (hier: sozialwissenschaftlichen) Diskurses sind. Als wissenschaftlicher Diskurs über Diskurse unterliegt sie ihrerseits sozialen Strukturierungsprozessen, d.h. spezifisch situierten Möglichkeiten und Zwängen der Aussageproduktion – etwa im Hinblick auf die Transparenz methodischer Schritte – die dann zum Gegenstand weiterer Beobachtung gemacht werden können. In der vorangehenden Erläuterung diskursanalytischer und diskurstheoretischer Programmatiken wurden bereits an mehreren Stellen Hinweise auf die Schritte und Methoden der empirischen Umsetzung gegeben. Das konkrete Vorgehen unterscheidet sich zwischen den skizzierten Ansätzen beträchtlich. Die nachfolgenden Vorschläge für die methodische Anlage und Umsetzung sozialwissenschaftlicher Diskursforschung sind im Rahmen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse, d.h. in der wissenssoziologisch eingebetteten Verknüpfung von kulturalistischen und diskurstheoretischen Perspektiven verankert. Diese Perspektive betont die Unhintergehbarkeit einer hermeneutischinterpretativen Haltung im Forschungsprozess, zielt aber durch den Anschluss an die Sozialwissenschaftliche Hermeneutik (Hitzler/Honer 1997) auf eine gewisse Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Arbeit am Text. Die nachfolgenden Vorschläge sind nicht als strenge Vorschriften, sondern als orientierende Hilfestellungen im Rahmen eines weitergehenden, offenen Projektes der Methodendiskussion gedacht. Sie können (müssen) im Forschungsprozess angepasst, weiterentwickelt und/oder ergänzt werden.
Reiner Keller
4. Die Vorgehensweise
Zusammenfassung
Der Begriff ‚Diskurs‘ bezeichnet ein Konstrukt der SozialforscherInnen. Damit wird hypothetisch unterstellt, dass spezifischen empirischen Daten, die zunächst als singuläre, in Zeit und Raum verstreute Ereignisse (Äußerungen) existieren und dokumentiert sind, ein Zusammenhang, eine Regel oder Struktur unterliegt. Eine solche Annahme muss als Suchhypothese für die Zusammenstellung eines Datenkorpus eingesetzt werden. Die konkrete Gestalt des Datenkorpus, also sein Umfang und seine Bestandteile, richtet sich nach den Untersuchungszielen. Es kann aus protokollierter mündlicher Rede, unterschiedlichsten Schriftstücken, audiovisuellen Materialien, Beobachtungsprotokollen und auch Artefakten bestehen. Unter der Perspektive ‚Diskurs‘ geht es darum, die sozialen Mechanismen und Regeln der Produktion und Strukturierung von Wissensordnungen zu untersuchen. Es ist deswegen möglich, dass sich bestimmte, zunächst bspw. nach groben thematischen Markern erhobene Daten nicht als Teile der interessierenden Diskurse rekonstruieren lassen bzw. im Fortgang des Untersuchungsprozesses aus dem Datenkorpus ausgeschlossen werden müssen. In diesem Sinne kann eine Diskursanalyse auch scheitern, wenn nicht hinreichend auf die ‚Zusammengehörigkeit‘ der zugrunde gelegten Daten geachtet wird. Welche methodischen Zugänge die konkrete Analyse verfolgt, muss im Zusammenhang der spezifischen Fragestellung, der getroffenen Datenauswahl und der anvisierten Tiefenschärfe einer Untersuchung entschieden werden. So bedarf eine historisch große Zeiträume umfassende Studie anderer Zugangsweisen als die synchron angelegte Beschäftigung mit aktuellen Diskursereignissen; das Vorgehen bei der Analyse umfangreicher Textdokumente (bspw. Sachbücher) erfordert einen anderen methodischen Ansatz als die Auswertung von Flugblättern, Printmedientexten, Diskussionsprotokollen oder Filmen. Diskursforschung bewegt sich zwischen der Gesamtschau auf historisch ausgreifende Prozesse der Wissenserzeugung und -kommunikation, der Konzentration auf konkrete Policy-Prozesse, der rekonstruktiven, an Parametern der interpretativen Sozialforschung orientierten qualitativen und mitunter auch computergestützten Analyse von Einzel-Texten oder der mehr oder weniger standardisierten inhaltsanalytischen Codierung großer Textkorpora – um nur einige Varianten zu erwähnen. Sie richtet sich in erster Linie auf die Analyse des Zusammen spiels von Aussageproduktion, formaler Gestalt und inhaltlicher Strukturierung der Aussagen mit dem situativen, institutionell-organisatorischen sowie gesellschaftshistorischen Kontext und unterschiedlichen sozialen Praktiken.
Reiner Keller
5. Die Feinanalyse der Daten
Zusammenfassung
Die Vorgehensweise bei der Datenanalyse orientiert sich an der offenen Forschungslogik der qualitativen Sozialforschung (Flick 2002). Die nachfolgend vorgeschlagenen Methoden bieten Hilfestellungen zur Strukturierung des Interpretations- und Analyseprozesses. Sie sind keine Garanten oder Vorschriften für den Forschungserfolg. Im Anschluss an das von Dreyfus/ Rabinow (1987) gewählte Etikett für Michel Foucault spreche ich ebenfalls von einer interpretativen Analytik (Keller 2005b). Diese umfasst, bezogen auf ein einzelnes Aussageereignis, die Analyse seiner Situiertheit und materialen Gestalt, die Analyse der formalen und sprachlich-rhetorischen Struktur und die interpretativ-analytische Rekonstruktion der Aussageinhalte.82 Zunächst geht es also um die Erschließung des Kontextes eines Aussageereignisses, dann um verschiedene Strategien der Feinanalyse einschließlich des Einsatzes qualitativer Textsoftware und Möglichkeiten der Quantifizierung. Die verschiedenen Optionen und Schritte der Feinanalyse werden nachfolgend erläutert. Auf die detaillierte Diskussion sprachwissenschaftlicher Methoden wird hier aus den oben genannten Gründen verzichtet.
Reiner Keller
6. Von der Feinanalyse zum Gesamtergebnis
Zusammenfassung
In der Diskursforschung haben einzelne Dateneinheiten den Status von Diskursdokumenten oder „Diskursfragmenten“ (Jäger 1999: 188ff). In einem solchen Dokument ist nicht notwendig nur ein einziger Diskurs, und dieser noch dazu vollständig repräsentiert. Diskursfragmente beinhalten kompatible Teilstücke von Diskursen. Um zu Aussagen über den oder die Diskurs(e) in einem diskursiven Feld zu gelangen, müssen die Ergebnisse der einzelnen Feinanalysen im Forschungsprozess aggregiert werden. Dabei handelt es sich um eine Konstruktionsleistung der ForscherInnen, die analog zur sozialwissenschaftlichen Typenbildung als abstrahierende Verallgemeinerung von den Besonderheiten des Einzelfalls begriffen werden kann (Kluge 1999; Kelle/Kluge 1999). Aus der methodischen Haltung der qualitativen Sozialforschung heraus kann vor einer Untersuchung nicht – auch nicht aus dem Vorwissen über unterschiedliche ‚Medienlager‘ oder Akteurskonstellationen heraus – empirisch begründet gewusst werden, wie viele unterschiedliche Diskurse in einem spezifischen Untersuchungsfeld vorfindbar sind und durch welche Deutungselemente oder Formationsregeln sie strukturiert werden.
Reiner Keller
7. Schlussbemerkung
Zusammenfassung
Die vorangehend vorgestellten und sehr verdichtet erläuterten Schritte der methodischen Vorgehensweisen einer sozialwissenschaftlichen bzw. wissenssoziologischen Diskursforschung sollten, das möchte ich noch einmal betonen, als Vorschläge und Anregungen, nicht als Rezepte und Blockierungen eigener Kreativität verstanden werden. Sie bedürfen deswegen der Anpassung an eigene Forschungsfragen und Theorieperspektiven. Die Kreativität des Forschungsprozesses ist unabdingbar für die weitere Entwicklung und die sozialwissenschaftlichen Potenziale gerade auch der Diskursforschung.
Reiner Keller
Backmatter
Metadaten
Titel
Diskursforschung
verfasst von
Reiner Keller
Copyright-Jahr
2011
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-531-92085-6
Print ISBN
978-3-531-17352-8
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-531-92085-6

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