Skip to main content

2022 | OriginalPaper | Buchkapitel

3. Plausibilisierte Veränderung: Über Umweltwahrnehmung und Realitätskonstruktion in Organisationen

verfasst von : Marcel Schütz

Erschienen in: Die Realität der Reform

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

Aktivieren Sie unsere intelligente Suche, um passende Fachinhalte oder Patente zu finden.

search-config
loading …

Zusammenfassung

Mit dem vorangehenden Kapitel haben wir in die Entscheidungsstruktur und ihre Änderung im Wege verschiedener Prämissen als „organisationsspezifische Muster“ (Hasenzagl & Müller, 2013, S. 16) des Entscheidens eingeführt – und damit eine Perspektive auf das Organisationssystem skizziert. Für eine Untersuchung organisatorischer Veränderung bleibt diese Perspektive strukturell ergänzungsbedürftig. Sie ist durch eine indirekt antizipierte Außenperspektive, den Blick auf die Umwelt des Systems, zu weiten, da die ausgeführten Entscheidungsprämissen nicht unabhängig von ihrer Umwelt Bestand haben können, sondern mittels der für eine Organisation relevanten, äußerlich adressierten Belange (Absatzwege, Investitionen, Verträge, Regulierungen etc.) gebildet und fortgeschrieben werden.

Sie haben noch keine Lizenz? Dann Informieren Sie sich jetzt über unsere Produkte:

Springer Professional "Wirtschaft+Technik"

Online-Abonnement

Mit Springer Professional "Wirtschaft+Technik" erhalten Sie Zugriff auf:

  • über 102.000 Bücher
  • über 537 Zeitschriften

aus folgenden Fachgebieten:

  • Automobil + Motoren
  • Bauwesen + Immobilien
  • Business IT + Informatik
  • Elektrotechnik + Elektronik
  • Energie + Nachhaltigkeit
  • Finance + Banking
  • Management + Führung
  • Marketing + Vertrieb
  • Maschinenbau + Werkstoffe
  • Versicherung + Risiko

Jetzt Wissensvorsprung sichern!

Springer Professional "Wirtschaft"

Online-Abonnement

Mit Springer Professional "Wirtschaft" erhalten Sie Zugriff auf:

  • über 67.000 Bücher
  • über 340 Zeitschriften

aus folgenden Fachgebieten:

  • Bauwesen + Immobilien
  • Business IT + Informatik
  • Finance + Banking
  • Management + Führung
  • Marketing + Vertrieb
  • Versicherung + Risiko




Jetzt Wissensvorsprung sichern!

Fußnoten
1
Das größere intellektuelle Fundament dieser ‚Familie‘ einschlägiger Theorieprogramme findet sich im Konstruktivismus, dem – sehr grob gerafft und unter Ausblendung eines großen Binnenpluralismus und ebenso großer analytischer Konkurrenz – Denktraditionen zugrunde liegen, wonach die direkte objektive Erschließung der Wirklichkeit der Welt einem Beobachter nicht möglich, sondern durch die soziale Ordnung und Rahmung immer schon vorbedingt ist. Auf die Differenzierung großer Teilströmungen wird hier nicht eingegangen. Mit Weick geht diese Arbeit davon aus, dass die organisatorische Wirklichkeit maßgeblich über das Kriterium der Anschlussfähigkeit sozialen Geschehens (in Organisationen) erschlossen wird. Was Organisation ist und sein kann, ergibt sich im Vollzug der Bedeutungen, die sie in/für sich entwickelt.
 
2
In diesem Buch werden die Begriffe Realität und Wirklichkeit im Hinblick auf soziale Herstellungen (Ordnungen, Praktiken, Routinen, Artefakte etc.) gleichmeinend gebraucht. Erkenntnistheoretisch und philosophisch wäre dies sehr viel umfassender zu klären und, je nach Theorie, auch mit näherer Differenzierung zu würdigen, als hier geschehen kann. Die Begriffe werden in diesem Buch je nach Kontext und sprachlicher Ein- und Anpassung alternativ gebraucht, auch um bestimmte mehrsinnige Nuancen ausdrucksvoll zu markieren; z. B. beim Begriff Realisierung als Prozess der Herstellung sozialer Annahmen bzw. Gegebenheiten. Um weiteren Fallstricken auszuweichen sei auf die Orientierung am Englischen verwiesen, in dem Reality zweifelsfrei der deutschen Wirklichkeit entspricht, was für die Zwecke dieses Buches und dessen These als „Constructing Reality“ (Kühl, 2017c, S. 54, kursiv MS) übernommen wird – wirklich!
 
3
Ich beziehe mich in der weiteren Argumentation auf realitätstheoretische Annahmen, wie sie in der Soziologie und der Psychologie speziell im Kontext der Organisationen und ihrer Praktiken und Semantiken vertreten werden. Mir ist wichtig, hervorzuheben, dass diese konstruktivistische Perspektive nicht mit dem Diskurs um Wirklichkeitsverlust, Postfaktizität bzw. alternative Fakten verwechselt werden kann (vgl. Ortmann, 2008, S. 239–241). Diese vor allem aus der politischen Kommunikation auch in die Wissenschaft eindrängende Kritik kann nicht auf Ansätze übertragen werden, die sich durchaus als verständniskritisch erweisen, wenn es um die Vorstellung uniformer Realitätserfahrung geht. Man kann sich ebenfalls auch unter der hier eingenommenen organisationskonstruktivistischen Perspektive darauf einigen, dass ein Stuhl kein Tisch ist und eine Vorstandsetage kein Elefantenhaus. Allein geht es darum, gewissermaßen die An- und Ein-Deutungen und Ver-Sinn-Haftungen organisatorischer Wirklichkeiten zu beschreiben; also kommunikative Erschließung durch Wahrnehmungen und Entscheidungen. Ortmann (2008, S. 240) spricht pointiert von der normalisierten „Fiktion tragfähiger Begründungsbrücken“, die Organisationen bilden und erhalten. Sog. Postfaktizität meint dagegen – zumeist ideologisch motiviert – Leugnung oder grundlegende Bezweiflung von Daten und Informationen, unabhängig davon, welche kontextuell-kommunikative Erschließung hiermit einhergeht.
 
4
Neben dem entscheidungsrationalen Begriff der Organisation gibt es noch einen humanistisch geprägten, der ebenfalls die klassische Organisationsvorstellung beeinflusst hat. Beide Richtungen stellen Akteurszentrierung in den Mittelpunkt, während eine systemtheoretische Rekonstruktion organisatorischer Wirklichkeit auf die sozial-dynamischen Wirkmächte organisierter Strukturen abstellt (vgl. Hasenzagl & Müller, 2013).
 
5
Freilich gibt es, wie Ortmann (2009, S. 36) hervorhebt, „Modifikationen in Richtung auf beschränkte Rationalität“, wie die rationale Entscheidungslehre ebenfalls einräumt (vgl. Dörsam, 2013, S. 7). Dennoch kann nicht unterschätzt werden, mit welchen Vorzügen die rationale Entscheidungsvorstellung einhergeht – und das nicht zuletzt für kommunikative Zwecke bzw. den Erwerb von Legitimation. Was dies mit Realität und Realisierung der Umwelt für die Organisation zu tun haben kann, illustriert anschaulich eine Einführung in die Entscheidungstheorie. Der Autor konzediert zwar, dass es neben einer „normativen Entscheidungstheorie“ eine „deskriptive“ und „empirisch-realistische“ gebe, deren Erkenntnisse – ein offensichtlicher Widerspruch? – „aber kaum empirisch überprüfbar sind“ (Dörsam, 2013, S. 7). Etwas ist hiernach also realistisch und doch zugleich nicht überprüfbar. Ohne es womöglich so wahrzunehmen, bringt der Autor damit jene Umstände zur Sprache, denen sich dieses Kapitel widmet: die Konstruktion einer plausiblen Realität im Wege eines organisatorischen Verfahrens.
 
6
Nochmals sei vergegenwärtigt, dass diese Herstellung der Umwelt im und für das Organisationssystem nicht eine solche ist, die der Umwelt wiederum einen generellen und umfassenden Sinn eingeben könnte. Anders gesagt: Es geht uns im Weiteren nicht um eine Art Sozialmagie oder Autosuggestion. Rechnungen bleiben auch dann Rechnungen, wenn man sie als solche nicht anerkennen (also sinnvoll sozial re-konstruieren) will, wie man spätestens an den rechtlichen Folgen dieser Nichtanerkennung gewahr werden könnte. Es geht stattdessen hier um eine Spezifizierung dieser Herstellung. Die Umwelt wird nicht als ganze Umwelt außerhalb der Organisation produziert, sie wird spezifisch (!) produziert – und zwar über die Gegebenheiten der Organisation.
 
7
Das Deutsche hat den Vorteil, den Begriff der Wahrnehmung gleich mit einer doppelten und – für unsere Zwecke – wiederum verknüpfbaren Bedeutung zu verstehen. Philosophische und erkenntnistheoretische Hintergründe aussparend meint organisatorische Wahrnehmung, was mit (lat.) Perzeption (engl. perception) bezeichnet ist (vgl. Wissenschaftlicher Rat der Dudenredaktion, 1997a, S. 799, Sp. a, 1997b, S. 616, Sp. b-c): fassen, erfassen, er-/begreifen. Plastisch offenbart sich diese Bedeutung im Gewahrwerden (engl. awareness), i. S. v. des Realisierens, also der Vollendung der Erfahrung von Wirklichkeit. Wenn von Wahrnehmung der Organisation gesprochen wird, kann also auch von Erschließung oder Welterschließung die Rede sein – immer im Lichte dessen, was in Organisationen, also in einem Gesellschaftstyp der Zwecke, der Hierarchie und der Mitgliedschaft, entscheidungs- und verfahrensförmig erwartet und vorausgesetzt werden kann. Mehr als diese Wahrnehmung kennt die Praxis der Organisation die ‚tragende‘ Wahrnehmung der Alltagskommunikation: die Übernahme von Zielsetzungen, Aufgaben, Rollen und allgemein also die Disposition der formalen Erwartungen über Instanzen, Stellen und Mitgliedschaften. Auch diese sekundäre Bedeutung ist hier nicht ohne Belang: Denn auch für die Möglichkeit der ‚Beobachtungswahrnehmung‘ bedarf es wiederum einer vorgängigen Wahrnehmung durch Anlaufpunkte die dafür als zuständig gelten bzw. durch die Organisation legitimiert worden sind (sonst könnte nicht nur jeder laufend alles sehen, sondern auch noch alles allzeit sagen und für wichtig erachten). Organisationen sind im Blick auf alle Wirklichkeitserfahrung, die sich in ihnen abspielt, Gebilde der Wahrnehmungswahrnehmung. Dass dies kein reines Wortspiel deutschsprachiger Theorie bleiben muss, dürfte deutlich werden, wenn man feststellt, dass nur das in der Umwelt und im Hinblick auf Bedeutung – also: Sinnbildung – in Organisationen zu sehen ist, was, über dafür organisiert/institutionalisiert vorgehaltene (Hierarchie und Berechtigung!) Perzeptionspunkte aufgenommen, in der Organisation entschieden werden kann und dort wiederum Einfluss übt auf künftige Möglichkeiten der Umweltwahrnehmung.
 
8
Eine Folge der lokalen Rationalisierung einer Organisation besteht dann in mehr oder minder ausgeprägten Zwängen zu Allianz-, Bündnis- bzw. Koalitionsverhalten. Nicht eine wie auch immer definierte ‚beste‘ lokale Rationalität findet Zuspruch, sondern ein (ggf. auch nur vorübergehender) ‚rationaler Konsens‘, mit dem eine akzeptable Fortführung des Betriebs erreicht werden kann. Dazu March (1990).
 
9
In diesem Buch stellen wir lediglich einen kurzen Abriss der Grundüberlegung aus dem Sensemaking vor. Auf diesen baut die theoretische Zuspitzung der Arbeit später mit dem Konzept (Re-)forming auf.
 
10
Der übliche Alltagsgebrauch dieser geflügelten Worte scheint von multipler Sinnstiftung geprägt, die der oben ausgeführten organisatorisch-lokalen (Binnen-)Rationalität nahekommt. So zitiert der Redewendungen-Duden (Wissenschaftlicher Rat der Dudenredaktion, 1998, S. 579, Sp. b) aus der Literatur Prodöhl (1977, S. 265; kursiv MS): „Jeder konnte sich wieder einen eigenen Reim darauf machen, wer der Mörder des Kindermädchens ist…“. – Schon mit diesem Satz kriegt man drei wesentliche Voraussetzungen für die Bestimmung der Sinnstiftung: Beobachterstandpunktabhängigkeit (Sinngeber), Nachgängigkeit der angefertigten/angetragenen Deutung (Sinnzuschreibung) und gruppen-/personbezogene Kontexte (Sinngemeinschaft oder Individuen).
 
11
Es sei zur Abgrenzung und Vollständigkeit darauf hingewiesen, dass der Begriff Forming schon aus einem anderen sozialwissenschaftlich-theoretischen Zusammenhang bekannt ist: Er beschreibt bei Tuckman (1965) die Phase des Zurechtruckelns und Zusammenraufens in Team- und Arbeitsstrukturen im Prozess der (Klein-)Gruppenbildung. Dieses Gruppen-Forming wird oft mit ‚austesten‘ und ‚sich orientieren‘ verdeutscht, womit im Wesentlichen auch Ähnliches angedeutet wird wie im hier diskutierten Organisationen-Forming. Im Englischen entspricht der in vielen sozialen Bereichen als Kompositum hochfrequentierte Begriff Forming naheliegend dem, was man im Deutschen unter ‚Formierung‘ oder ‚Formbildung‘ verstehen kann. Vgl. Deutsch-Englisch-Wörterbuch dict.cc (2021).
 
12
Aus organisationstheoretischer Sicht wird man dem Konzept der Public Relations daher auch einiges abgewinnen können. Es geht bei den öffentlichen Beziehungen einer Organisation, genauer den Umweltbeziehungen, immer um ein förderliches Kontakt- und Kontraktmanagement. Jede Organisation kann es als Teil ihrer professionellen Ordnung erachten, sämtliche Außendarstellung mit positiven Facetten oder sozusagen gut gemanagten Eindrücken herzurichten. Gerade diese teilweise Abkopplung/Entkopplung vom übrigen ‚normalen‘ Betrieb – ab diesem Punkt unterscheidet sich Organisationssoziologie dann von dem, was die Organisationspraxis zuzugeben bereit wäre – bringt der Begriff Public Relations noch prägnanter zum Ausdruck als die deutschsprachige Öffentlichkeitsarbeit. Siehe zur PR aus organisationssoziologischer Sicht Theis-Berglmair (2015).
 
13
Ich erinnere eine Episode in meiner Zeit als Personalreferent einer Konzernunternehmung mit einer Haupt- und verschiedenen Unter-Personalabteilungen. Im Zuge eines Refreshs im Employer Branding (Arbeitgebermarketing) war zu entscheiden, in welchem Abstand eine Version des Firmenlogos in den Stellenanzeigen zu setzen sei. Zwischen der Haupt- und einer der Unterabteilungen gab es darüber schließlich Kontroverse, da beide das Element leicht unterschiedlich platzierten und wechselseitig darin dann eine ungeeignete Darstellung für ihre Umwelt sahen. Schließlich wurde ein Teammeeting angesetzt, in dem man die Argumente wechselseitig austauschen konnte. Das Logo fand seinen Platz schließlich fast in der Mitte. Beide Seiten hatten jeweils um einige Millimeter nachgegeben. Das Wichtigste dieser Runde schien aber gewesen zu sein, dass jede Seite ihre Argumente einer ‚richtigen‘ Außenoptik ausführen durfte.
 
Metadaten
Titel
Plausibilisierte Veränderung: Über Umweltwahrnehmung und Realitätskonstruktion in Organisationen
verfasst von
Marcel Schütz
Copyright-Jahr
2022
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-35734-4_3

Premium Partner