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1982 | Buch

Die Methodologie der wissenschaftlichen Forschungsprogramme

verfasst von: Imre Lakatos

Verlag: Vieweg+Teubner Verlag

Buchreihe : Philosophische Schriften

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Über dieses Buch

Royal Society, betrachtet die Hexentheorie als das Musterbeispiel empirischen Denkens. Wir müssen das empirische Denken definieren, ehe wir mit Hume anfangen, Bücher zu verbren­ nen. Das wissenschaftliche Denken konfrontiert die Theorien mit den Tatsachen; und eine der Hauptbedingungen dabei ist, daß die Theorien von den Tatsachen gestützt sein müs­ sen. Wie ist das nun des genaueren möglich? Darauf sind mehrere verschiedene Antworten vorgeschlagen worden. Newton selbst glaubte, seine Gesetze aufgrundder Tatsachen bewiesen zu haben. Er war stolz darauf, keine bloßen Hypothesen anzubieten; er veröffentlichte nur Theorien, die aufgrundder Tatsa­ chen bewiesen waren. Und zwar behauptete er, seine Gesetze aus den Keplerschen 'Erschei­ nungen' abgeleitet zu haben. Doch das war Unsinn, denn nach Kepler bewegten sich die Plane­ ten in Ellipsen, nach Newton aber wäre das nur richtig, wenn die Planeten nicht gegenseitig ihre Bewegung stören würden, und eben dies tun sie. Daher mußte Newton eine Störungstheo­ rie entwickeln, nach der sich kein Planet auf einer Ellipse bewegt. Heute kann man leicht zeigen, daß sich kein Naturgesetz aus endlich vielen Tatsa­ chen schlüssig ableiten läßt; doch man liest immer noch, wissenschaftliche Theorien würden aufgrundder Tatsachen bewiesen. Woher kommt diese hartnäckige Sperre gegen die elemen­ tare Logik? Das läßt sich sehr einleuchtend erklären. Die Wissenschaftler möchten ihren Theorien Achtung verschaffen, sie sollen die Bezeichnung 'Wissenschaft' verdienen, also echte Erkenntnis sein. Nun bezog sich im 17. Jahrhundert, als die Wissenschaft entstand, die wichtigste Erkenntnis auf Gott und den Teufel, auf Himmel und Hölle.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
Einleitung: Wissenschaft und Pseudowissenschaft
Zusammenfassung
Die Achtung des Menschen vor der Erkenntnis ist eine seiner kennzeichnendsten Eigenschaften. Erkenntnis oder Wissen heißt auf Lateinisch ‚scientia‘, und im Englischen erhielt die Wissenschaft, die achtunggebietendste Art der Erkenntnis, den Namen ‚science‘. Doch wodurch unterscheidet sich Erkenntnis von Aberglauben, Ideologie oder Pseudowissenschaft? Die katholische Kirche hat Kopernikaner exkommuniziert, die kommunistische Partei Mendelianer verfolgt, weil ihre Lehren pseudowissenschaftlich seien. Die Abgrenzung zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft ist nicht bloß eine Frage der Philosophie am grünen Tisch, sondern von brennender gesellschaftlicher und politischer Bedeutung.
Imre Lakatos
1. Falsifikation und die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme
Zusammenfassung
Jahrhundertelang verstand man unter Wissen bewiesenes Wissen — bewiesen entweder durch die Kraft der Vernunft oder durch die Evidenz der Sinne. Es galt als ein Gebot der Weisheit und der intellektuellen Redlichkeit, sich unbewiesener Behauptungen zu enthalten und die Kluft zwischen bloßer Spekulation und begründetem Wissen, sogar im Denken, auf ein Mindestmaß zu beschränken. Wohl wurde die beweisende Kraft des Verstandes und der Sinne schon vor mehr als zwei Jahrtausenden von den Skeptikern in Frage gestellt, aber sie wurden durch den Triumphzug der Newtonschen Physik mit Verwirrung geschlagen. Einsteins Ergebnisse haben die Situation dann wieder auf den Kopf gestellt, und heute gibt es nur noch wenig Philosophen und Wissenschaftler, die der Ansicht wären, wissenschaftliche Erkenntnis sei oder könnte bewiesenes Wissen sein. Aber fast niemand sieht ein, daß damit auch das ganze klassische Gebäude intellektueller Werte zusammenbricht und durch etwas Neues ersetzt werden muß: Man kann das Ideal bewiesener Wahrheit nicht einfach verdünnen — etwa zum Ideal ‚wahrscheinlicher Wahrheit‘2), wie es einige logische Empiristen tun, oder zur ‚Wahrheit aufgrund [wechselnder] Übereinstimmung‘3), die wir bei einigen Wissenssoziologen finden.
Imre Lakatos
2. Die Geschichte der Wissenschaft und ihre rationalen Rekonstruktionen
Zusammenfassung
„Wissenschaftsphilosophie ohne Wissenschaftsgeschichte ist leer; Wissenschaftsgeschichte ohne Wissenschaftsphilosophie ist blind.“ Ausgehend von dieser Paraphrase von Kants berühmtem Diktum, versucht dieser Aufsatz zu erklären, wie die Historiographie der Wissenschaft von der Philosophie der Wissenschaft lernen soll und umgekehrt. Der Zweck meiner Argumente ist zu zeigen, daß a) die Wissenschaftsphilosophie normative Methodologien bereitstellt, mit deren Hilfe der Historiker die ‚interne Geschichte‘ eines Gebietes rekonstruiert und so den objektiven Erkenntnisfortschritt rational erklärt; b) daß sich zwei im Wettstreit befindliche Methodologien mit Hilfe einer (normativ interpretierten) Geschichte bewerten lassen; c) daß jede rationale Rekonstruktion der Geschichte der Ergänzung durch eine empirische (sozio-psychologische) ‚externe Geschichte‘ bedarf.
Imre Lakatos
3. Popper zum Abgrenzungs- und Induktionsproblem
Zusammenfassung
Poppers Ideen stellen die bedeutendste Entwicklung in der Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts dar: eine Leistung in der Tradition — und auf dem Niveau — eines Hume, Kant oder Whewell. Was ich ihm persönlich verdanke, geht über alle Grenzen, denn mehr als jeder andere hat er mein Leben verändert. Ich war schon beinahe vierzig, als ich in den Bann seines Geistes trat. Mit Hilfe seiner Philosophie konnte ich endgültig mit der Hegelschen Position brechen, der ich fast zwanzig Jahre angehangen hatte. 1) Aber noch viel gewichtiger ist, daß mir seine Philosophie den Zugang zu einem überaus fruchtbaren Bereich von Problemen eröffnete, in der Tat zu einem echten Forschungsprogramm. Die Arbeit an einem Forschungsprogramm ist natürlich eine kritische Aktivität, und so ist es nicht verwunderlich, daß mich meine Beschäftigung mit Popperschen Problemen häufig in Gegensatz zu Poppers eigenen Lösungen gebracht hat. 2)
Imre Lakatos
4. Warum hat das Kopernikanische Forschungsprogramm das Ptolemäische überrundet?
Zusammenfassung
Als erstes möchte ich eine Rechtfertigung dafür bringen, daß ich Sie zum 500. Geburtstag des Kopernikus mit einem philosophischen Vortrag behellige. Sie besteht darin, daß ich vor ein paar Jahren eine bestimmte Methode vorgeschlagen habe, die Wissenschaftsgeschichte als einen einigermaßen gewichtigen Schiedsrichter in wissenschaftstheoretischen Streitfragen heranzuziehen, und mir schien, als könnte gerade die Kopernikanische Revolution einen wichtigen vergleichenden Prüfstein für einige heutige wissenschaftstheoretische Auffassungen abgeben.
Imre Lakatos
5. Newtons Wirkung auf die Kriterien der Wissenschaftlichkeit
Zusammenfassung
Die erkenntnistheoretischen Schulen unterscheiden zwei völlig verschiedene Arten von Erkenntnis: episteme, d. h. bewiesenes Wissen, und doxa, d. h. bloße Meinung. Die einflußreichsten Schulen — die ‚justifikationistischen‘1) — achten die episteme ganz hoch und die doxa ganz niedrig; ja, nach ihren extremen Maßstäben verdient überhaupt nur erstere den Namen ‚Erkenntnis‘. Hören wir einen führenden Justifikationisten des 17. Jahrhunderts: ‚Denn für mich ist Wissen und Gewißheit dasselbe; was ich weiß, dessen bin ich gewiß; und dessen ich gewiß bin, das weiß ich. Was auf der Höhe des Wissens steht, das kann man in meinen Augen Gewißheit nennen, und was nicht auf der Höhe der Gewißheit steht, das kann man in meinen Augen nicht Wissen nennen.‘2) Oder lassen wir einen Justifikationisten des 20. Jahrhunderts sprechen: ‚Man kann nur etwas wissen, wenn es sich in der Tat so verhält.‘3) Nach dieser Schule ist Erkenntnis also bewiesene Erkenntnis, der Fortschritt der Erkenntnis ist die Zunahme des bewiesenen Wissens, das dann notwendigerweise kumulativ ist. Die Vorherrschaft des Justifikationismus in der Erkenntnistheorie läßt sich gar nicht besser kennzeichnen als durch die Tatsache, daß die Erkenntnistheorie im Englischen den Namen ‚epistemology‘ erhielt, also Theorie der episteme. Bloße doxa wurde keiner ernsthaften Untersuchung für wert erachtet; Fortschritt der doxa galt als eine ausgesprochen absurde Vorstellung, denn nach der orthodoxen justifikationistischen Auffassung4) galt als Kennzeichen des Fortschritts die Zunahme der vernünftigen episteme und die allmähliche Abnahme der unvernünftigen doxa.
Imre Lakatos
Backmatter
Metadaten
Titel
Die Methodologie der wissenschaftlichen Forschungsprogramme
verfasst von
Imre Lakatos
Copyright-Jahr
1982
Verlag
Vieweg+Teubner Verlag
Electronic ISBN
978-3-663-08082-4
Print ISBN
978-3-663-08083-1
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-663-08082-4