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2021 | OriginalPaper | Buchkapitel

5. Morgenthau im Lichte seines deutschen Erfahrungshintergrundes

verfasst von : Alexander Reichwein

Erschienen in: Hans J. Morgenthau und die Twenty Years‘ Crisis

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

In diesem Kapitel präsentiere ich meine kontextualisierte Wiederbeschreibung Morgenthaus im Lichte seines deutschen Erfahrungshintergrundes. Ich arbeite heraus, woher sein Denken kommt und woher seine Kritik an der US-Außenpolitik rührte. Dabei gebe ich Antworten auf die Fragen, wie sein Schweigen über seine Vergangenheit, seine Moral- und Wertebezüge oder seine ideologischen und moralisierenden Haltungen ins realistische Bild passen. Und in welchem Verhältnis sein theoretischer Anspruch und seine Politikinterventionen stehen. Und was ihn zu seiner Kritik antrieb. Es soll verdeutlicht werden, inwieweit der Rückgriff auf Morgenthaus Sozialisation und Erfahrungshintergrund dabei hilft, mit dem Puzzle umgehen und die Spannungen und Widersprüche, die in seinem Denken genuin angelegt sind und ganz offensichtlich sein Werk durchziehen, einordnen und die Rätsel wenn möglich auflösen zu können. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Synthese aus altem europäischen und neuem amerikanischen Denken und auf den Brüchen und den Kontinuitätslinien bei Morgenthau.

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Fußnoten
1
Diese Distanz Morgenthaus zu Deutschland wird auch an konkreten Vorkommnissen deutlich: Im Jahre 1979 erhielt Morgenthau vom damaligen Bundespräsidenten Walter Scheel (1919–2016) das Große Bundesverdienstkreuz in New York im westdeutschen Konsulat überreicht. Die Dankesrede Morgenthaus sei, so George Eckstein, ebenso knapp wie unfreundlich gewesen. Für den anwesenden Eckstein, einem Cousin von Morgenthaus Frau Irma (geborene Thormann, 1905-unbekannt), sprach damals jemand, der die Leiden seiner Jugend in Deutschland nie vergessen hatte (Eckstein 1981: 644).
 
2
Siehe Kindermann (1963); Kissinger (1980); Schlesinger (1982); Thompson (1984). Eine Ausnahme ist Ecksteins Nachruf (1981). Als Familienmitglied verfügte er über Wissen, das andere nicht hatten, und geht auf Details aus Morgenthaus Leben in Deutschland ein.
 
3
Nietzsche gilt als ein geistiger Wegbereiter des Nationalsozialismus (Mittelmann 2006; Taureck 2000). 1934 wurde ein Exemplar von Nietzsches Also sprach Zarathustra (Nietzsche 1886; siehe dazu Niemeyer 2007) im Grabgewölbe des Reichsehrenmals Tannenberg neben Hitlers Mein Kampf und Alfred Rosenbergs (1983–1946) antisemitischer Hetzschrift Der Mythus des 20. Jahrhunderts niedergelegt (Meine Quelle zu diesem Tannenberg-Detail ist: Wikipedia https://​de.​wikipedia.​org/​wiki/​Also_​sprach_​Zarathustra, Zugriff am 18. April 2013). Zu Nietzsche siehe auch Höffe (2004) und Spinks (2003).
 
4
Dabei handelt es sich um eine Abschrift eines Tonbandinterviews, das Johnson mit Morgenthau 1968 an der Universität in Chicago führte und in dem es um Morgenthaus Kindheit, Jugend und akademische Laufbahn geht.
 
5
Zu Morgenthaus Kindheit, Jugend und Schulzeit, zum  Studium und zu seinen persönlichen Erlebnissen in Deutschland und Europa zwischen 1904 und 1937 siehe auch Neacsu (2009: 36–66) und Rösch (2015: 21–48).
 
6
HJM-B 144. Beide Zitate stammen aus Behr/Rösch (2012: 11).
 
7
Diesen Hang, auf vergangene Zeitepochen zurückzublicken und eine Art Verfallsgeschichte zu erzählen, unterstellen Brown (2007) und Scheuerman (2007a) allen Realisten.
 
8
In einem Brief an Sinzheimer vom 27. Januar 1943 schrieb Morgenthau über “inner relations that bind me to you and always will bind me. […] After all, I was not only your employee, but I breathed the intellectual and moral air that you exhaled.” (HJM-B 197, zitiert nach Jütersonke 2010: 22).
 
9
Zu Stresemann siehe Birkelund (2003), Kolb (2003), Wright (2006). Zu Stresemanns Außenpolitik siehe Berg (1990), Büttner (2008: 350–363), Dülffer (2011), Kolb (2003), Wagner (2007). Kolb arbeitet neben den sicherheitspolitischen Erwägungen insbesondere den Aspekt der wirtschaftlichen Verflechtung zwischen Deutschland, Großbritannien und den USA heraus. Stresemann, so argumentiert Kolb, habe eine Politik der wirtschaftlichen Verflechtung und Verständigung verfolgt, um den Großmachtstatus Deutschlands auf diesem Wege wiederherzustellen. Bis heute wird unter Historiker*innen eine Debatte darüber geführt, ob Stresemann, der den U-Bootkrieg gegen England im Ersten Weltkrieg ebenso befürwortet hatte wie die Annexionspolitik und einen Machtfrieden im Falle eines Sieges Deutschlands (siehe dazu Dülffer 2011), ein Patriot, Republikaner, Revisionist oder gar Nationalist war. Manche sehen in ihm einen großen Staatsmann (Wright 2006) und einen Wegbereiter der europäischen Verständigung und Vordenker der Integration (Dülffer 2011: 27; siehe auch Conze 2005). Andere portraitieren ihn als einen knallharten nationalen Machtpolitiker, für den die Politik der internationalen Verständigung ohne Alternative für seine revisionistischen Ziele war (siehe Büttner 2008: 363, Kolb 2003: 120).
 
10
Zur Aktualität dieser Thematik und Debatte um Deutschlands Rolle in (EU)ropa siehe Hellmann (2016a, 2016b) und Reichwein (2019).
 
11
Zum Verhandlungsfrieden von Locarno siehe Breuer/Weiss (2007), Büttner (2008: 359 ff.), Cohrs (2007) und die Rezension dazu von Niedhart (2008), Johnson (2004), Kolb (2003: 103, 108–110) und Wright (2006: 332–389). Cohrs arbeitet die Vermittlerrolle Großbritanniens und Amerikas sowie die offerierten wirtschaftlichen Anreize für die beteiligten europäischen Staaten heraus und zeigt, wie die USA aus dem Vertrag von Locarno eine transatlantische Friedensordnung machen wollte, und woran dieser Plan scheiterte. Er scheiterte am Faktor Zeit (diese These vertritt auch Dülffer 2011: 26), an der zu schnell hereinbrechenden Weltwirtschaftskrise und deren Auswirkungen auf die europäischen Staaten sowie am Misstrauen der Revisionisten in Deutschland (denen die Zugeständnisse gegenüber Frankreich zu groß waren und die Gewinnaussichten einer solchen Politik nicht einleuchten wollten) und in Frankreich (die sich gegenüber den kooperativen Kräften durchsetzten und in Stresemanns Politik lediglich eine Fortsetzung alter deutscher Hegemonialpolitik in völkerrechtlichem Gewand auf Kosten Frankreichs witterten, vor der man auf der Hut sein musste; siehe dazu auch Blessing 2008).
 
12
Zum Begriff der machtpolitischen Resozialisierung, wenngleich in einem anderen historischen Zusammenhang und mit Blick auf das wiedervereinigte Deutschland nach 1990, siehe Hellmann (1996, 2004). Hellmann warnt in diesen älteren Schriften vor einer solchen Resozialisierung Deutschlands und den Folgen für die deutsche Außenpolitik und die Europäische Integration. Diese Position hat sich, so lese ich Hellmanns neueren Beiträge, verändert: Deutschland solle Spielmacher in und für Europa sein.
 
13
Siehe dazu auch Honig (1996), der erst den Völkerrechtler Morgenthau präsentiert und dann Morgenthaus in PAN präsentiertes Machtverständnis in den Zusammenhang mit der deutschen Tradition der Bismarck′schen Realpolitik des 19. Jahrhundert sowie dem revisionistischen politischen Klima in Deutschland in den 1930er Jahren stellt. Dabei spricht Honig vom “Paleorealismus” der durch Schmitt geprägten rechtskonservativen und nationalsozialistischen Außenpolitiker und ihrer Konzepte für internationale Politik, die er klar von Morgenthaus Konzepten abgrenzt. Morgenthau habe dann seine Machttheorie, die er in Deutschland noch als gescheitert angesehen habe, in Amerika unter dem Eindruck des Kalten Krieges weiterentwickelt.
 
14
Diese Fähigkeit, den Ernst der Lage zu erkennen, trifft nicht auf alle deutsch-jüdischen Emigranten zu. Pachter schätzte noch 1937 aus sicherem New Yorker Exil die Lage wie folgt ein: “You know,… this Hitler is an error of History. He does not belong in Germany history at all. And therefore he will perish.” (Pachter 1969/1970, zitiert nach Lebow 2011: 548).
 
15
Siehe auch Behr/Rösch (2012: 16/17). Erschwerend kam hinzu, dass Morgenthau durch seinen Status als Lehrender in der Schweiz nicht unter die Kategorie des akademischen Flüchtlings fiel, was ihm die Emigration nach Amerika bereits zu diesem Zeitpunkt ermöglicht hätte. Sein Antrag auf Aufnahme in diese Statusgruppe vom Oktober 1933 wurde sowohl von der Rockefeller Foundation und der Carnegie Foundation in New York als auch vom International Jewish Committee in Amsterdam abgelehnt.
 
16
Morgenthau widmete sein letztes Buch Truth and Power (1970a), einer Ausgabe seiner Aufsätze, die in den 1960er Jahren erschienen sind, Kelsen.
 
17
Morgenthau erwähnt auch Schmitt in seinem autobiographischen Fragment. Zum einen sei man als Jurastudent nicht um Schmitts Rechtslehre umhingekommen. Zum anderen schildert Morgenthau eine persönliche Begegnung: Nach seiner Dissertation habe er von Schmitt einen Glückwunschbrief und eine Einladung in Schmitts Berliner Haus erhalten. Dort habe ihn Schmitt stundenlang warten lassen und anschließend in einem gestellten Interview vor Kollegen vorführen wollen (Morgenthau 1984a: 15/16). Morgenthau notierte in seinem Tagebuch, Schmitt habe eine “cold, contrived, dishonest” Art, ihm fehle ein “geistig-seelisches Zentrum” (Morgenthau 1932, zitiert nach Behr/Rösch 2012: 7) und Schmitt sei der “most evil man alive” (zitiert aus Morgenthau 1984a: 16).
 
18
Zitiert aus Lebow (2011: 545).
 
19
Dieses Schicksal ereilte viele deutsch-jüdische Beamte und Wissenschaftler*innen. Mehr als 16 Prozent verloren bereits im Jahre der Machtergreifung 1933 als „Nicht-Arier“ ihre Anstellung an deutschen Universitäten. 1938 waren es bereits 39 Prozent der deutschen Professor*innen, die ihre Stellen aufgeben mussten, darunter 47 Prozent Sozialwissenschaftler*innen und Jurist*innen. Die 1936 von der Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland (die sich 1933 im Schweizer Exil in Zürich gegründet hatte) herausgegebene “List of Displaced German Scholars” zählt 1639 deutsche Akademiker*innen, die ihre Stelle an deutschen Universitäten verloren hatten (siehe Krohn 1993, zitiert aus Lebow 2011: 547). 1951 sollte Morgenthau auf seinen Antrag hin eine finanzielle Entschädigung durch die Bundesrepublik Deutschland in Form nachträglich gezahlter Pensionsansprüche für einen deutschen Richter an einem Arbeitsgericht erhalten, die seine gesamte offizielle Arbeitsvertragslaufzeit am Frankfurter Arbeitsgericht zwischen 1931 und 1933 abdeckte.
 
20
Siehe dazu Ash/Söllner (1996) und Ziege (2009). Alle diese Personen gelten als Vordenker der kritischen Frankfurter Schule (siehe dazu Faber/Ziege 2007; Scheuerman 1994, 2008b).
 
21
Im Januar 1941 kamen nach mehreren Anträgen Morgenthaus bei der neuen spanischen Regierung sieben Kisten mit den Habseligkeiten sowie Morgenthaus persönliche Sachen und sein schriftlicher Nachlass in Kansas City an. Hier lebte und arbeitete Morgenthau mittlerweile. Sein verdientes Geld oder der Familienschmuck hätten ihm aus seiner damaligen finanziellen Not herausgeholfen. Dieses Beispiel zeigt, wie viele persönliche Rückschläge und Ungerechtigkeiten Morgenthau bei seiner Flucht aus Europa hinnehmen musste.
 
22
Brief von Löwenstein an Morgenthau vom 28. März 1935 (HJM-B 37, zitiert aus Jütersonke 2010: 24). Zum Emergency Committee siehe Stiefel/Mecklenburg (1991).
 
23
Trotzdem etablierten sich die europäischen und deutsch-jüdischen Emigrant*innen in der neuen akademischen Welt in Amerika. Im Jahre 1950 hatten 49 Politikwissenschaftler*innen aus Deutschland eine feste Anstellung an einer amerikanischen Universität. Sie besetzten Lehrstühle in den IB, der Komparatistik, der Politischen Theorie und Methodologie. Karl W. Deutsch wurde 1969 zum Präsidenten der American Political Science Association (ISA) gewählt. Söllner zeigt in seiner Arbeit über die Wissenschaftsemigranten Deutsch, Herz, Kelsen und Morgenthau, dass 64 deutsch-jüdische promovierte und zum Teil mit einem Lehrstuhl ausgestattete Juristen, Philosophen und Sozialwissenschaftler Deutschland verlassen mussten, dass 90 Prozent aus dieser Gruppe in die USA emigrierten und dass davon die Hälfte Lehrstühle für Politikwissenschaft (meistens für IB) erhielten (1988: 165).
 
24
Zur Geschichte der Neokonservativen, deren jüdisch-europäische Wurzeln und ihrem Einfluss auf die amerikanische Außenpolitik siehe kritisch Krugmann (2008), Fukuyama (2007) und Wald (1987).
 
25
Interview Radkaus mit Fraenkel (zitiert nach Radkau 1971: 220) und Stourzh (zitiert nach Radkau 1971: 220).
 
26
Interview Radkaus mit Fischer (zitiert nach Radkau 1971: 219).
 
27
Interview Radkaus mit Kuhn (zitiert nach Radkau 1971: 220).
 
28
Siehe Morgenthau (1949a, 1950a, 1952c, 1954c). Auch in seinen späteren Arbeiten bezieht sich Morgenthau auf das nationale Interesse (1977a, 1977d). Smith (1981) liest DNI als Morgenthaus Kritik am in Amerika weit verbreiteten Utopismus, Legalismus und Neo-Isolationismus und stellt dieses Werk in den Kontext der frühen Phase des Kalten Krieges. Zu DNI siehe auch Scheuerman (2009a: 78–100).
 
29
Morgenthau führt ein Beispiel an, um den Unterschied zwischen Utopisten und Realisten zu veranschaulichen (1952a: 982): Die Befreiung der osteuropäischen Staaten aus dem Einfluss- und Herrschaftsbereich der Sowjetunion sei zwar nach allgemeinen moralischen Standards geboten und wünschenswert, aber aufgrund der möglichen kriegerischen Folgen und der möglichen Zerstörung Amerikas politisch nicht tragbar. Vor diesem moralischen Dilemma, so Morgenthau weiter, habe bereits Lincoln gestanden, als er abwägen musste, ob die moralisch wünschenswerte Befreiung der Sklaven in Amerika einen so großen Wert hatte, dass er deswegen den Erhalt der amerikanischen Föderation, der im „nationalen Interesse“ gelegen habe, gefährden und einen Krieg mit den Südstaaten riskieren dürfe (ebda.).
 
30
Zur gescheiterten ‘Appeasement’-Politik des Westens gegenüber Hitler-Deutschland siehe Neville (2013), Soutou (2013) und Studt (2013).
 
31
Klusmeyer versteht Morgenthau anders: “By combining a deep skepticism toward international standards with an invocation of an easily manipulable concept of national interest as the guiding norm, realists such as Kennan and Morgenthau unwittingly gave a license to political leaders less principled than themselves to conduct foreign policy as if only their own interests mattered” (2005: 165).
 
32
Eine verkürzte Darstellung von Abschnitt 5.2.8 mit dem Fokus auf dem Scheitern Weimars und Kelsen findet sich in meinem Beitrag über Morgenthau, Vietnam und Amerika (Reichwein 2015, hier 118–132).
 
33
Auch Knutsen nennt in seinem Beitrag über das Ende der amerikanischen Hegemonie die “moral fragmentation” in Amerika ab den späten 1960er Jahren, die er ebenfalls auf den Vietnamkrieg und Watergate zurückführt, als einen Grund für den Abstieg Amerikas (1999: 250–253).
 
34
Im Jahre 1944 hatte Morgenthau in der Zeitschrift Ethics ein Essay The Limitations of Science and the Problem of Social Planning geschrieben. Ein Motiv für Morgenthau war sicherlich, sich von sozialistisch-marxistischen Ideen in Politik und Wirtschaft abzugrenzen, wie sie seine früheren Frankfurter Kollegen Adorno und Horkheimer vertraten, und wie sie in Amerika eher eine Minderheitenposition darstellen. Morgenthau wollte nicht in Verruf geraten, ein Sympathisant marxistischer Ideen zu sein. Er ging aber trotzdem einen Schritt weiter und sympathisierte recht offen mit der Politischen Linken (New Left) in Amerika. Er schrieb beispielsweise das Vorwort zu Arnold Kaufmans The Radical Liberal: New Man in American Politics (Morgenthau 1968e).
 
35
Walkenhorst (2007) vertritt ganz im Sinne Morgenthaus die These, dass Deutschlands Entwicklung als sogenannte verspätete Nation maßgeblich für die Entstehung eines spezifisch radikalen deutschen Nationalismus in der Kaiserzeit verantwortlich sei, der als “alternative Moderne” verstanden worden sei. Nachgeholt werden sollte, was in der Zeit der Kolonialisierung, als man noch mit der Nationalstaatswerdung beschäftigt war, an machtpolitischen Errungenschaften verpasst wurde. Im Mittelpunkt habe die Idee der Nation und Großmacht gestanden. Im Diskurs hätten neue Begriffe wie “Volk” und “Rasse” etablierte Begriffe wie “Staat” und “Klasse” abgelöst. Die Weltmachtpolitik Kaiser Wilhelm II. bis zu dessen Abdankung 1918 sei im Sinne einer machtpolitischen Etablierung ebenso als richtig erachtet worden und habe gesellschaftliche Sehnsüchte geweckt, wie sich ab den 1920er Jahren völkische Großraumvorstellungen in den akademischen und politischen Diskursen etabliert und zusammen mit Ideen einer machtpolitischen Rehabilitierung eine unglaubliche Konjunktur erfahren hätten. Verstärkt durch die Niederlage im Ersten Weltkrieg, unter Bezug auf die “Dolchstoßlegende” und unter den Bedingungen des Versailler Vertrages hätten sich Revisionisten und militante Nationalisten in diesen Diskursen schließlich gegenüber konservativen und liberalen Kräften durchsetzen können (siehe dazu Kretschmann 2008). Shilliam (2007, 2009) bringt Morgenthaus “konservatives” Denken mit der gescheiterten deutschen Revolution von 1848 und der nachholenden Entwicklung Deutschlands zum Nationalstaat in Verbindung.
 
36
Siehe dazu auch Cozette (2008a: 8–21), Myers (1992: 65; 1995), Molloy (2004; 2020: 5–8), Schuett (2021: 66–93, der diesen Imperativ auf die Einflüsse Freuds auf Kelsen zurückführt).
 
37
Morgenthau lag was die von ihm genannten Gründe für das Ende der Weimarer Republik angeht richtig. In der Forschung gilt es mittlerweile als ausgemacht, dass eine Vielzahl an Faktoren zum Scheitern der Weimarer Republik beigetragen hat. Büttner (2008: 498–509) erarbeitet eine Reihe an Gründen für das Ende der Republik – und die von Morgenthau in seinen Lehren und Schlussfolgerungen genannten Punkte gehören allesamt dazu.
 
38
Einige der Vorlesungen, die Morgenthau in den 1970er Jahren an der New School über Aristoteles und die Demokratie hielt, basieren auf Kelsens “beautiful statements on democratic theory” (so Morgenthau, zitiert nach Scheuerman 2009a: 230). Damit meinte Morgenthau das Werk Vom Wesen und Wert der Demokratie. Morgenthaus Vorlesungsskripte sind abgedruckt in Lang (2004: 86 ff.), der das Denken Morgenthaus in den Kontext der aristotelischen Lehre stellt. Das Werk von Kelsen wurde nie ins Amerikanische übersetzt. Kelsen hat es in einem langen Aufsatz Foundations of Democracy zusammengefasst (Kelsen 1955; siehe dazu Scheuerman 2009a: 230/231). Zu beiden Schriften siehe Baume (2012).
 
39
Chicago Lectures “Philosophy of International Relations”, July 30, 1952, in: HJM-Box 81 (zitiert nach Rohde 2005: 50).
 
40
HJM-Box, zitiert nach Scheuerman (2009a: 230).
 
41
Kadushin (1974), zitiert nach Rafshoon (2001: 56). Zum Austausch zwischen Morgenthau, Chomsky und Walzer siehe Morgenthau (1978d).
 
Metadaten
Titel
Morgenthau im Lichte seines deutschen Erfahrungshintergrundes
verfasst von
Alexander Reichwein
Copyright-Jahr
2021
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-34518-1_5

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