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Open Access 2022 | OriginalPaper | Buchkapitel

5. Nachhaltigkeit in der Kommunikations- und Medienwissenschaft

verfasst von : Sigrid Kannengießer

Erschienen in: Digitale Medien und Nachhaltigkeit

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Das Anliegen des dieses Buch abschließenden Kapitels ist dreigeteilt: In einem ersten Teilkapitel werden die bis hierher ausgeführten Ergebnisse zusammengefasst und -gedacht. Dafür wird das Konzept der konsumkritischen Medienpraktiken entlang seiner theoretischen Dimensionen pointiert erläutert, indem die Ergebnisse der hier präsentierten Studie in aller Kürze dargestellt werden. Dabei bildet die Aufarbeitung des Forschungsstandes zur Nachhaltigkeitskommunikation und dem Bereich, der sich in einem interdisziplinären Forschungsfeld bezogen auf Medien(Kommunikation) mit der Frage nach dem „guten Leben“ beschäftigt, die Folie dieser Diskussion. Mit der Zusammenfassung der bisherigen Ausführungen wird schließlich die hier gestellte Forschungsfrage beantwortet und dem identifizierten Forschungsdesiderat begegnet. Damit ist das Anliegen dieser Publikation jedoch noch nicht erfüllt. Vielmehr wird in einem weiteren Teilkapitel argumentiert, dass Nachhaltigkeit ein Querschnittsthema der Kommunikations- und Medienwissenschaft ist und aus seiner Nische heraustreten muss. In diesem Zusammenhang wird eine Verantwortung der Kommunikations- und Medienforschung postuliert, die in digitalen Gesellschaften in Hinblick auf Nachhaltigkeit ausgemacht wird: Es gilt, mit einer kritischen Kommunikations- und Medienwissenschaft die Herausforderungen und Probleme digitaler Gesellschaften zu analysieren und zu verstehen und diese sichtbar zu machen. Auf dieser Grundlage können dann gesellschaftliche Transformationsprozesse aufbauen – nicht zuletzt solche, die auf eine nachhaltige Gesellschaft und ein „gutes Leben“ zielen.
Das Anliegen des dieses Buch abschließenden Kapitels ist dreigeteilt: In einem ersten Teilkapitel werden die bis hierher ausgeführten Ergebnisse zusammengefasst und -gedacht. Dafür wird das Konzept der konsumkritischen Medienpraktiken entlang seiner theoretischen Dimensionen pointiert erläutert, indem die Ergebnisse der hier präsentierten Studie in aller Kürze dargestellt werden. Dabei bildet die Aufarbeitung des Forschungsstandes zur Nachhaltigkeitskommunikation und dem Bereich, der sich in einem interdisziplinären Forschungsfeld bezogen auf Medien(Kommunikation) mit der Frage nach dem „guten Leben“ beschäftigt, die Folie dieser Diskussion. Mit der Zusammenfassung der bisherigen Ausführungen wird schließlich die hier gestellte Forschungsfrage beantwortet und dem identifizierten Forschungsdesiderat begegnet.
Damit ist das Anliegen dieser Publikation jedoch noch nicht erfüllt. Vielmehr wird in einem weiteren Teilkapitel argumentiert, dass Nachhaltigkeit ein Querschnittsthema der Kommunikations- und Medienwissenschaft ist und aus seiner Nische, die in Abschn. 2.​3. identifiziert wurde, heraustreten muss. In diesem Zusammenhang postuliere ich auch eine Verantwortung der Kommunikations- und Medienwissenschaft, die ich in digitalen Gesellschaften in Hinblick auf Nachhaltigkeit ausmache.1

5.1 Konsumkritische Medienpraktiken

Nachhaltigkeit erfährt derzeit eine gesellschaftliche und politische Konjunktur, denn auch wenn Nachhaltigkeit weder ein neuer Begriff ist noch ein neues gesellschaftliches Ziel, so gewinnt sie in aktuellen Entwicklungen und Phänomenen in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft zunehmend an Relevanz: Neue soziale Bewegungen wie Extinction Rebellion und Fridays for Future fordern Politiker*innen zum sofortigen Ergreifen umfassender Klimaschutzmaßnahmen auf, die institutionalisierte Politik entwickelt Maßnahmen wie die Ziele für nachhaltige Entwicklung (Vereinte Nationen 2015), das Bundesverfassungsgericht erklärt das Klimaschutzgesetzt vom 12. Dezember 2019 als teilweise mit „Grundrechten unvereinbar sind, als hinreichende Maßgaben für die weitere Emissionsreduktion ab dem Jahr 2031 fehlen“ (Bundesverfassungsgericht 2021), Unternehmen produzieren vermehrt nachhaltige Güter und auch Individuen versuchen, einen Beitrag zu einer nachhaltigeren Gesellschaft durch ihre Alltagspraktiken zu leisten.
Ist Nachhaltigkeit in Anlehnung an den Brundtland-Bericht (World Commission on Environment and Development 1987) ein Zustand, in dem die Bedürfnisse heutiger Lebewesen befriedigt werden, ohne dass die Bedürfnisse zukünftiger Lebewesen nicht befriedigt werden können, so ist nachhaltiges Handeln vor dem Hintergrund der „multiplen Krise“ (Bader et al. 2011, s. Einleitung) und v. a. der Klimakrise dringender denn je, nicht zuletzt, weil Digitalisierungs- und Datafizierungsprozesse aktuelle Gesellschaften vor neue Herausforderungen stellen – auch in Hinblick auf Nachhaltigkeit (s. Einleitung). Denn die Produktion, Aneignung und Entsorgung digitaler Medientechnologien haben derzeit verheerende sozial-ökologische Folgen, die in Abschn. 2.​2.​2. erläutert wurden: Nicht nur werden die für digitale Medientechnologien benötigten Ressourcen unter menschenunwürdigen und naturzerstörenden Bedingungen abgebaut, auch werden die Medienapparate unter gesundheitsschädlichen und lebensbedrohlichen Arbeitsbedingungen produziert. Zudem führen die zunehmende internetbasierte Kommunikation und damit zusammenhängende Datafizierungsprozesse (die sich während der Covid-19-Pandemie nochmals intensiviert haben, s. Einleitung) zu einem stark ansteigenden Energieverbrauch und Kohlenstoffdioxidemissionen durch das Betreiben riesiger Serverfarmen. Schließlich hat die Entsorgung ausrangierter Medientechnologien in überwiegend ökonomisch weniger entwickelten Ländern umweltschädliche und menschenverletzende Effekte. Diese Probleme aktueller Digitalisierungs- und Datafizierungsprozesse wurden in diesem Buch detailliert beschrieben und gezeigt, dass der Konsum (im Sinne eines Erwerbens und Verbrauchens) von Medientechnologien ein zentrales Moment dieser Prozesse darstellt, da durch die steigende Nachfrage nach digitalen Medientechnologien nicht nur die Anzahl der produzierten Geräte steigt, sondern auch die der entsorgten (s. Abschn. 2.​2.​3) – und die sozial-ökologischen Folgen der Produktion, Aneignung und Entsorgung digitaler Medientechnologien damit verschärft werden. Immer mehr Menschen sind sich dieser Herausforderungen aktueller Digitalisierungs- und Datafizierungsprozesse bewusst und entwickeln Projekte und Praktiken, um diesen Problemen zu begegnen und mit ihren Medienpraktiken zu einer nachhaltigen Gesellschaft beizutragen. Solche Initiativen werden in der Kommunikations- und Medienwissenschaft kaum untersucht. Vielmehr wurde in der Aufarbeitung des Forschungsfeldes zu Nachhaltigkeitskommunikation und dem „guten Leben“ in der Kommunikations- und Medienforschung und weiteren Sozialwissenschaft im Rahmen dieses Buches herausgearbeitet, dass ein Forschungsdesiderat in der Untersuchung von Medienpraktiken auszumachen ist, die auf Nachhaltigkeit und ein „gutes Leben“ abzielen, derer sich diese Publikation angenommen hat (s. Abschn. 2.​3).
So wurde das kommunikations- und medienwissenschaftliche Forschungsfeld der Nachhaltigkeitskommunikation in drei dominante Bereiche unterteilt (s. Abschn. 2.​1, S. 1) das Feld der Kommunikator*innenforschung, insbesondere der Journalismus- und Public-Relations-Forschung sowie das Feld der Wissenschaftskommunikation, das sich mit der Produktion von Medieninhalten und den Arbeitsbedingungen und -weisen der unterschiedlichen Akteur*innen beschäftigt, 2) der Bereich, der die Medieninhalte in den Blick nimmt, welche nachhaltigkeitsrelevante Themen repräsentieren, und 3) das Feld, das sich mit der Wirkung und der Rezeption dieser Inhalte auseinandersetzt. Zusammenfassend wurde für den Forschungsstrang der Nachhaltigkeitskommunikation, welcher sich mit der Produktion von Medieninhalten beschäftigt, festgehalten, dass die Akteur*innen, welche Medieninhalte produzieren, die (Aspekte von) Nachhaltigkeit thematisieren, sehr heterogen sind, und dass hier neben Journalist*innen auch Mitarbeitende politischer Nichtregierungs- und Regierungsorganisationen sowie Wissenschaftler*innen agieren. Mit Fridays for Future ist seit 2018 ein neuer Kommunikator in der Klimakommunikation hinzugekommen, der in vielen Ländern den medialen Diskurs zum Klimawandel und -schutz dominiert. Dieser Bewegung und anderen sowie auch Nichtregierungsorganisationen und Wissenschaftler*innen bieten v. a. Onlinemedien Möglichkeiten der Vernetzung und Artikulation (auch während der Covid-19-Pandemie, Kannengießer 2021a).
Auch für den zweiten Forschungsstrang der Nachhaltigkeitskommunikation, der sich mit den Medieninhalten beschäftigt, wurde festgehalten, dass ein Schwerpunkt hier auch auf Umwelt- sowie insbesondere Klimakommunikation liegt, wobei aufgrund der Nachrichtenwerte nachhaltigkeitsrelevante Themen insbesondere im Rahmen von Krisen- oder Katastrophenberichterstattung platziert werden, oder dass aufgrund politischer Ereignisse wie der Klimakonferenzen medial berichtet wird und die Berichterstattung daher zyklisch verläuft. Auch hier zeigt sich eine Veränderung, da der fortschreitende Klimawandel, der in heißeren Sommern und extremeren Wettersituationen auch in Deutschland zunehmend wahrnehmbar wird, und damit und auch durch die erfolgreiche Medienpräsenz von Fridays for Future, Nachhaltigkeit und Klima ein permanentes Thema in der journalistischen Medienberichterstattung geworden sind (zu Temperaturveränderungen und Klimaberichterstattung s. Pianta und Sisco 2020).
In Internetmedien finden sich heterogene Diskurse zu Nachhaltigkeitsaspekten, wobei auch Skeptiker*innen des Klimawandels hier Möglichkeiten der Meinungsäußerung abseits der traditionellen Massenmedien finden (s. Abschn. 2.​1.​2).
Der dritte Forschungsstrang, der die Medienwirkung und Rezeption dieser Medieninhalte untersucht, kommt zu ambivalenten Erkenntnissen, die zum einen eine Wirkung der Berichterstattung und hier v. a. der Klimakommunikation auf die Rezipierenden wahrnimmt, zum anderen diese nicht verzeichnen kann. Allemal verändern sich die Wahrnehmung der und die Wirkung auf die Rezipierenden nicht zuletzt wegen des voranschreitenden Klimawandels selbst. Auch in diesem Forschungsbereich zeigt sich, dass die Rezipierenden durch Internetmedien Möglichkeiten der Artikulation und Meinungsäußerung bekommen und in Onlinemedien selbst zu ProdUser*innen (Bruns 2008 und 2009) werden können (s. Abschn. 2.​1.​3).
Was aber Individuen, Nichtregierungsorganisationen und Unternehmen mit Medien(-technologien) machen, um zu einer nachhaltigen Gesellschaft beizutragen, wurde bislang nicht erforscht. Nachhaltigkeit muss heute mit der seit der Antike gestellten Frage nach einem „guten Leben“ zusammengedacht werden, ist es doch das „gute Leben“, das für alle Lebewesen in einer nachhaltigen Gesellschaft möglich wäre. Die Aufarbeitung des kommunikations- und medienwissenschaftlichen Forschungsfeldes, das sich mit dem „guten Leben“ beschäftigt, zeigte, dass das „gute Leben“ hier v. a. als Wohlbefinden der Mediennutzer*innen definiert und dessen Zusammenhang mit Medien(-kommunikation) untersucht wird (s. Abschn. 2.​2.​1). Doch ist die Frage nach dem „guten Leben“ nicht nur auf einer individualpsychologischen Ebene zu stellen, sondern auch verknüpft mit gesellschaftlichen Fragen, so z. B. auch mit Fragen der Nachhaltigkeit in aktuellen digitalen Gesellschaften, sind es doch die Effekte aktuelle Digitalisierungs- und Datafizierungsprozesse, die das „gute Leben“ vieler Menschen einschränken (s. Abschn. 2.​2.​2).
In der Aufarbeitung der beiden kommunikations- und medienwissenschaftlichen Forschungsfelder zur Nachhaltigkeitskommunikation und dem „guten Leben“ wurde also eine Forschungslücke identifiziert, die in der Auseinandersetzung mit Medienpraktiken, die zu einer nachhaltigen Gesellschaft und einem „guten Leben“ beitragen (wollen), besteht. Diese Forschungslücke wurde mit dem vorliegenden Buch geschlossen, indem die Forschungsfrage gestellt verfolgt wurde, was Individuen, Nichtregierungsorganisationen und Unternehmen mit Medien(-technologien) machen, um zu Nachhaltigkeit und einem „guten Leben“ beizutragen. Für die Beantwortung dieser Forschungsfrage wurden drei exemplarische Fallbeispiele ausgewählt, die vergleichend untersucht wurden: 1) das Reparieren von Medientechnologien in Repair Cafés, 2) die Produktion und Aneignung fairer Medientechnologien am Beispiel des Fairphones und 3) Onlineplattformen, die für Nachhaltigkeit werben, am Beispiel der Plattform Utopia.de. Während das Beispiel des Reparierens von Medientechnologien eines für die Medienaneignungsdimension ist, ist die Produktion und Aneignung des Fairphones eines für die Dimensionen der Medienproduktion und -aneignung und die Onlineplattform Utopia.de ein Beispiel für die Medieninhaltsebene.
Die Aufarbeitung der jeweiligen interdisziplinären Forschungsstände zu den unterschiedlichen Fallstudien zeigte, dass aus kommunikations- und medienwissenschaftlicher Perspektive ein fachspezifisches Forschungsdesiderat vorliegt (s. Abschn. 3.​1): V. a. das Reparieren von Medientechnologien in Repair Cafés sowie die Produktion und Aneignung fairer Medientechnologien finden in der Kommunikations- und Medienwissenschaft kaum Beachtung. Und auch die Frage, wie Menschen über Internetmedien versuchen, zu einer nachhaltigen Gesellschaft beizutragen, ist ein Nischenthema in der (v. a. politikwissenschaftlich orientierten) Kommunikations- und Medienforschung. So schließt dieses Buch nicht nur eine Lücke in den Feldern der Nachhaltigkeitskommunikation und in dem kommunikations- und medienwissenschaftlichen Bereich, der sich mit dem „guten Leben“ beschäftigt, sondern auch diese identifizierten fall- bzw. fachspezifischen Forschungslücken.
Die vergleichende Analyse der Fallbeispiele erfolgte nach dem Verfahren der Grounded Theory (s. Abschn. 3.​3.​1), indem verschiedene qualitative Methoden trianguliert wurden (s. Abschn. 3.​3.​2). Die Auswertung des Datenmaterials wurde nach dem dreistufigen Kodierprozess des Verfahrens vorgenommen (s. Abschn. 3.​3.​3), in dessen Verlauf sechs zentrale theoretische Dimensionen identifiziert wurden, mit denen die empirischen Ergebnisse durchdrungen wurden: 1) Medienpraktiken, 2) Materialität, 3) Medienethik, 4) Vergemeinschaftung, 5) politische Partizipation sowie 6) soziale Bewegung.
Die entlang dieser theoretischen Dimensionen diskutierten Ergebnisse zeigen, dass Konsum und Konsumkritik zentral sind, wenn Individuen, Nichtregierungsorganisationen und Unternehmen mit Medien(-technologien) zu einer nachhaltigen Gesellschaft und einem „guten Leben“ beitragen (wollen). So wurde auf der Basis der vergleichenden Analyse als Schlüsselkategorie das theoretische Konzept der konsumkritischen Medienpraktiken entwickelt:
„Konsumkritische Medienpraktiken sind solche, in denen a) Medien entweder genutzt werden, um (eine bestimmte Art von) Konsum zu kritisieren, oder b) Alternativen zum Konsum (im Sinne des Verbrauchens und Kaufens) von Medientechnologien entwickelt bzw. praktiziert werden.“ (Kannengießer 2018a, S. 217; s. Einleitung)
Die Fallstudien sind Beispiele für beide Aspekte konsumkritischer Medienpraktiken – zum einen für die Äußerung von Konsumkritik (hierfür das Beispiel Utopia.de), zum anderen stellen sie Alternativen zum bzw. im Konsum von Medientechnologien dar (hier die Beispiele des Reparierens von Medientechnologien in Repair Cafés und die Produktion und Aneignung des Fairphones). Die Akteur*innen der Fallstudien sehen in den konsumkritischen Medienpraktiken die Möglichkeit, zu einer nachhaltigen Gesellschaft und dem „guten Leben“ beizutragen. Kritik wird dabei zum einen im Sinne Kants (1996[1790], S. 18 ff.) als „Urteilskraft“ verstanden, da Akteur*innen Produkte und Praktiken bewerten, zum anderen im Sinne Foucaults (1992[1978]) als die Entwicklung von Alternativen – hier von Produkten und Praktiken, die nicht dem mehrheitlichen Konsum bzw. verbreiteten Konsumgütern entsprechen. Stellt Kritik „gesellschaftliche Werte, Praktiken und Institutionen und die mit diesen verbundenen Welt- und Selbstdeutungen ausgehend von der Annahme infrage, dass diese nicht so sein müssen, wie sie sind“ (Jaeggi und Wesche 2009, S. 7), so stellen die hier untersuchten konsumkritischen Medienpraktiken die derzeit mehrheitlich verfolgten Medienpraktiken von Konsumierenden und Produzierenden infrage.
Im Folgenden wird das Konzept der konsumkritischen Medienpraktiken entlang der ihm inhärenten theoretischen Dimensionen pointiert erläutert (s. ausführlicher Abschn. 4.​2). Für einen Überblick über die Ergebnisse siehe die folgende Tab. 5.1.
Tab. 5.1
Theoretische Dimensionen konsumkritischer Medienpraktiken
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Mit dem Konzept der konsumkritischen Medienpraktiken wurde für ein breites Begriffsverständnis des Terminus Medienpraktik argumentiert, mit dem nicht nur Praktiken erfasst werden können, die in Relation zu Medieninhalten stehen, sondern auch solche, die in Relation zu Medien als Technologien und Organisationen handeln (s. Abschn. 4.​1). Im Sinne Silverstones (1990) doppelter Artikulation wurde anhand der Fallstudien gezeigt, dass die Akteur*innen sich nicht nur auf Medien als Inhalte beziehen, sondern auch auf die Materialität dieser. Das Konzept des „acting on media“ (Kannengießer und Kubitschko 2017) benennt solche Medienpraktiken, die auch Medientechnologien in das Zentrum des Handelns stellen. Die hier untersuchten konsumkritischen Medienpraktiken sind Beispiele eines solchen „acting on media“, Beispiele für aktivistische Medienpraktiken, mit denen Individuen, Nichtregierungsorganisationen und Unternehmen Medientechnologien verändern und darüber gesellschaftliche Transformationsprozesse auslösen (wollen) – in diesem Fall mit dem Ziel der Nachhaltigkeit. Dabei wurde argumentiert, dass die Materialität im Sinne einer Stofflichkeit und Beschaffenheit der Medientechnologien, die sozial-ökologischen Produktions- und Entsorgungsprozesse digitaler Medientechnologien, welche sich in den Geräten materialisieren, im Fokus der konsumkritischen Medienpraktiken stehen. Es ist diese Materialität digitaler Medientechnologien, auf die sich die Ziele konsumkritischer Medienpraktiken beziehen und die sie verändern wollen.
Denn als dominante Ziele und Motive der Akteur*innen, die konsumkritische Medienpraktiken in den Fallstudien praktizieren, konnten herausgearbeitet werden (s. Abschn. 4.​2): Ressourcenschonung, Müllvermeidung, Wertschätzung, Wissensverbreitung und Lernen. So wurde gezeigt, dass die Akteur*innen in den drei Fallstudien das Ziel der Ressourcenschonung verfolgen, indem sie ihre Medientechnologien reparieren oder reparierbare Medientechnologien wie das Fairphone produzieren bzw. erwerben und die Gewinnung von für digitale Medientechnologien benötigten Ressourcen nachhaltiger gestalten. Auch werden als ressourcenschonend bewertete Produkte und Praktiken auf Onlineplattformen wie Utopia.de beworben. Neben der Ressourcenschonung ist es auch das Ziel der Müllvermeidung, das für die Akteur*innen der Fallstudien zentral ist: Sie wollen mit dem Reparieren bzw. der Produktion und dem Kauf eines reparierbaren Smartphones die Nutzungsdauer digitaler Medientechnologien verlängern, auch, um damit Müllproduktion zu vermeiden; und auch die Utopia GmbH will durch die Empfehlung von ihr als nachhaltig bewerteter Produkte und Praktiken Müll vermeiden. Im Zusammenhang mit den Zielen der Ressourcenschonung und Müllvermeidung steht auch das Motiv der Wertschätzung – so zeigte sich, dass die Akteur*innen der Fallstudien Konsumgüter im Allgemeinen und digitale Medientechnologien im Besonderen wertschätzen, um Ressourcen zu schonen und Müll zu vermeiden, aber auch, weil sie eine persönliche Beziehung zu den von ihnen benutzten Apparaten aufgebaut haben, da sie die Geräte geerbt oder lange genutzt haben.
Als ein weiteres Ziel wurde das der Wissensvermittlung und des Lernens benannt, denn in allen drei Fallstudien teilen Akteur*innen ihr Wissen um die sozial-ökologischen Folgen der Produktion und Entsorgung digitaler Medientechnologien sowie ihr Wissen über Medienpraktiken, die zu einer nachhaltigen Gesellschaft und dem „guten Leben“ beitragen können, wie der Praktik des Reparierens digitaler Medientechnologien und der Produktion fairer Medientechnologien. Auch die Utopia GmbH will Wissen über nachhaltige Produkte und Praktiken teilen und damit für diese werben – dafür werden oft Kooperationen mit Unternehmen eingegangen, die die Herstellung der Medieninhalte finanzieren und z. B. für Gewinnspiele kooperieren. Dabei wurde festgehalten, dass der Wissensaustausch in den unterschiedlichen Fallstudien über Vis-à-vis-Kommunikation in lokalen Veranstaltungen oder medial vermittelte über die eigenen Onlineplattformen oder Profile auf Onlinenetzwerken oder Mikrobloggingdiensten stattfindet (s. u.).
Neben den Zielen konnten durch eine medienethische Perspektive auf die Fallstudien folgende zentrale Werte konsumkritischer Medienpraktiken herausgearbeitet werden: Verantwortung, Gerechtigkeit, Gemeinwohl, Freiheit, Selbstbestimmung, Transparenz und Würde. So übernehmen die Akteur*innen der Fallstudien Verantwortung für ihre Medienpraktiken und versuchen über diese, Gerechtigkeit und Gemeinwohl zu schaffen. Dabei verfolgen sie die Werte der Freiheit, Selbstbestimmung, Transparenz und Würde, indem sie über die Schaffung von Transparenz u. a. über sozial-ökologische Folgen der Produktion und Entsorgung digitaler Medientechnologien selbstbestimmte, um informierte Konsumentscheidungen zu ermöglichen. Dieser Konsum soll den Menschen, die in derzeitige Produktions- und Entsorgungsprozesse digitaler Medientechnologien involviert sind, Freiheit und Würde (wieder)geben, indem diese Prozesse z. B. durch fairere Bedingungen menschenwürdiger gestaltet werden.
Es sind diese Ziele und Werte, die neben einem Zugehörigkeitsgefühl der Akteur*innen zentral für die in den Fallstudien identifizierten Vergemeinschaftungsprozesse sind (s. Abschn. 4.​4). Denn die Akteur*innen handeln nicht alleine, sondern in Vergemeinschaftungen bzw. versuchen sie, solche herzustellen. Die drei Fallstudien vergleichend wurde festhalten, dass in allen drei durchgeführten Fallstudien Vergemeinschaftungen zu identifizieren sind, die sich vis-à-vis und medienvermittelt (trans-)lokal zusammenfinden und deren Mitglieder ähnliche Ziele und Werte teilen und sich den jeweiligen Gruppen zugehörig fühlen. Dabei divergieren die Vergemeinschaftungen in ihrer räumlichen Erstreckung, den Formen der Kommunikation sowie durch diese beiden Charakteristika sicherlich auch in ihrer Qualität. Auch zeigt, sich, dass die Vergemeinschaftungen koordiniert sind, wobei diese Koordinationsfunktion durch Unternehmen (Fairphone und Utopia GmbH) oder Nichtregierungsorganisationen (Anstiftung & Ertomis) und Individuen (im Falle der ehrenamtlich Organisierenden der Repair Cafés) wahrgenommen wird. Bei den hier identifizierten Vergemeinschaftungen handelt es sich um posttraditionale (Hitzler et al. 2008), deren Mitglieder freiwillig für einen bestimmten Zeitraum beitreten. Die in den Fallstudien ausgemachten Vergemeinschaftungen sind des Weiteren „(international) communities of consumers“ (Canclini 2003, S. 43 f.), deren Mitglieder einen bestimmten Lebensstil praktizieren (wollen), der zu einer nachhaltigen Gesellschaft und einem „guten Leben“ beiträgt. Durch ihren Lebensstil, einem „Feld symbolischer Kommunikation“ (Lüdtke 2004, S. 118), drücken die Mitglieder der jeweiligen Vergemeinschaftung auch ihre Zugehörigkeit zu einer Gruppe aus. Als z. T. deterritoriale Vergemeinschaftungen (Hepp 2011, S. 106) sind diese vorgestellte Gemeinschaften (Anderson 2006 [1983]). Des Weiteren wurde gezeigt, dass sich die Akteur*innen der Fallstudien als Pionier*innen wahrnehmen und sich entsprechend des Pioniercharakters ihres Handelns (Kannengießer 2014b) Pioniergemeinschaften (Hepp 2016) bilden.
In diesen Gesellungsgebilden erfahren Individuen Resonanz – sich selbst als in-der-Welt-seiend (vgl. Rosa 2016, S. 285). Die Vergemeinschaftungen stellen für die Individuen Resonanzachsen dar, also dauerhafte Resonanzbeziehungen (ebd., S. 73), durch die die Individuen Stabilität erleben und das „gute Leben“ erfahren. Insofern versuchen die Akteur*innen der Fallstudien durch ihre Medienpraktiken nicht nur, anderen (an Produktions- und Entsorgungsprozessen digitaler Medientechnologien beteiligten Personen) zu einem „guten Leben“ zu verhelfen, sondern sie tragen durch ihre Praktiken und die hier entstehenden Vergemeinschaftungsprozesse zu ihrem eigenen „guten Leben“ bei.
Letztendlich gestalten die Akteur*innen Gesellschaft mit konsumkritischen Medienpraktiken im Sinne Arendts (2002 [1958]) „Vita activa“. Daher wurden die konsumkritischen Medienpraktiken als unkonventionelle Formen politischer Partizipation beschrieben (de Nève und Olteanu 2013, 14; s. Abschn. 4.​5), da sie nicht institutionell verfasst sind, aber dennoch eine Teilhabe an Gesellschaft darstellen. Damit sind die konsumkritischen Medienpraktiken politische Medienpraktiken, da sie Gesellschaft gestalten. Die Kritik am Konsum bzw. einer bestimmten Art von Konsum und damit auch eine Reflexion sowohl der in Abschn. 2.​2.​2. beschriebenen sozial-ökologischen Effekte der Produktion, Aneignung und Entsorgung digitaler Medientechnologien als auch der Medienpraktiken der Mehrheitsbevölkerung, ist dem politischen Handeln inhärent.
Die konsumkritischen Medienpraktiken sind subpolitisch, da sie jenseits institutionalisierter Politikfelder stattfinden (Beck 1993, S. 103) und Formen der „life politics“ (Giddens 1991, S. 215 ff.) – des politisierten alltäglichen Handelns – sind. Die von Altheide (1997) und Carpentier (2011, S. 67 ff.) getroffene Unterscheidung zwischen Partizipation in Medien und durch Medien wurde anhand der Ergebnisse der vergleichenden Studie erweitert, denn die Akteur*innen partizipieren nicht nur in Medien (im Sinne von Organisationen und Inhalten) und durch Medien an Öffentlichkeit, sondern im Sinne eines „acting on media“ (Kannengießer und Kubitschko 2017; s. o.) auch mit und über Medien, da die Akteur*innen Medientechnologien selbst in den Fokus ihres Handelns stellen und mit den konsumkritischen Medienpraktiken Medientechnologien verändern und darüber eine Transformation der Gesellschaft erwirken (wollen) (s. Abschn. 4.​5). Dabei handelt es sich bei konsumkritischen Medienpraktiken um eine „Politik mit dem Einkaufswagen“ (Baringhorst 2010b), also um Buykott- und Boykott-Aktionen (Baringhorst 2010a, S. 12), da zum einen der Konsum an sich bzw. der Konsum bestimmter als nicht nachhaltig eingestufter Produkte vermieden wird, zum anderen bestimmte als nachhaltig deklarierte Produkte gekauft werden: So ist das Reparieren von Medientechnologien in Repair Cafés eine Boykott-Aktion, da durch die Nutzungsdauerverlängerung von Konsumgütern im Allgemeinen und digitaler Medientechnologien im Besonderen der Konsum an sich vermieden werden soll; das Fairphone ist eine Buykott-Aktion, da eine bestimmte Medientechnologie, die nachhaltig sein soll, gekauft wird, und die Utopia GmbH wirbt auf der Onlineplattform für den Kauf und den Kaufverzicht bestimmter Produkte und ruft damit zu Buy- und Boykott-Aktionen auf.
Die Verbraucher*innen werden im Moment des Konsumierens zu Bürger*innen: Der nachhaltige Konsum ist die kulturelle Praxis der in den Fallstudien untersuchten Citizens, die sowohl civil Citizenship sind, die an Wirtschaft als Produzent*innen und Konsument*innen partizipieren (Marshall 1992), da Unternehmen wie die Utopia GmbH oder das Fairphone-Unternehmen Gesellschaft über ihr unternehmerisches Handeln verändern und Verbraucher*innen über ihren Konsum den Markt und Gesellschaft beeinflussen wollen, als auch cultural Citizenship (Turner 2001, S. 12; Hermes und Dahlgren 2006; s. Abschn. 3.​2.​5) sind, da sie an Kultur teilhaben und die Kultur der Konsum- und Wegwerfgesellschaft transformieren (wollen). Schließlich findet sich in allen drei Fallstudien die Form des do-it-yourself Citizenship (Ratt und Boler 2014b), wobei do-it-yourself hier auch literal verstanden werden kann als politische Partizipation im Moment des Reparierens von Medientechnologien und Selbermachens. Die Bürger*innen werden hier zu Prosument*innen (Toffler 1980), jedoch nicht nur in Hinblick auf Medieninhalte, wie es mit dem Konzept der ProdUser*innen traditionell in der Kommunikations- und Medienwissenschaft gedacht wird (Bruns 2008 und 2009), sondern auch in Hinblick auf Medientechnologien, die von Nutzer*innen im Prozess des Reparierens in Repair Cafés oder als Nutzer*innen des reparierbaren Fairphones gestaltet werden.
Gegen die These, das politische Engagement der Bürger*innen sei in den vergangenen Dekaden rückläufig (Dahlgren 2009, S. 1), zeigen die empirischen Ergebnisse, dass sich andere, unkonventionelle Formen der politischen Partizipation herausbilden. Medien sind dabei mehr als Mittel für die Artikulation, Vernetzung und Mobilisierung, sondern als Medientechnologien sind sie auch selbst Objekte der Partizipation, wie die Fallstudien zeigen.
Die hier untersuchten konsumkritischen Medienpraktiken sind nicht unorganisiert. Vielmehr wurde herausgearbeitet, dass sich die Akteur*innen in organisierten Vergemeinschaftungen zusammenfinden. Die von Bennett und Segerberg (2012, S. 756) entwickelte Typologie des „digitally networked action“ (s. Abschn. 3.​2.​5) wurde auf die hier diskutierten Fallbeispiele angewendet: Sowohl die lokalen vis-à-vis ablaufenden Aktionen in den Repair Cafés oder bei den Treffen der Fairphone-Nutzer*innen als auch die medienvermittelten translokal stattfindenden Aktionen sind kollektive Aktionen, die stärker koordiniert werden als die konnektiven.
Sind die konsumkritischen Medienpraktiken Formen unkonventioneller politischer Partizipation, welche als kollektive Aktionen ablaufen, so liegt die Vermutung nahe, dass sich durch die kollektiven Aktionen soziale Bewegungen bilden. Auch zeigt das Datenmaterial, dass Akteur*innen der Fallstudien bewusst versuchen, soziale Bewegungen herzustellen. Die von Ullrich (2015, S. 10 ff.) benannten Charakteristika sozialer Bewegungen (geteilte Ziele und ein Zugehörigkeitsgefühl der Akteur*innen, das Merkmal des Protests sowie ein Netzwerkcharakter) wurden in allen drei Fallstudien identifiziert (s. Abschn. 4.​6). So wurden sowohl eine Reparaturbewegung als auch eine Bewegung für faire Medientechnologien (der auch das Fairphone-Unternehmen und die Fairphone-Nutzer*innen angehören) wahrgenommen sowie eine für nachhaltigen Konsum (zu der auch die Utopia GmbH und die „Utopist*innen“ zählen). Die hier beobachteten Akteur*innen können als Teil einer „konsumkritischen Bewegung“ (Kannengießer und Weller 2018b, S. 16) gesehen werden, die aus einer Vielzahl verschiedener „konsumkritischer Projekte und Praktiken“ (Kannengießer und Weller 2018a) besteht, zu denen auch Urban Gardening, Schnippeldiskos, Tauschringe u. ä. gehören, mit denen unterschiedliche Akteur*innen zu einer nachhaltigen Gesellschaft und einem „guten Leben“ beitragen (wollen). Medien spielen für diese konsumkritische Bewegung v. a. eine Rolle für die Vernetzung der Mitglieder, die Mobilisierung und Artikulation. Die Fallstudien zeigen aber, dass Medientechnologien selbst Objekt der Praktiken der Aktivist*innen sozialer Bewegungen sind, die mit konsumkritischen Medienpraktiken eine gesellschaftliche Transformation erreichen wollen. Im Rahmen der Bewegungsforschung ist also festzuhalten, dass neben konventionellen politischen Bewegungen wie jüngst Fridays for Future oder Extinction Rebellion, die im öffentlichen Raum durch Demonstrationen und Blockaden und auch über Onlinemedien protestieren, auch weitere Bewegungen zu identifizieren sind, die durch ihren Konsum protestieren und Gesellschaft verändern wollen – z. B., so zeigen die Fallstudien, durch konsumkritische Medienpraktiken.
Dabei wurden auch Grenzen und Paradoxien der konsumkritischen Medienpraktiken herausgearbeitet. Im Falle des Reparierens von Medientechnologien hat z B. die Vermittlung des Wissens über Reparaturprozesse Grenzen, weil Helfer*innen oftmals für Hilfesuchende reparieren und letztere nicht zwingend selbst. Des Weiteren zeigte das Interviewmaterial, dass an den Repair Cafés Beteiligte, die mit dem Reparieren die Ziele der Ressourcenschonung und Müllvermeidung verfolgen, auch über komplexe Medienrepertoires, im Sinne einer Gesamtheit der genutzten Medientechnologien, verfügen und ihre Medientechnologien aufgrund technischer Innovationen regelmäßig ersetzen. Diese Komplexität und Erneuerung steht im Widerspruch zum übergreifenden Ziel der Nachhaltigkeit.
Auch aufseiten des Fairphone- und des Utopia-Unternehmens wurden Paradoxien identifiziert. So regt die Onlineplattform Utopia.de aufgrund ihrer Kaufberatung durchaus und v. a. zum Kauf an, auch wenn dieser nach Einschätzungen Utopias nachhaltig sein soll. Aber tatsächlich nachhaltig im Sinne einer konsequenten Müllvermeidung und Ressourcenschonung wären wohl eher Konsumverzicht bzw. Konsumreduktion. Solche Praktiken werden zwar wiederholt in Onlineartikeln der Plattform thematisiert, dominant ist aber das Bewerben nachhaltig deklarierter Produkte – nicht zuletzt sicherlich aufgrund der Finanzierung der Onlineplattform, welche durch (nachhaltige) Unternehmen gewährleistet wird (s. Abschn. 4.​1).
Und auch wenn die Reparierbarkeit des Fairphones zwar den Konsum neuer Geräte verhindern könnte, so veranlassen die Existenz des Fairphones und das Unternehmen selbst über den Erwerb des Fairphones doch wieder Konsum – nämlich den Erwerb des Fairphones. Auch sind für die erste Generation des Fairphones, die 2013 ausgeliefert wurde, seit 2017 keine Ersatzteile mehr beziehbar, sodass die Reparierbarkeit des Smartphones schon wenige Jahre nach der Auslieferung dicht mehr möglich war. Eine Paradoxie in Hinblick auf die Fairphone-Nutzer*innen lässt sich ähnlich wie bei den Reparierenden in Repair Cafés anhand der Medienrepertoires festmachen, denn einige Nutzer*innen verfügen über komplexe Medienrepertoires oder ersetzen bestehende Medientechnologien regelmäßig aufgrund technischer Innovationen. Neben den Paradoxien innerhalb der konsumkritischen Medienpraktiken müssen diese auch im Kontext weiterer Alltagspraktiken beobachtet werden. So zeigt sich bei vielen der Reparateur*innen und Fairphone-Nutzer*innen, dass trotz der konsumkritischen Motive für das Reparieren bzw. den Kauf des Fairphones einige Personen in ihrer Freizeit trotzdem z. B. Vielflieger*innen sind und hier das Ziel der Nachhaltigkeit weniger verfolgen. Menschen handeln also durchaus konsumkritisch mit Medien(-technologien), aber die konsumkritischen Medienpraktiken weisen dennoch Paradoxien auf und sind auch im Kontext weiterer Alltagspraktiken (und ihrer Relevanz für Konsumkritik) zu beobachten.
Mit Adorno (2001 [1951], S. 59) kann in Hinblick auf diese Paradoxien konsumkritischer Medienpraktiken konstatiert werden: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Die Akteur*innen, welche konsumkritische Medienpraktiken verfolgen, agieren im „digitalen Kapitalismus“ (jüngst ausführlich Fuchs 2021), in dem die ursprüngliche kapitalistische Ideologie der Akkumulation (Marx u. a. 1970[1867]) fortgesetzt wird, wenn auch modifiziert, indem nicht mehr die Ware fetischisiert wird, sondern der Akt des Konsumierens. Auch wenn in den konsumkritischen Medienpraktiken diese Ideologie der Konsumgesellschaft kritisiert wird, so zeigen die Analysen der Utopia GmbH und das Fairphone-Unternehmen doch, dass diese durch ihre Werbestrategien Konsum letztendlich wieder befördern und damit die Ideologie des digitalen Kapitalismus bedienen.
Der digitale Kapitalismus, dessen Struktur globale Telekommunikationsnetzwerke bilden (Schiller 1999), ist gekennzeichnet durch die Intersektion von Digitalisierung und kapitalistischen Strukturen (Pace 2018, S. 262) und neuen Formen der Arbeit und Ausbeutung (Fuchs 2014; Staab 2019). Die Aufarbeitung des interdisziplinären Forschungsfeldes, welches die sozial-ökologischen Folgen der Produktion, Aneignung und Entsorgung digitaler Medientechnologien thematisiert, zeigt, wie Ausbeutung (von Mensch und Natur) in aktuellen Digitalisierungsprozessen eingeschrieben ist. Es sind diese Ausbeutungsprozesse des digitalen Kapitalismus, welcher sich die Akteur*innen in den Fallstudien bewusst sind und die sie verändern wollen. Gleichzeitig wollen sie der „Entfremdung“ der Menschen von ihren Medientechnologien entgegenwirken, indem sie, wie in den verschiedenen Fallstudien deutlich wurde, nicht nur das Wissen um die sozial-ökologischen Folgen der Produktion, Aneignung und Entsorgung digitaler Medientechnologien verbreiten, sondern die Nutzer*innen digitaler Medientechnologien ermächtigen, sich, z. B. durch das Reparieren, die Technologien wieder anzueignen. Dabei stellen die Akteur*innen jedoch nicht die „großen Systemfragen“ und weder den Kapitalismus radikal infrage noch die Digitalisierung. Vielmehr lehnen die Akteur*innen Medientechnologien und deren Nutzung trotz aller Konsumkritik nicht ab, sondern verfolgen in ihren konsumkritischen Medienpraktiken eine bestimmte Art der Medienaneignung (z. B. die Nutzungsdauerverlängerung) mit der sie aktuelle Digitalisierungsprozesse und den digitalen Kapitalismus gestalten (wollen) (s. Kannengießer 2018b, S. 84).
Nichtsdestotrotz können konsumkritische Medienpraktiken als Versuche bezeichnet werden, mit Medien(-technologien) zu einer nachhaltigen Gesellschaft beizutragen – inwiefern jedoch eine kapitalistische Gesellschaft tatsächlich nachhaltig sein kann, ist weiter zu hinterfragen. Konsumkritische Medienpraktiken sind einzuordnen in den Kontext, indem Nachhaltigkeit ein zentrales gesellschaftliches und politisches Thema ist – und letztendlich auch ein kommunikations- und medienwissenschaftlich relevantes, wie in dem folgenden, dieses Buch abschließenden Teilkapitel argumentiert wird.

5.2 Nachhaltigkeit als Querschnittsthema und die Verantwortung der Kommunikations- und Medienwissenschaft in digitalen Gesellschaften

Wurden im vorausgehenden Kapitel die Ergebnisse der Studie vor dem Hintergrund der Aufarbeitung des Forschungsstands zur Nachhaltigkeitskommunikation und dem „guten Leben“ in der Kommunikations- und Medienwissenschaft pointiert zusammengefasst, so wird in diesem Teilkapitel argumentiert, dass Nachhaltigkeit ein Querschnittsthema in der Kommunikations- und Medienwissenschaft ist und diesem Fach eine besondere Verantwortung zukommt, will man die Herausforderungen aktueller digitaler Gesellschaften in Hinblick auf Nachhaltigkeit und das „gute Leben“ verstehen. Dieses Argument wird vor einer Zuspitzung der Zusammenführung des Forschungsstands zur Nachhaltigkeitskommunikation und dem „guten Leben“ in der Kommunikations- und Medienforschung sowie den Ergebnissen der hier präsentierten Studie entfaltet, die durch die Ausarbeitung der sechs theoretischen Dimensionen zeigen, dass Nachhaltigkeit ein Thema in der Kommunikations- und Medienwissenschaft ist, welches nicht nur in verschiedenen Forschungsfeldern untersucht werden muss, sondern auch unter Heranziehung unterschiedlicher theoretischer Konzepte, die wiederum durch Erkenntnisse der Nachhaltigkeitsforschung weiterentwickelt werden können.
Die kommunikations- und medienwissenschaftliche Nachhaltigkeitsforschung beschäftigt sich bislang primär mit den Kommunikator*innen der Nachhaltigkeitskommunikation (s. Abschn. 2.​1.​1), den Medieninhalten, welche nachhaltigkeitsrelevante Themen repräsentieren (s. Abschn. 2.​1.​2) sowie der Wirkung und der Rezeption dieser Inhalte (s. Abschn. 2.​1.​3). Damit zeigt sich, dass Nachhaltigkeit auf allen Medienebenen zu erforschen ist: auf der Ebene der Medieninhaltsproduktion und damit in der Kommunikator*innenforschung, auf der Ebene der Medieninhalte sowie auf der der Medienrezeption und -wirkung. Aber Nachhaltigkeit kann und muss ein Querschnittsthema in der Kommunikations- und Medienwissenschaft sein, will man zum einen verstehen, vor welchen Herausforderungen heutige digitale Gesellschaften in Hinblick auf Nachhaltigkeit stehen und zum anderen, wie verschiedene Akteur*innen mit diesen Herausforderungen und mit Nachhaltigkeit in ihren Medienpraktiken umgehen. So weisen die sechs theoretischen Dimensionen, die in der Analyse der Medienpraktiken (die auf Nachhaltigkeit und das „gute Leben“ abzielen) sichtbar wurden, dass die kommunikations- und medienwissenschaftliche Nachhaltigkeitsforschung eben auch für die Forschung zu Medienpraktiken und Materialität, aber auch der Medienethik und politischen Partizipation sowie der Bewegungsforschung relevant ist und diese nicht nur durch empirische Ergebnisse bereichern kann, sondern auch durch theoretische Weiterentwicklungen. Damit zeigt sich, dass Nachhaltigkeit und das „gute Leben“ neben der im Forschungsstand benannten Journalistik, Wissenschaftskommunikation und PR-Forschung sowie der Medienrezeptions- und Wirkungsforschung auch ein relevantes Thema auch für die Forschungsfelder der Mediensoziologie, der politischen Kommunikation sowie der transkulturellen und interkulturellen Kommunikation, der Gesundheitskommunikation und der Medienethik ist.
Es wurde argumentiert, dass das Nachhaltigkeitsthema in digitalen Gesellschaften mit der Frage nach dem „guten Leben“ zu verknüpfen (s. Einleitung). Wie gezeigt wurde, wird diese Frage in der Kommunikations- und Medienwissenschaft v. a. in Hinblick auf das Wohlbefinden der Mediennutzer*innen verfolgt (s. Abschn. 2.​2.​1). Dass das „gute Leben“ aber nicht nur auf individualpsychologischer Ebene zu untersuchen, sondern auch für größere gesellschaftliche Zusammenhänge auf der Meso- und Makroebene relevant ist, zeigen u. a. die Erläuterungen zu den sozial-ökologischen Folgen, die die Produktion, Aneignung und Distribution digitaler Medientechnologien verursachen – durch die das „gute Leben“ für viele Lebewesen v. a. in ökonomisch weniger entwickelten Ländern eingeschränkt ist (s. Abschn. 2.​2.​2). Diese sozial-ökologischen Auswirkungen zu untersuchen, sowie weiterhin das Wohlbefinden der Medien(-inhalte-)produzierenden und -rezipierenden in den Blick zu nehmen und Initiativen zu untersuchen, mit denen Individuen, Nichtregierungsorganisationen oder Unternehmen zu einer nachhaltigen Gesellschaft und einem „guten Leben“ beitragen (wollen), liegt in der Verantwortung der Kommunikations- und Medienwissenschaft, will man die Herausforderungen aktueller digitaler Gesellschaften in Hinblick auf Nachhaltigkeit und den Umgang verschiedenster Akteur*innen mit diesen verstehen.
Wie in Abschn. 3.​2.​3. erläutert ist Verantwortung eine (medien-)ethische Schlüsselkategorie (Funiok 2011, S. 63). Der Begriff Verantwortung „bezieht sich auf eine der moralischen Grundfragen des menschlichen Lebens, nämlich die Frage, ob die Folgen unseres Handelns als ethisch akzeptabel gelten können.“ (Debatin 2016, S. 68) Dieser Definition des Verantwortungsbegriffs von Debatin folgend, ist es eine der Verantwortungen der Kommunikations- und Medienwissenschaft, sich mit der Frage zu beschäftigen, ob und inwiefern die Folgen auf Medien bezogenen Handelns in digitalen Gesellschaften als ethisch akzeptabel gelten können. Die Verantwortung liegt dabei auch in der Sichtbarmachung, Thematisierung und weiteren Untersuchung der sozial-ökologischen Folgen der Produktions-, Nutzungs- und Entsorgungsbedingungen digitaler Medientechnologien. Medien werden in Hinblick auf Nachhaltigkeit also nicht nur in ihrer ersten Ordnung (Kubicek et al. 1997, S. 32), als Medieninhalte, relevant, die Nachhaltigkeit thematisieren und für diese werben, sondern auch als Medien zweiter Ordnung (ebd., S. 34), als Medientechnologien und Infrastrukturen, die eine Herausforderung für Nachhaltigkeit sind.
Zum anderen ist es eine Verantwortung der Kommunikations- und Medienwissenschaft, Praktiken und Initiativen zu untersuchen (und dieser Verantwortung folgt diese Publikation), wie verschiedene Akteur*innen mit den Herausforderungen digitaler Gesellschaften in Hinblick auf Nachhaltigkeit umgehen, will man verstehen, welche gesellschaftlichen und individuellen Lösungsansätze für diese Herausforderungen entwickelt werden. So ist das zentrale abschließende Argument dieses Buches, dass es in der Verantwortung der Kommunikations- und Medienwissenschaft, deren Untersuchungsgegenstände mit Medien und medienvermittelter Kommunikation im Kern aktueller Digitalisierungs- und Datafizierungsprozesse verortet sind, liegt, sich auch mit Medien zweiter Ordnung und ihren sozial-ökologischen Folgen zu beschäftigen und damit zentrale Herausforderungen digitaler Gesellschaften zu thematisieren sowie Lösungsansätze für diese zu untersuchen, die verschiedene Akteur*innen entwickeln.
Nachhaltigkeit und das „gute Leben“ sind dabei zentrale theoretische Konzepte, sowohl die Herausforderungen digitaler Gesellschaften als auch die Lösungsstrategien für diese in den Blick zu nehmen. Die in diesem Buch diskutierte Studie zeigt jedoch, dass weitere (kommunikations- und medienwissenschaftliche) Konzepte erkenntnisbringend sind, untersucht man den Zusammenhang von Medien(-kommunikation), Nachhaltigkeit und dem „guten Leben“. Denn wie die hier präsentierte Studie zeigt, tangiert dieser Zusammenhang u. a. Fragen nach der Materialität digitaler Medientechnologien und Medienpraktiken, Formen der politischen Partizipation und neuer (medienvermittelter) Vergemeinschaftungen und sozialer Bewegungen sowie nicht zuletzt eine medienethische Perspektive, geht es doch letztendlich um die normative Frage, wie wir in digitalen Gesellschaften mit Medien(-technologien) leben wollen und welche Folgen unsere Medienpraktiken haben. Der von Funiok (2002, S. 37) konstatierte gestiegene Ethikbedarf ist auch in Hinblick auf Nachhaltigkeit und das „gute Leben“ in digitalen Gesellschaften zu postulieren. Und es gilt, auch Initiativen und Akteur*innen in den Blick zu nehmen, die sich dieser Verantwortung stellen.
Dabei ist zu betonen, dass die Verantwortung für eine nachhaltige Gesellschaft natürlich nicht alleine bei den Individuen liegt, wie dies zunehmend im gesellschaftlichen Diskurs argumentiert wird (s. hierzu Weller 2014, S. 75). Auch die institutionalisierte Politik und Unternehmen stehen natürlich in der Verantwortung, ihr Handeln bzw. Gesellschaft nachhaltiger zu gestalten, wie dies nicht zuletzt die Fridays for Future Bewegung fordert. Die Ziele für Nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen (2015) zeigen nicht nur, wie komplex das Ziel der Nachhaltigkeit ist, sondern auch, dass alle Staaten weltweit dazu aufgefordert sind, gesellschaftliche Entwicklung nachhaltiger zu gestalten. Welche Rolle Medien und Kommunikation dabei spielen, ist noch kaum erforscht (s. für die Unterstreichung der Relevanz von Kommunikation für diese Ziele Singh et al. 2015). Aber auch die Ambivalenzen der Ziele für nachhaltige Entwicklung sind zu erforschen und hier dann eben auch die Rolle von Medien und Kommunikation. Dabei gilt es auch „Systemfragen“ zu stellen. Denn die Gestaltung digitaler Gesellschaften hin zu nachhaltigeren Gesellschaften bedarf v. a. einer Gestaltung des digitalen Kapitalismus. Im vorherigen Teilkapitel wurde argumentiert, dass die hier untersuchten konsumkritischen Medienpraktiken den digitalen Kapitalismus nicht grundsätzlich infrage stellen, gleichwohl sie ausbeuterische Digitalisierungsprozesse kritisieren und nach Alternativen suchen, um damit Digitalisierung und letztendlich digitalen Kapitalismus zu gestalten. Es ist auch eine Aufgabe der Kommunikations- und Medienwissenschaft sich diesen großen „Systemfragen“ zu stellen und zu diskutieren, inwiefern der digitale Kapitalismus (überhaupt) nachhaltig gestaltet werden kann.
Stellen wir uns den Herausforderungen digitaler Gesellschaften, so gilt es, die kommunikations- und medienwissenschaftliche Nachhaltigkeitsforschung und die zum „guten Leben“ zu erweitern. Wird Nachhaltigkeitskommunikation bisweilen auf Umwelt- und hier v. a. Klimakommunikation reduziert, so zeigt doch der in diesem Buch erläuterte Nachhaltigkeitsbegriff, dass es bei Nachhaltigkeit eben nicht nur die ökologische Dimension relevant ist, sondern vielmehr auch die soziale und ökonomische. Und auch wenn die Klimaproblematik sicherlich eine der dringendsten Fragen unserer Zeit ist, so zeigen die sozial-ökologischen Folgen der Produktion, Aneignung und Entsorgung digitaler Medientechnologien, dass im weitesten Sinne Fragen nach Gerechtigkeit sichtbar sind, betrachtet man dem Zusammenhang von Medien(-kommunikation), Nachhaltigkeit und dem „guten Leben“. Denn Medien spielen eine wichtige Rolle in dem Prozess der Etablierung einer nachhaltigen und gerechten Gesellschaft – einerseits, weil über sie (als Medien erster Ordnung) Nachhaltigkeit beworben, über Nachhaltigkeit informiert und für Nachhaltigkeit mobilisiert werden kann. Andererseits auch, weil die Produktion, Nutzung und Entsorgung digitaler Medien (als Medien zweiter Ordnung) als zentrale Konsumgüter in mediatisierten Gesellschaften derzeit enorme negative sozial-ökologische Effekte haben, die es zu vermeiden gilt.
Olausson und Bergelez (2017, S. 111 ff.) identifizieren vier Herausforderungen für die Journalismusforschung, die sich mit Klimawandel beschäftigen: 1) die diskursive Herausforderung, in der neue Diskurse über Klimawandel und ihnen inhärente Machtstrukturen betrachtet werden müssen, 2) die interdisziplinäre Herausforderung, in der die Rolle der Medien für die Produktion thematisch relevanten Wissens disziplinenübergreifend untersucht wird, 3) die internationale Herausforderung, in der die Forschung über Klimakommunikation kontextualisiert wird, eine westliche Dominanz dekonstruiert und Begriffe und Konzepte auf ihre universelle Gültigkeit überprüft werden, sowie 4) die praktische Herausforderung, in der die wissenschaftlichen Erkenntnisse über Klimakommunikation an Medienproduzierende und Journalist*innen zurückgespielt werden. Diese Herausforderungen können für die kommunikations- und medienwissenschaftliche Nachhaltigkeitsforschung im Besonderen und das Fach im Allgemeinen adaptiert und erweitert werden. So sehe ich die Kommunikations- und Medienwissenschaft in Hinblick auf Nachhaltigkeit und der Frage nach dem „guten Leben“ vor drei Aufgaben: 1) die sozial-ökologischen Folgen aktueller Digitalisierungs- und Datafizierungsprozesse zu analysieren, 2) aktuelle Diskurse und Phänomene zu untersuchen, die sich in digitalen Gesellschaften mit Fragen der Nachhaltigkeit und dem „guten Leben“ beschäftigen, 3) durch transdisziplinäre Ansätze an Lösungsmöglichkeiten mitzuwirken, den Herausforderungen digitaler Gesellschaften zu begegnen und selbst an der Etablierung einer nachhaltigen Gesellschaft mitzuwirken. Diesen Aufgaben ist international und interdisziplinär nachzukommen, sind die sozial-ökologischen Folgen der Produktion, Aneignung und Entsorgung digitaler Medientechnologien doch globalisierungsbedingte Phänomene, die nur durch eine internationale Perspektive verstanden und gelöst werden können, und verdeutlichen eben diese Probleme auch, dass ein interdisziplinäres Vorgehen relevant ist, um die Herausforderungen zu verstehen und ihnen zu begegnen.
Die drei Aufgaben zeigen, dass es einer kritischen kommunikations- und Medienwissenschaft bedarf, will man digitale Gesellschaften verstehen und diese gestalten. Einer kritischen Kommunikations- und Medienwissenschaft geht es im griechischen Wortsinn zunächst erstmal darum, gesellschaftliche Phänomene und Zusammenhänge zu beurteilen. Kritik wird in der Kommunikations- und Medienwissenschaft sowohl als Perspektive sowie als Theorie und nicht zuletzt als Gegenstand thematisiert (Gentzel et al. 2021). Dabei sind nicht nur Medien als Inhalte oder Organisationen kritisch zu betrachten, sondern im Sinne einer „critical theory of technology“ (Feenberg 1991) auch Medientechnologien, die keine neutralen Objekte sind, in denen sich vielmehr aktuelle gesellschaftliche und politische Prozesse manifestieren. Entsprechend gilt es, mit einer kritischen Kommunikations- und Medienwissenschaft die Herausforderungen und Probleme digitaler Gesellschaften zu analysieren und zu verstehen und diese sichtbar zu machen. Auf dieser Grundlage des Verstehens, Beurteilens und Zeigens können dann gesellschaftliche Transformationsprozesse aufbauen – nicht zuletzt solche, die auf eine nachhaltige Gesellschaft und ein „gutes Leben“ zielen.
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Fußnoten
1
Zur Verantwortung der Kommunikations- und Medienwissenschaft in Hinblick auf Nachhaltigkeit siehe auch Kannengießer 2020b.
 
Metadaten
Titel
Nachhaltigkeit in der Kommunikations- und Medienwissenschaft
verfasst von
Sigrid Kannengießer
Copyright-Jahr
2022
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-36167-9_5