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Open Access 2024 | OriginalPaper | Buchkapitel

2. Selbsterhaltung von Systemen durch neuen Sinn

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Zusammenfassung

Da es sich bei der Systemtheorie um eine sehr komplexe Theorie handelt, deren theoretische Leistungsfähigkeit erst durch eine ganzheitliche Betrachtungsweise abrufbar ist, ist es nicht ausreichend mit einzelnen theoretischen Schlagworten zu arbeiten, vielmehr ist eine Beschreibung der systemtheoretischen Logik in der Gesamtbetrachtung notwendig. Daher wird in diesem Kapitel eine grundlegende Einführung in die Systemtheorie nach Luhmann gegeben und beschrieben, wie soziale Systeme langfristig bestehen. Anschließend erfolgt eine Beschreibung, wie die Steuerungsformen „Markt“, „Hierarchie“ und „Netzwerke“ aus systemtheoretischer Sicht funktionieren, ferner werden deren Interdependenzen dargestellt.
Da es sich bei der Systemtheorie um eine sehr komplexe Theorie handelt, deren theoretische Leistungsfähigkeit erst durch eine ganzheitliche Betrachtungsweise abrufbar ist, ist es nicht ausreichend mit einzelnen theoretischen Schlagworten zu arbeiten, vielmehr ist eine Beschreibung der systemtheoretischen Logik in der Gesamtbetrachtung notwendig. Daher wird in diesem Kapitel eine grundlegende Einführung in die Systemtheorie nach Luhmann gegeben und beschrieben, wie soziale Systeme langfristig bestehen. Anschließend erfolgt eine Beschreibung, wie die Steuerungsformen „Markt“, „Hierarchie“ und „Netzwerke“ aus systemtheoretischer Sicht funktionieren, ferner werden deren Interdependenzen dargestellt.

2.1 Sinnverarbeitung in autopoietischen Systemen

Die folgende grundlegende Einordnung vermittelt das notwendige Verständnis für die systemtheoretische Einordnung von Nachhaltigkeitsratings in einen gesellschaftlichen Kontext. Da die Systemtheorie aus Platzgründen nicht eins zu eins wiedergegeben werden kann, muss eine gewisse Komplexitätsreduktion vorgenommen werden. Diese wird im Wesentlichen auf die Aspekte reduziert, die von Bedeutung sind, um Nachhaltigkeitsratings einzuordnen. Gleichzeitig wird auch immer der Bezug auf das Gesamtverständnis der systemtheoretischen Logik hergestellt, da sie sonst an Erklärungsgehalt verlieren würde. Zuerst wird eine Übersicht über die Arten von Systemen dargestellt. Dann wird erläutert, wie autopoietische Systeme, die den Untersuchungsgegenstand der Systemtheorie bilden, operieren. Anschließend wird erläutert, wie autopoietische Systeme entstehen, und zuletzt beschrieben, wie Sinn durch die Reduktion von Kontingenz entsteht.

2.1.1 Funktionsweise von autopoietischen Systemen

Im folgenden Abschnitt werden die unterschiedlichen Arten von Systemen dargestellt und beschrieben, warum soziale Systeme als Sinnsysteme bezeichnet werden. Zudem wird die Funktionsweise von autopoietischen Systemen erläutert.
Die große Herausforderung, die Luhmann gesehen hat, war die Frage, wie Komplexität reduziert werden kann. Die wesentliche Antwort lag in der Bildung von Systemen (Krause 2005, S. 7)
Nach einer allgemeinen Unterscheidung können triviale Systeme von nichttrivialen Systemen unterschieden werden. Basis der Systemtheorie war die Kybernetik (Wiener 2007; Ashby 1956), die die Reglung und Steuerung von trivialen Systemen technisch betrachtete. Kern der Kybernetik ist der Steuerungsregelkreis, der einen Zielwert mit einem Istwert vergleicht. Stimmen diese nicht überein, wird eine Steuerungsgröße verändert und wieder der Zielwert mit dem Istwert abgeglichen. Dieser Prozess wiederholt sich, bis der Istwert dem Zielwert entspricht. Dieses Prinzip gilt jedoch speziell für geschlossene Systeme. Triviale Systeme werden auch als allopoietsche Systeme bezeichnet, da sie externe Informationen durch ein festgelegtes internes Programm verarbeiten und einen Input aus der Umwelt in einem Output in die Umwelt umsetzen (Krause 2005, S. 26).
Dazu gehören auch offene Systeme, die insbesondere in der Organisationsforschung durch ein Input/-Output-Schema gekennzeichnet sind. Demnach sollen Systeme durch Planung, Management und Kontrolle verändert werden können, indem die Strukturen angepasst werden, aus denen die Systeme bestehen (Luhmann 1984, S. 24). Dies kommt dem heutigen Organisationsverständnis eines Managementzyklus aus Plan-Do-Check-Act (Shewhart 1986) sehr nahe.
Neben den trivialen Systemen gibt es nichttriviale Systeme, die auch als autopoietische Systeme bezeichnet werden und den Untersuchungsgegenstand der Systemtheorie bilden. Die allgemeine Systemtheorie geht auf Bertalanffy (1968) zurück, der sich von der Kybernetik abgrenzt, da er sie als zu mechanistisch ansieht, um sie auf eine Beschreibung des Lebens zu übertragen. Er führt daher eine wichtige Veränderung in der Perspektive ein, insofern Systeme nicht durch Einheit definiert, sondern durch Differenz erklärt werden. Das entscheidende Merkmal von nichttrivialen Systemen besteht in der Autopoiesis (Maturana und Varela 1980). „Als autopoietisch wollen wir Systeme bezeichnen, die die Elemente, aus denen sie bestehen, durch die Elemente, aus denen sie bestehen, selbst produzieren und reproduzieren.“ (Luhmann 2004, S. 56)
Autopoietische Systeme entwickeln sich durch Selbstorganisation (Kauffman 1993) und können sich dadurch ohne externe Eingriffe verändern. Weitere wichtige Vertreter der Systemtheorie, die sich mit autopoietischen Systemen beschäftigt haben und auf die sich Niklas Luhmann in seiner soziologischen Systemtheorie stützt, sind die Begründer des Strukturfunktionalismus Radcliffe-Brown (1965) und Parsons (1951), der den Strukturfunktionalismus zum Systemfunktionalismus weiterentwickelte.
Neben der Unterscheidung von allopoietischen und autopoietischen Systemen ist es möglich, die autopoietischen Systeme selbst wiederum in lebende Systeme und Sinnsysteme zu unterscheiden. Während lebende Systeme sich auf Leben beziehen, beispielsweise auf biologische Zellen, nehmen Sinnsysteme auf Sinn Bezug, der in der Soziologie betrachtet wird. Hinsichtlich der Sinnsysteme unterscheidet Luhmann noch mal psychische Systeme und soziale Systeme (Krause 2005, S. 25).
In psychischen Systemen vollzieht sich die Autopoiesis durch das Bewusstsein. Die Selbsterzeugung des Systems besteht darin, dass Gedanken durch Gedanken erzeugt werden. Die Operationsbasis dessen ist das Bewusstsein. Man ist sich bewusst, dass man einen Gedanken hat. Voraussetzung ist also, dass man diesen Gedanken besitzt, der einem das bewusst macht. Ein Gedanke ermöglicht somit erst einen Gedanken. Das psychische System erzeugt sich somit selbst, indem es durch Gedanken Gedanken erzeugt (Krause 2005, S. 33).
Neben den psychischen Systemen zählen soziale Systeme zu den Sinnsystemen. In Anlehnung an Parsons (1971) ist für Luhmann (1982) die heutige Struktur einer Gesellschaft funktional differenziert.
In der Gesellschaft gibt es nach Luhmann ausdifferenzierte Teilsysteme, die bestimmte Funktionen der Gesellschaft übernehmen. Diese ausdifferenzierten Funktionssysteme sind beispielsweise Religion, Recht, Erziehung, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst und Massenmedien. Die Systeme arbeiten eigenständig und unterscheiden sich in der Art, wie sie kommunizieren (Krause 2005, S. 34 f.).
Das bedingt einen wesentlichen Unterschied zu den bekannten Vorstellungen, wie Systeme miteinander interagieren. „Theorien der Hierarchie oder der Delegation oder der Dezentralisierung, die immer noch von einer Spitze oder einem Zentrum ausgehen“ (Luhmann 1986, S. 203), stellen nicht die heutigen Zustände dar. Auch „Netzwerke von Kommunikationsbahnen, von Steuerungszentren und Impulsempfängern“ (Luhmann 1986, S. 203) stellen die Interdependenzen und Strukturen der Gesellschaften nicht richtig dar.
Auf diesen Systemen legt Luhmann den Fokus. Aber er beschäftigt sich auch darüber hinaus mit Interaktionssystemen und Organisationssystemen als sozialen Systemen. Interaktionssysteme entstehen mit der Beteiligung von psychischen Systemen, die über Körper oder Sprache miteinander kommunizieren. Das kann ein zufälliges Zusammentreffen auf der Straße sein, eine Debatte in einem Seminar an der Universität, eine Arbeitsgruppe mit Vertreten aus der Wirtschaft und der Politik oder ein informelles Treffen zwischen Arbeitskollegen. Die Organisationssysteme unterscheiden sich davon insofern, als die Beteiligung exklusiv und nur durch eine Mitgliedschaft möglich ist. Das wesentliche Merkmal der Kommunikation sind Entscheidungen. Ähnlich den Gedanken in psychischen Systemen ermöglichen Entscheidungen erst Entscheidungen (Krause 2005, S. 58).
Die Systemtheorie ist eine schwer verständliche Theorie, da sie mit einer selbstreferenziellen Beschreibung arbeitet. Damit hat selbst Luhmann (1984, S. 14) Probleme, da er zugibt, dass viele Sachen vorausgesetzt werden müssen, die erst später erklärt werden können. Zwar legt er mit dem Beginn seiner Beschreibung einen Anfang fest, allerdings betont er, dass die Theorie auch von einer beliebigen anderen Stelle aus begonnen werden könnte. Sein Werk könne daher auch von hinten gelesen werden.
Für einen einfacheren Einstieg in die Funktionsweise autopoietischer Systeme wird die Systemtheorie in drei Schritten – von einem einfachen Beispiel zu einem komplexeren Verständnis – ganzheitlich erläutert. Dadurch soll aus einem Beispiel mit einem einfachen, aber dennoch ganzheitlichen Verständnis ein komplexeres und abstrakteres Verständnis der Zusammenhänge der Systemtheorie aufgebaut werden. Die einfache Beschreibung impliziert eine grobe Übersicht, die ein Verständnis für das Thema aufbaut und den Leser auf den Inhalt vorbereitet. Anhand einer konkreten Betrachtung von Kommunikation wird dann die Grundlage dafür geschaffen, die sehr abstrakten Überlegungen von Luhmann verständlicher zu machen.
Einfache Beschreibung
In einer einfachen Beschreibung gilt es zunächst, Autopoiesis zu explizieren (Krause 2005, S. 31), der den wesentlichen Prozess dafür darstellt, dass Systeme entstehen bzw. bestehen können. Denn durch die Autopoiesis können sich Systeme von der Umwelt differenzieren. Differenz ist eine notwendige Bedingung für die Identität eines Systems. Die Abgrenzung zur Umwelt wird durch eine operative Geschlossenheit erreicht. Das heißt, wie bereits weiter oben angemerkt: Ein System erzeugt die Elemente, aus denen es besteht, durch die Elemente selbst. Im Fall des psychischen Systems ermöglichen Gedanken erst Gedanken, oder in Organisationen ermöglichen Entscheidungen erst Entscheidungen.
Da diese Operationen nur innerhalb des Systems stattfinden, findet eine Abgrenzung zur Umwelt statt, wodurch das System eine eigene Identität erhält.
Dabei ergeben sich zwei wesentliche Schwierigkeiten. Das eine Problem besteht darin, dass die Elemente des Systems nur für eine bestimmte Dauer bestehen. So existieren Gedanken nur für einen vorübergehenden Moment und hören dann auf. Damit das autopoietische System dennoch bestehen bleibt, muss ein weiteres Element anknüpfen, beispielsweise ein weiterer Gedanke. Das System kann vor einem Dauerzerfall nur geschützt werden (Krause 2005, S. 134), indem ein weiterer Anschluss gefunden wird und neue Elemente bereitgestellt werden.
Ein weiteres Problem entsteht, wenn das System keinen Ansatz findet, neue Elemente aufzubauen. Ohne äußere Einflüsse bezieht sich das System auf sich selbst. Ein Gedanke braucht für einen weiteren Gedanken einen weiteren Input, sonst würde der Gedanke bei dem alten Gedanken bleiben und in einem Gedankenkreis enden. Da dieser aber nur temporär existiert, würde die Autopoiesis aufhören und somit auch das Bewusstsein. Das System braucht daher, um die operative Geschlossenheit zu realisieren, die Möglichkeit, äußere Reize wahrzunehmen. Das System kann daher nur geschlossen operieren, wenn es Irritationen in der Umwelt wahrnehmen kann. Erst dann gibt es eine Grundlage für die Auswahl, wie die Operation fortgeführt werden kann. Für die Funktionsweise der operationellen Geschlossenheit ist somit kognitive oder informationelle Offenheit notwendig (Krause 2005, S. 30).
„Dabei ist das Verhältnis von Geschlossenheit und Offenheit als Steigerungszusammenhang angelegt.“ (Krause 2005, S. 30) Eine höhere Geschlossenheit von Systemen muss mit mehr Offenheit ausgeglichen werden und umgekehrt.
Beispiel
Nach dieser einfachen Beschreibung der Funktionsweise von autopoietischen Systemen wird im folgenden Abschnitt das Grundproblem von komplexen Systemen anhand der doppelten Kontingenz sehr konkret beschrieben.
„Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist, was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist.“ (Luhmann 1984, S. 153)
Luhmann (1984, S. 46) beschreibt dieses Problem konkret am Beispiel zweier komplexer Systeme, die sich gegenüberstehen. Das eine System stellt die Umwelt des anderen Systems dar. Dabei besteht das Problem, dass die Umwelt komplexer ist als das System. Das System kann somit die Umwelt nie vollständig in seiner Komplexität erfassen. Das, was für das eine System vom anderen System erfassbar ist, entspricht nicht der eigentlichen Komplexität des Systems. Während die innere Komplexität verborgen bleibt, ist das eine System für das andere System nur durch seine Hülle sichtbar und wirkt daher eher wie eine BlackBox (Luhmann 1984, S. 156).
Das Problem der doppelten Kontingenz stellt für das System eine große Unsicherheit dar, da es nicht weiß, welche Möglichkeit gewählt werden kann, damit die Autopoiesis fortgeführt werden kann. Dabei muss eine Option gewählt werden, da dem fortlaufenden Zerfall der Grundstruktur entgegengewirkt werden muss. Nur so kann der Anschluss gewährleistet werden (Luhmann 1984, S. 167).
Wird den Systemen die Fähigkeit zugesprochen, miteinander zu kommunizieren, ändert das vorerst nichts an dieser Situation. „Kommunikation ist definiert, als Einheit der dreifach-selektiven Differenz von Information, Mitteilung und Verstehen.“ (Krause 2005, S. 37)
Zur Kommunikation sind Informationen notwendig, die mitgeteilt werden und die dann auch noch verstanden werden müssen. Diese drei Schritte unterscheiden sich voneinander. Es besteht Differenzen zwischen ihnen. Es kann sich das Mitgeteilte von dem Verstandenen unterscheiden (Krause 2005, S. 38). Das System kann sich daher nie sicher sein, dass das Gesagte nicht doch anders gemeint war.
Damit die alternativen Möglichkeiten ausgeschlossen werden können, muss überprüft werden, ob das, was vermutet wird, tatsächlich so ist. Dies entspricht im Grunde dem Trial-and-Error-Verfahren. Systeme versuchen, sich zu verstehen, indem sie sich gegenseitig beeinflussen und beobachten, wie sich das Verhalten des anderen Systems dadurch verändert. Diese Erkenntnis fließt dann wieder in die Erwartung an das Verhalten eines Systems, das auf Basis dieser Erwartung erneut beeinflusst und beobachtet wird (Luhmann 1984, S. 157).
Jede Handlung des einen Systems führt somit zu einer Reduktion der Möglichkeiten, die dem anderen System zur Verfügung stehen. Jede Handlung bewirkt somit, dass sich die Systeme besser verstehen, und trägt somit zur Enttautologisierung der doppelten Kontingenz bei (Luhmann 1984, S. 167).
Die doppelte Kontingenz löst sich auf, indem bereits gesammelte Erfahrungen die Möglichkeiten einschränken. In einer unbestimmten Situation können vorhandene Erfahrungen zu Erwartungen führen, wie die Situation einzuschätzen ist. Entscheidend ist dabei nicht, dass es sich tatsächlich so verhält, wie erwartet. Selbst bei einer falschen Erwartung werden zusätzliche Erfahrungen gesammelt, die die doppelte Kontingenz weiter reduzieren (Luhmann 1984, S. 158).
Gibt es noch keine Erfahrungen, liegt eine rein doppelt kontingente Situation vor. Dies kann nur durch ein zufälliges Ereignis aufgelöst werden. Jede zufällig bewusst oder unbewusst gewählte Aktivität, die sich auch aus Fehlinterpretationen ergeben kann, dient dem Aufbau von Erfahrungen. Durch die Reaktion des anderen Systems kann dann gelernt und das eigene Verhalten angepasst werden (Luhmann 1984, S. 150).
„Reine doppelte Kontingenz, als eine sozial vollständig unbestimmte Situation, kommt in unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit zwar nie vor“ (Luhmann 1984, S. 168), allerdings scheint es auch unrealistisch, eine vollständig bestimmte Situation in einem sozialen Kontext wiederzufinden, sodass Erfahrungen immer nur begrenzt weiterhelfen können.
Es kann nie sicher gesagt werden, ob die Erfahrung tatsächlich die Richtige für eine vermeintlich bereits erlebte Situation ist (Luhmann 1984, S. 159). Es muss immer damit gerechnet werden, dass das andere System den Erfahrungen nach doch anders handelt. „Handlung ist auf Systeme zugerechnete Selektion.“ (Luhmann 1984, S. 160) Es stellt sich die Frage, ob das System aus den Möglichkeiten das wählt, was aufgrund der bisherigen Erfahrungen erwartet wird.
Das System muss sich daher die Frage stellen, inwieweit seine Handlungen von dem anderen System erlebt werden. Es muss daher nachvollziehen können, wie das andere System seine Umwelt erlebt.
Das eine System versucht, die Handlungen des anderen Systems aus ihrer Umwelt heraus zu verstehen. Erst durch die Handlung wird jedoch klar, dass das, was das System aus den bisherigen Erfahrungen gesammelt hat, also das, was das System bisher erlebt hat, den Erwartungen entspricht, wie sich das andere System wahrscheinlich verhält (Luhmann 1984, S. 161).
Im Grunde versuchen sie, sich in das andere System hineinzuversetzen, wie es die Welt erlebt, um daraus nachzuvollziehen, warum es so handelt, wie es handelt. Ohne Erfahrungen und ohne Einbezug der Umwelt wäre es daher nicht denkbar, wie die doppelte Kontingenz aufgelöst werden kann. Das System muss sich daher sowohl auf die internen Strukturen rückbesinnen (Krause 2005, S. 230), in denen die Erfahrungen gesammelt werden, als auch der Umwelt öffnen, um das andere System in seiner Umwelt interpretieren zu können (Krause 2005, S. 32,183).
Da sich die Systeme aber aufgrund ihrer Komplexität nie vollständig gegenseitig durchschauen können, besteht meist weiterhin eine Differenz zwischen dem Erleben (bzw. dem Glauben, es bereits erlebt zu haben) und der Handlung (des anderen Systems). Aber genau diese Differenz ist notwendig, da dadurch weitere Handlungen ausgelöst werden. Dies schafft weitere Erfahrungen und kann so die vielen Möglichkeiten der doppelten Kontingenz reduzieren. Dadurch ist letztendlich die Fortsetzung der Autopoiesis gewährleistet.
Dieser durch doppelte Kontingenz entstandene Selektionsprozess führt dazu, dass das, was das System erwartet, vom System als systemintern wahrgenommen wird. Dies ist allerdings nur durch einen externen Verweis auf die Umwelt möglich. Umwelt ist in diesem Fall alles das, was nicht direkt aus der Situation der doppelten Kontingenz erkennbar ist, was aber für den Selektionsprozess relevant werden kann. In einer Situation doppelter Kontingenz mit zu vielen Wahlmöglichkeiten basiert daher der Selektionsprozess immer auch auf einer Differenz zwischen System und Umwelt (Luhmann 1984, S. 190).
Dabei wird allerdings nicht geklärt, wieso eine Differenz zwischen den Systemen vorliegt. Warum erleben sie eine gleiche Situation anders, sodass sich die Handlung in Bezug auf das Erlebte unterscheidet? Es stellt sich die Frage, warum die Systeme so handeln, wie sie handeln. Es müsste der Sinn der Handlung hinterfragt werden.
Abstraktere Beschreibung
Im Folgenden wird daher die Funktionsweise von autopoietischen Systemen mithilfe der Beschreibung von Emergenz auf einer abstrakteren Ebene dargestellt.
Die emergente Eigenschaft von autopoietischen Systemen wird vereinfacht dadurch ersichtlich, dass das System mehr ist als die Summe seiner Teile (Willke 1993, S. 139).
Systeme bestehen aus Elementen, die durch die Elemente selbst entstehen. Bei sozialen Systemen nennt Luhmann die Elemente „Kommunikation“. Dies ist ein sinnhaftes soziales Ereignis von begrenzter Zeitdauer (Krause 2005, S. 27). Ein soziales System kann nur weiter bestehen, wenn die zeitliche Begrenzung der Kommunikation durch weitere Kommunikation erneuert wird. Kommunikation muss durch weitere Kommunikation ergänzt werden, da sonst das System zu existieren aufhören würde. Da das Element von sozialen Systemen in der Form von Kommunikation nur ein vorübergehendes Ereignis ist, besteht das System somit aus sich ständig ändernden Elementen und ist somit ein temporäres System (Krause 2005, S. 40).
Da das System ständig weitere Kommunikation benötigt, um bestehen zu können, ist es umgekehrt auch ein System, das ständig durch die begrenzte Zeitdauer der Elemente gefährdet ist. Denn das führt zu einem Dauerzerfall des Systems, der nur dadurch aufgehalten werden kann, dass der Anschluss an eine weitere Kommunikation gefunden wird (Krause 2005, S. 32).
Wenn die Kommunikation nicht aufhört, führt die Selbstreferenz der Kommunikation ohne weiteren Input zu Paradoxien. Denn die Selbstreferenz der Kommunikation auf die gleiche Kommunikation führt zu einer Tautologie (Luhmann 1984, S. 59). Über was soll kommuniziert werden, wenn es keinen Sinn mehr gibt? Die Kernfrage zur Verarbeitung von Komplexität besteht also darin, wie komplexe Sinnsysteme die Anschlussfähigkeit sinnvoll gestalten können (Luhmann 1984, S. 62).
Sinn bedeutet nach Luhmann eine Differenz zwischen Aktualität und Möglichkeit. „Sinn ist laufendes Aktualisieren von Möglichkeiten. Und Sinn haben heißt eben; dass eine der anschließbaren Möglichkeiten als Nachfolgeaktualität gewählt werden kann und gewählt werden muss, sobald das jeweils Aktuelle verblaßt, ausdünnt, seine Aktualität aus eigener Instabilität selbst aufgibt.“ (Luhmann 1984, S. 100)
Das heißt, Sinn entsteht dann, wenn eine Möglichkeit besteht, welche noch nicht gewählt wurde. Daher hört die Autopoiesis nicht auf, wenn eine sinnvolle Anknüpfungsmöglichkeit gefunden wird. „Zugestanden, dass alles, was im Sinn prozessiert wird, Sinn haben muss, bleibt dennoch die Frage, wie diese Aussage aus der bloßen Tautologie hinausgebracht werden kann.“ (Luhmann 1984, S. 102)
[…] die Zuordnung von Sinn zur Umwelt (zum Beispiel: externale Zurechnung von Kausalität) [kann] benutzt werden, um das in aller Selbstreferenz steckende Problem der Zirkularität zu lösen. Die Selbstreferenz und die damit gegebenen Interdependenzen aller Sinnmomente bleibt erhalten; aber der Umweltbezug wird intern als Interdependenzunterbrecher eingesetzt: Das System asymmetrisiert – sich selbst! (Luhmann 1984, S. 65)
Es muss folglich eine Differenz zwischen Aktualität und Möglichkeit vorhanden sein, die einen Sinn für die Auflösung der Differenz erzeugt. Nur so kann sich die Selbstreferenz enttautologisieren (Luhmann 1984, S. 113).
Nur wenn eine solche Differenz entsteht – wenn etwas anders sein sollte oder könnte, wie es ist – nur dann ergibt sich eine sinnvolle Möglichkeit, anders weiterzumachen. Das heißt, erst dann können die beendenden Elemente ersetzt und die Autopoiesis fortgesetzt werden. Folglich ist eine Irritation notwendig, damit Möglichkeiten wahrgenommen werden und Sinn überhaupt erst entsteht.
Für die Fortführung der Autopoiesis ist jedoch eine Selektion und somit Einschränkung der Möglichkeiten notwendig, die aus der Differenz zwischen Aktuellem und Möglichen entstehen und als sinnvoll erachtet werden können. Nur so lässt sich die Komplexität letztendlich reduzieren (Luhmann 1984, S. 187). Darüber hinaus muss auch ein Selektionsraum gewählt werden, aus dem die Möglichkeiten zu entnehmen sind. Da neben den zur Wahl stehenden Möglichkeiten auch ein Möglichkeitsbereich gewählt wird, ist eine Selektion immer doppelselektiv (Luhmann 1984, S. 188).
Die Auswahl der Möglichkeiten beziehungsweise des Möglichkeitsraums stellt eine kontingente Situation dar. Wie oben beschrieben, kann eine vollständig doppelte Kontingenz nicht über Erfahrungen aufgelöst, sondern nur durch einen externen Bezug reduziert werden. Damit die beteiligten Systeme bzw. ein System und dessen Umwelt, die jeweils aus allen anderen Systemen besteht, trotz der unterschiedlichen Perspektiven einen gemeinsamen Bezugspunkt finden, ist es notwendig, eine abstraktere Ebene einzuführen.
Systemtheoretisch wird dies als symbolische Generalisierung bezeichnet. Dabei soll eine „Mehrheit einer Einheit zugeordnet und durch sie symbolisiert“ (Luhmann 1984, S. 135) werden. Das bedeutet, dass die gleiche symbolische Generalisierung für unterschiedliche Sachverhalte als Orientierung verwendet werden kann, da sie durch ihren abstrakten Charakter auslegungsfähig ist. „Generalisierung in diesem Sinne ist ein Instrument für die Bewältigung des Komplexitätsgefälles zwischen Umwelt und System.“ (Luhmann 1984, S. 137) „Symbolische Generalisierungen verdichten die Verweisungsstruktur jeden Sinnes zu Erwartungen, die anzeigen, was eine gegebene Sinnlage in Aussicht stellt. Und ebenso gilt das Umgekehrte: Die in konkreten Situationen benötigten und bewährbaren Erwartungen führen und korrigieren die Generalisierungen.“ (Luhmann 1984, S. 139) Das heißt, jede Differenz stellt eine sinnvolle Möglichkeit dar, die Autopoiesis fortzusetzen, wenn auf einer abstrakten Ebene dargestellt wird, wie bei einer bestimmten Situation zu handeln erwartet wird. Denn dann kann für die konkrete Situation interpretiert und entschieden werden, welche Selektion die richtige ist. Danach stellt sich die Frage, ob die symbolische Generalisierung zu einer richtigen Entscheidung geführt hat oder nicht. Entspricht das Ergebnis nicht der Erwartung, kann auch die symbolische Generalisierung durch diese Erfahrung angepasst werden.
Die Generalisierung von Erwartungen auf Typisches oder Normatives hin hat mithin eine Doppelfunktion: Sie vollzieht einerseits eine Selektion aus der Gesamtheit angezeigter Möglichkeiten und reproduziert so die im Sinn angelegte Komplexität, ohne sie zu vernichten; und sie überbrückt Diskontinuitäten in sachlicher, zeitlicher und sozialer Hinsicht, so dass eine Erwartung auch dann noch brauchbar ist, wenn die Situation sich geändert hat. (Luhmann 1984, S. 140)
Eine symbolische Generalisierung, die durch Erwartungen den Selektionsraum reduziert, besteht beispielsweise aufgrund von Gesetzen oder Normen (Willke 1993, S. 147). Symbolische Generalisierung spielt für die Entstehung von Systemen eine entscheidende Rolle, denn durch die Verdichtung von Kommunikation bilden sich Strukturen. Durch wiederholte kommunikative Interaktion entstehen Erwartungen, auf denen die Architektur der sozialen Systeme aufbaut (Willke 2007, S. 26).
Voraussetzung für die Operation von sozialen Systemen sind Beobachtungen, die nur durch die Auflösung eines Paradoxes möglich sind. Denn jede Beschreibung muss von dem, was beobachtet wird, das ausschließen, was nicht beobachtet wird. Damit beobachtet werden kann, muss die Grenze zwischen dem Beobachteten und dem Ausgeschlossenen beobachtet werden. Das Beobachtete ist dann zu sehen, wenn klar ist, was nicht beobachtet wird. Das Nichtbeobachtete muss daher beobachtet werden, damit das Beobachtete beobachtet werden kann, obwohl das Beobachtete nur durch den Ausschluss des Nichtbeobachteten beobachtet werden kann. Darin besteht das Paradox (Luhmann 2000, S. 461).
„Beobachten ist, anders gesagt, die Entfaltung einer Paradoxie, die Substitution einer operationsfähigen Unterscheidung, die (und nichts anderes heißt ‚operationsfähig‘) auf eine Unterscheidung von Innenseite und Außenseite oder von positiv und negativ hinausläuft.“ (Luhmann 2000, S. 461)
Die grundlegende Beobachtung der Systemtheorie beruht auf der Differenz zwischen System und Umwelt (Luhmann 2000, S. 29), und das grundlegende Paradox, mit denen komplexe Systeme beobachtet werden, besteht darin, dass Systeme sowohl offen als auch geschlossen sind.
Die Geschlossenheit entsteht durch die Operationen, die nur innerhalb des Systems ablaufen. Durch Autopoiesis entsteht eine Selbstreferenz, mit der sich das System von der Umwelt abgrenzt. Die Paradoxie besteht darin, dass das System, trotz der Geschlossenheit offen und in der Lage ist, die Umwelt zu beobachten. Möglich wird eine Beobachtung der Umwelt im System durch eine Unterscheidung von System und Umwelt. Das System kann sich allerdings selbst nur von seiner Umwelt unterscheiden, indem es eine Differenz zwischen System und Umwelt herstellt. Dazu müsste für das System jedoch die Umwelt bereits bekannt sein (Krause 2005, S. 204 f.).
Die Auflösung dieses Paradoxes erfolgt durch Selbstbeobachtung. Wie jede Beobachtung trifft auch die Selbstbeobachtung eine Unterscheidung. Sie besteht in der Differenz von Selbstreferenz und Fremdreferenz. Dies stellt eine vom System gemachte Kopie der Differenz zwischen System und Umwelt dar, die nun innerhalb des Systems vorhanden ist: „formal gesehen handelt es sich also um ein ‚re-entry‘ im Sinne des Formenkalküls von George Spencer Brown: um einen Wiedereintritt der Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene.“ (Luhmann 2000, S. 72)
Der Re-entry, der das Paradox auflöst, wird durch ein vereinfachtes Abbild möglich. So ignoriert das System beispielsweise, dass es selbst Teil der Gesellschaft ist, die es als gesellschaftliche Umwelt von sich als System differenziert. Es wird angenommen, dass das, was im System als Differenz zwischen Selbst- und Fremdreferenz abgebildet wird, tatsächlich der Differenz zwischen System und Umwelt entspricht. Vom System wird ignoriert, dass es einen Unterschied zwischen der wahrgenommenen Realität des Systems und der tatsächlichen Realität gibt. Die Differenz wird als rational empfunden (Luhmann 2000, S. 462 f.).
Die Systemtheorie geht aber davon aus, dass keine Gesamtrationalität, die vorgibt, wie etwas zu sein hat, existiert, sondern sie untersucht, wie die im System empfundene Rationalität die Gesellschaft beeinflusst, die sich nicht mit dieser Rationalität beschreiben lässt (Luhmann 2000, S. 467).
Es gehört zur alten Weisheit des rhetorischen Paradoxierens, dass diese Form dazu dient, die Frage zu stellen, ob man von den konventionellen Unterscheidungen und Bezeichnungen wegkommen und sich andere Formen der Auflösung des Paradoxes vorstellen kann. (Luhmann 2000, S. 472)
Die Auflösung der Paradoxien wird noch mal deutlicher am Beispiel von sozialen Systemen, bei denen eine Differenz von System und Umwelt mithilfe von Codes gesetzt wird.
In der Gesellschaft differenzieren sich soziale Systeme durch einen binären Code aus. Mithilfe dieses Codes erreicht das System Geschlossenheit und kann sich klar von der Umwelt abgrenzen. (Luhmann 1986, S. 91) „Die wichtigsten Funktionssysteme strukturieren ihre Kommunikation durch einen binären, zweiwertigen Code, der unter den Gesichtspunkt der jeweiligen Funktionen universelle Geltung beansprucht und dritte Möglichkeiten ausschließt.“ (Luhmann 1986, S. 75)
Diese Codes sind nach Luhmann erst durch die gesellschaftliche Evolution entstanden und mit der zunehmenden Verwendung werden diese Systeme stärker ausdifferenziert. Seit der Neuzeit werden die sozialen Systeme mit diesen Codes und nicht „durch einen gesellschaftseinheitlichen oder zumindest oberschichtenspezifischen „Ethos““ (Luhmann 1986, S. 87) gesteuert. Das heißt wiederum, dass die sozialen Systeme mittels der Codes deutlicher zuordnen können, was zur Umwelt gehört und was im System vorhanden ist.
Jede Codierung hat die Funktion, das System, das diesen Code operiert, von Tautologien und Paradoxien zu erlösen. […] Dann kann das System seine Operationen an dieser Differenz orientieren, ohne die Frage nach der Einheit des Codes zu stellen. […] Das System wählt einen Code, um diejenigen Aspekte seiner Selbstreferenz zu invisibilisieren, die ihm die Tautologie und Paradoxie seiner Operationsgrundlagen vor Augen führen würden. (Luhmann 1986, S. 77)
Indem die Systemtheorie beobachtet, wie Systeme beobachten, also eine Beobachtung zweiter Ordnung ansetzt, wird deutlich, dass mithilfe von binären Codes die Paradoxie des Systems, aufgelöst wird. Mit dem binären Code wird eine Differenz gesetzt, die die Differenz der Paradoxie invisibilisiert.
Die Einheit, die in der Form einer Tautologie (zum Beispiel: Recht ist recht) oder in der Form einer Paradoxie (man hat nicht das Recht, sein Recht zu behaupten) unerträglich wäre, wird durch eine Differenz ersetzt (im Beispiel: die Differenz von Recht und Unrecht). (Luhmann 1986, S. 76)
Für die Aufrechterhaltung des Systems muss jedoch eine Anschlussfähigkeit für die Autopoiesis gefunden werden.
Die Eigendynamik komplexer autopoietischer Systeme bildet einen rekursiv-geschlossenen, auf Selbstreproduktion, auf Fortsetzung der eigenen Autopoiesis eingerichteten Operationszusammenhang, der zugleich in hohem Maße offen, das heißt sensibel ist für wechselnde Umweltbedingungen. (Luhmann 1986, S. 37)
Während der binäre Code zur Geschlossenheit des Systems beiträgt, braucht es eine weitere Ebene, die Anlässe zur Selektion identifiziert und damit die Offenheit des Systems ermöglicht.
Damit Systeme auf äußere Einflüsse reagieren können, gibt es eine zweite Ebene unter den Codes. Auf dieser Ebene verfügen alle Systeme über Programme, die darüber entscheiden, wie ein bestimmter Sachverhalt den einen oder den anderen Wert des Codes bekommt. Damit können auch Zustände außerhalb des Systems erfasst werden (Luhmann 1986, S. 83).
Durch Verarbeitung auf unterschiedlichen Ebenen wird es für soziale Systeme möglich, die Paradoxie von gleichzeitiger Offenheit und Geschlossenheit aufzulösen. Nur durch die Berücksichtigung der Umwelt sind soziale Systeme in der Lage, eine höhere Komplexität aufzubauen.
Die Gesellschaft besteht aus nichts anderem als aus Kommunikation, und durch die laufende Reproduktion von Kommunikation durch Kommunikation grenzt sie sich gegen eine Umwelt andersartiger Systeme ab. Auf diese Weise wird durch Evolution Komplexität aufgebaut. (Luhmann 1986, S. 24)
In sozialen Systemen gibt es nur durch die Berücksichtigung von externen Einflüssen einen Grund für weitere Kommunikation, wodurch sich das System von der Umwelt abgrenzt und sich zu einem komplexeren System entwickeln kann. Für die Fortsetzung der Autopoiesis und der Wahrnehmung von externen Einflüssen müssen soziale Systeme also in der Lage sein, die Umwelt im System abzubilden. Die Abbildung der Umwelt im System ist eine wesentliche Voraussetzung für die Entstehung von Sinn in sozialen Systemen.
Sinn ist also, mit anderen Worten gesagt, eine aktualitätsfähige Repräsentation von Weltkomplexität im jeweiligen Moment. Die Diskrepanz zwischen der Komplexität und der wirklichen Welt und der Fassungskraft des Bewusstseins bzw. der Kommunikation kann aber nur dadurch überbrückt werden, dass der Raum der aktuellen Intention klein gehalten und alles andere potentialisiert, das heißt, auf den Status einer bloßen Möglichkeit reduziert wird. (Luhmann 1986, S. 44)
Für die Abbildung der Umwelt im System müssen die möglichen Anschlussmöglichkeiten begrenzt werden, da die Umwelt viel zu komplex ist, um im System abgebildet zu werden. Alles andere muss als unwahrscheinliche Möglichkeit außen vor gelassen werden.
Das System existiert nur, wenn und solange die sinnhafte Verarbeitung von Information fortgesetzt wird. Die Strukturtechnik, die dies ermöglicht, kann als Differenztechnik bezeichnet werden. Das System führt eigene Unterscheidungen ein und erfasst mit Hilfe dieser Unterscheidungen Zustände und Ereignisse, die für das System selbst dann als Information erscheinen. (Luhmann 1986, S. 45)
Soziale Systeme sind autopoietische Systeme, da sie die Elemente, aus denen sie bestehen, in dem Fall Kommunikation, selbst herstellen. Zur Vermeidung einer Tautologie müssen sie offen gegenüber der Umwelt sein. Zur Reduktion der Kontingenz hilft ihnen eine symbolische Generalisierung, mit der Erwartungen erzeugt und somit Möglichkeiten eingeschränkt werden. Eine solche Beobachtung ist nur möglich, indem die damit verbundene Paradoxie durch ein Reentry der Differenz zwischen System und Umwelt verschleiert wird.

2.1.2 Entstehung von autopoietischen Systemen

Im folgenden Abschnitt wird beschrieben, wie komplexe soziale Systeme entstehen.
Da Luhmann nicht näher erläutert, wie aus einem trivialen System ein komplexes System wird, führt Willke (1993) den Begriff „Quasisystem“ (Willke 1993, S. 75) ein. Die von Luhmann beschriebenen „einfachen Systeme“ erscheinen ihm nicht passend, da sie für alle Beteiligten vollständig überschaubar und daher zu speziell sind. Auch die Eigenschaften von „Interaktionssystemen“ reichen nicht aus, die Entstehung von Systemen zu beschreiben, da sie nicht nur auf entstehende Systeme, sondern auch auf bereits sehr komplexe Systeme zutreffen (Willke 1993, S. 73).
Quasisysteme zeichnen sich durch schwache Strukturen aus, an denen mehr als zwei Personen beteiligt sind. Sie sind langfristig angelegt und verfolgen als Ziel die Systembildung (Willke 1993, S. 75).
Das Quasisystem durchlebt verschiedene Phasen, bevor es ein autopoietisches System wird. Zuerst zielt das System darauf ab, Aufmerksamkeit zu bekommen. Denn die Grundproblematik besteht in einer sachlichen Komplexität, bei der die Ressourcen zwischen mehreren Systemen in Konkurrenz stehen und daher erworben werden müssen. Im Vordergrund steht daher die Ressourcenbeschaffung, um grundlegende Bedürfnisse zu befriedigen. Mit der steigenden Anzahl an Mitgliedern nimmt die soziale Komplexität zu. Mit der Einführung von normativen Strukturregeln, die unterschiedliche Rollen für Mitglieder zur Lösung von spezifischen Problemen definieren, ist es jedoch möglich, dass sich bestimmte Bereiche innerhalb des Systems spezialisieren (funktionale Binnendifferenzierung). Dadurch entstehen Zeitvorteile und neue Freiräume, die neue Möglichkeiten für eine höhere Komplexität schaffen. Mit der Zeit stößt dies jedoch irgendwann an die Leistungsgrenzen, da auch mit zunehmender Größe die spezialisierten Bereiche irgendwann überfordert sind. Diese zeitliche Komplexität kann nur durch Effizienz und den Aufbau von Strukturen und Prozessen kompensiert werden. Durch Zielvorgaben an die spezialisierten Bereiche wird es möglich, die Strukturen und Prozesse aufeinander abzustimmen und zu synchronisieren. Mit steigender operativer Komplexität wird die Differenz zwischen Umwelt und System immer deutlicher. Die Umweltansprüche werden dann immer weniger bedeutend, während die eigenen Intentionen einen immer höheren Stellenwert einnehmen. Es wird dem System dadurch möglich, unabhängig von der Umwelt Ziele eigenständig zu stecken. Mit dieser Selbstorganisation ist aus dem Quasisystem nun ein System geworden (Willke 1993, S. 72 ff.).
Das System, das unter dem Aspekt der Beherrschung der Umwelt, der operativen Autonomie und der Selbststeuerungsfähigkeit gegenüber den Ereignissen der Umwelt eine einzigartige Lösung darstellt, wird nun aufgrund der sich entwickelnden operativen Komplexität sich selbst zum Problem. Es produziert Optionen, in einem Ausmaß, dass sie immer schwieriger zu verarbeiten sind. Für die Lösung des Problems der Autogenese handelt es sich das Folgeproblem der Autokatalyse ein: wie der Zauberlehrling im Märchen, wird es von den eignen Fähigkeiten in höchste Bedrängnis gebracht. Systemintern wird alles möglich, da alles – selbst die eigenen Strukturen und Prozesse – zur Disposition stehen. […] Wir haben unseren Blick verengt auf nur ein System. In Wirklichkeit ist jedes psychische oder soziale System umgeben und verbunden mit einer Vielzahl anderer Systeme, die in gleicher Weise aufgrund ihrer Handlungsfähigkeit operative Komplexität produzieren. Für das isolierte Einzelsystem wäre theoretisch alles möglich; aber da alle anderen Systeme in gleicher Weise einen internen Möglichkeitsüberschuss erzeugen, beschränken und blockieren sich aufgrund der gegebenen Interdependenzen diese Möglichkeiten wechselseitig bis zu dem Punkt, wo alles möglich ist und nichts mehr geht. (Willke 1993, S. 101)
Da die Ausdifferenzierung ein wesentlicher Schritt für die Entstehung von autopoietischen Systemen darstellt, wird im folgenden Abschnitt die Abgrenzung von Systemen zur Umwelt noch mal detaillierter aus der Sicht von Luhmann beschrieben.
Die Identität von Systemen entsteht aus einer Differenz zwischen System und Umwelt. Alles, was an Kommunikation existiert, kann einem System oder dessen Umwelt, die aus allen anderen Systemen besteht, zugeordnet werden. Die Umwelt eines Systems besteht somit aus einer Vielzahl von komplexen Systemen, die auch mit dem System in Kontakt treten können. Da die Umwelt dadurch immer komplexer ist als das System selbst, muss das System sich gegenüber dieser Komplexität behaupten. Mithilfe einer Ausdifferenzierung ist es dem System möglich, dieses Komplexitätsgefälle zu überwinden. Durch die Strukturen des Systems erfolgt eine Selektion bezüglich der in der Umwelt stattfindenden Kommunikation, wodurch eine Punkt-für-Punkt-Beziehung mit der Umwelt vermieden wird. Neben einer inhaltlichen Abgrenzung kann sich das System durch die Ausdifferenzierung auch zeitlich von der Umwelt abgrenzen, indem es eine systemeigene Zeit entwickelt (Luhmann 1984, S. 243 ff.).
Die Entstehung von komplexen Systemen ist ein evolutionärer Prozess. Voraussetzung ist Kommunikation. Sie kommt zwangsläufig durch eine doppelt kontingente Situation zustande. Auf Basis von zufälligen Ereignissen können Erfahrungen gesammelt und dadurch Strukturen aufgebaut werden. „Man kann sich vorstellen, dass dies ein gleichsam leeres Evolutionspotential bereitstellt, das, wenn nicht Besseres verfügbar ist, jeden Zufall ausnutzen wird, um Ordnung aufzubauen.“ (Luhmann 1984, S. 236)
Als Zufälle werden von Luhmann Störungen und „noise“ aller Art bezeichnet. Durch Kommunikation können diese unerwarteten, unwillkommenen oder enttäuschenden Ereignisse artikuliert werden. Das bedeutet nicht, dass die Ursache dabei schon erläutert wird, vielmehr geht es darum, auf die Störung aufmerksam zu machen und ihr dadurch Sinn zu verleihen. Es wird dadurch erzwungen, die Störung kommunikativ weiterzuverarbeiten (Luhmann 1984, S. 237).
Wie bereits oben beschrieben, könnte die doppelte Kontingenz ohne Zufälle nicht aufgelöst und die Zirkularität nicht aufgebrochen werden. Grundlage für die Entstehung jedes Systems ist daher der Zufall. „Ohne Überraschungsmoment gäbe es deshalb keine Strukturbildung, weil nichts vorkäme, was zu verknüpfen wäre.“ (Luhmann 1984, S. 239)
Damit aus den zufälligen Ereignissen jedoch Strukturen entstehen können, müssen Erwartungen vorhanden sein, die dem System sagen, wie die Störung zu handhaben ist.
Erwartungen sind, und sofern sind sie Strukturen, das autopoietische Erfordernis für die Reproduktion von Handlungen. Ohne Sie würde das System in einer gegebenen Umwelt mangels innerer Anschlussfähigkeit schlicht aufhören, und zwar: von selbst aufhören. (Luhmann 1984, S. 392)
Denn Strukturen bauen sich nicht aus sich selbst heraus auf, sondern es muss von außen Hinweise geben, wie sie auszusehen haben. Denn Strukturen schränken Möglichkeiten ein. Sie begrenzen, welche Elemente wie miteinander verbunden werden können. (Luhmann 1984, S. 384)
Strukturen fassen die offene Komplexität der Möglichkeiten, jedes Element mit jedem anderen zu verbinden, in ein engeres Muster „geltender“, üblicher, erwartbarer, wiederholbarer oder wie immer bevorzugter Relationen. Sie können durch diese Selektion weitere Selektionen anleiten, indem sie die Möglichkeiten auf jeweils überschaubare Konstellationen reduzieren. (Luhmann 1984, S. 74)
Während Strukturen dadurch die Zeit reversibel festhalten, erzeugen die Prozesse die Irreversibilität der Zeit (Luhmann 1984, S. 74). „Der Prozess bestimmt sich im Ausgang vom momentanen Aktuellen durch Übergang zu einem dazu passenden, aber von ihm unterschiedenen (neuen) Element.“ (Luhmann 1984, S. 388) „Strukturen fangen das Risiko selektiver Relationierung der Elemente auf, Prozesse das Risiko der Indirektheit der Relationierung der Elemente.“ (Willke 1993, S. 150)
Für den Aufbau von Strukturen muss es also Hinweise geben, wie die Möglichkeiten eingeschränkt werden sollen.
Dies ist aber nicht durch eine immanente energeia, eine Kraft, einen élan vital, des Handelns möglich, sondern, nur durch Vorgabe und laufende Reaktivierung von Erwartungsstrukturen, die die Unsicherheit der Zukunft (und damit auch die temporale Selbstreferenz des Einzelelementes Handlung) so weit reduzieren, dass das Handeln sich selbst durch Selektion von Relationierung spezifizieren kann. (Luhmann 1984, S. 392)
Strukturbildung heißt also nicht einfach, Unsicherheit durch Sicherheit zu ersetzen. Vielmehr wird mit einem höheren Grad an Wahrscheinlichkeit Bestimmtes ermöglicht und anderes ausgeschlossen, und in Bezug darauf können Erwartungen dann mehr oder weniger sicher/unsicher sein. Die Strukturbildung wird gleichsam bezahlt mit der Notwendigkeit, sich auf Sicheres/Unsicheres einlassen zu müssen. (Luhmann 1984, S. 417)
Mit der Zeit können Widersprüche in den Erwartungen auftreten, die zu Instabilität des Systems führen. Aber diese Instabilität ist für die Fortsetzung des Systems notwendig, denn der ständige Zerfall kann nur durch weiteren Anschluss kompensiert werden. Nur durch neue Erwartungen kann die Zirkularität durchbrochen werden und können neue Wege aufgezeigt werden, die auch die Veränderungen in der Umwelt berücksichtigen (Luhmann 1984, S. 501).
Dafür sind Widersprüche notwendig, die in Konflikten Ausdruck gewinnen (Luhmann 1984, S. 530). Sie übernehmen eine alarmierende Funktion, die darauf hinweist, dass die Autopoiesis möglicherweise in bisheriger Form nicht fortgesetzt werden kann (Luhmann 1984, S. 508).
Er zerstört für einen Augenblick die Gesamtprätention des Systems: geordnete, reduzierte Komplexität zu sein. Für einen Augenblick ist dann unbestimmte Komplexität wiederhergestellt, ist alles möglich. Aber zugleich hat der Widerspruch genug Form, um die Anschlussfähigkeit des kommunikativen Prozessierens von Sinn doch noch zu garantieren. Die Reproduktion des Systems wird nur auf andere Bahnen gelenkt. Sinnformen erscheinen als inkonsistent, und das alarmiert. Aber die Autopoiesis des Systems wird nicht unterbrochen. (Luhmann 1984, S. 508)
Ist die Kommunikation erst einmal angelaufen, ist sie ein „völlig eigenständiger, autonomer, selbstreferentiell-geschlossener Vorgang des Prozessierens von Selektion“ (Luhmann 1984, S. 206), wodurch „eine allmähliche Evolution in Richtung auf Ausdifferenzierung spezifisch kommunikativer (sozialer) Systeme“ (Luhmann 1984, S. 223) entsteht. Denn durch die selektiv wirkende Kommunikation werden begrenzte Sozialsysteme hervorgebracht, die wiederum die Voraussetzung bieten, für eigentlich unwahrscheinliche Ereignisse Erwartungen zu bilden, die das Unwahrscheinliche in Wahrscheinliches transformieren (Luhmann 1984, S. 223).
Komplexe Systeme entstehen aus einer Ausdifferenzierung der Umwelt. Durch Evolution entstehen Strukturen, die Erwartung erzeugen, wie mit zufälligen Ereignissen umgangen werden soll.

2.1.3 Sinn durch Reduktion von Kontingenz

In diesem Kapitel wird beschrieben, wie neuer Sinn durch die Reduktion von Kontingenz entsteht, ferner werden unterschiedliche Formen der Kontingenzreduktion dargestellt.
Oftmals wird als übergeordnete Problemstellung der Systemtheorie die Verarbeitung von Komplexität gesehen. Diese Ansätze übersehen jedoch, dass die Reduktion von Komplexität nur mit dem Aufbau von neuer Komplexität möglich ist. Die zentrale Problemstellung der Systemtheorie ist daher nicht Komplexität, sondern Sinn (Schützeichel 2003, S. 17). Systemtheoretisch bezieht sich Sinn nicht auf das klassische Verständnis von Sinn, das mit Zweck oder Absicht gleichgesetzt werden kann (Weber 1972, S. 1 f.; Schütz 1932, S. 48 f.), sondern darauf, dass Zweck und Absicht sich im Sinne einer zweiten Ordnung auf Sinn beziehen (Schützeichel 2003, S. 32). Luhmann (1971, S. 31 ff.) untersucht Sinn mithilfe der Phänomenologie anhand des Bewusstseins. Die Basis für die Entstehung und Existenz des Bewusstseins ist Intention. In jeder Situation des Bewusstseins ist immer zugleich mehr möglich als gegeben. Jede Situation hat Potenzial zu weiteren Möglichkeiten, die intentional angestrebt werden können. Die Potenzialitäten können unterschiedlich sein. Sie können sich auf einen Außenhorizont oder einen Innenhorizont beziehen. Die Möglichkeiten können sich also sowohl auf die Umwelt einer Sache beziehen als auch auf die weitere Konkretisierung der Sache selbst.
Sinn entsteht durch die Auflösung der Differenz zwischen Aktualität und Potenzialität. Luhmann verallgemeinert diesen Zusammenhang aus dem psychischen System für eine Anwendung in sozialen Systemen. Sinn kann dadurch auf eine Differenz bezogen werden. Nicht das Objekt oder das Thema ändert sich von Situation zu Situation, sondern die Selektivität. Das heißt die Differenz aus dem Gegenstand und den Möglichkeiten. Sinn entsteht aus einem Horizont des Gegebenen und des Möglichen. Es müssen also immer zwei Ebenen vorhanden sein. Dies begründet das Konzept der doppelten Selektivität (Schützeichel 2003, S. 35 f.).
Die Systemtheorie beschreibt, wie Sinn für Systeme entstehen kann und wie Systeme mit Sinn operieren. Eine pathologische oder paradoxale Selbstreferenz der Systeme kann nur verhindert beziehungsweise aufgelöst werden, indem das System auf anderen Sinn verweist (Schützeichel 2003, S. 16).
Sinn entsteht somit durch den Bezug auf weiteren Sinn. Luhmann unterscheidet mit Sach-, Zeit- und Sozialdimension verschiedene Sinndimensionen, in denen Differenzen entstehen können, auf die weiterer Sinn bezogen werden kann (Schützeichel 2003, S. 45). Die Sozialdimension kann der Kommunikationstheorie zugeordnet werden, die Zeitdimension der Evolutionstheorie, und die Sachdimension der System-/Umwelttheorie (Schützeichel 2003, S. 19). Die Sachdimension weist auf einen sachlichen Unterschied zwischen dem Inneren und dem Äußeren des Systems hin (Luhmann 1984, S. 114). Es stellt sich dabei die Frage, ob der Anschluss von Sinn eher durch Fremd- oder durch Selbstreferenz sichergestellt werden kann (Luhmann 1984, S. 124).
In der Sozialdimension kann ein Ereignis von einem anderen System anders erlebt werden als von dem System selbst. Dies entspricht einer Situation mit doppelter Kontingenz, die durch zwei aufeinandertreffende Systeme entsteht (Luhmann 1984, S. 119). Wesentliches Merkmal ist eine Differenz zur Einschätzung einer bestimmten Situation. In der Zeitdimension gibt es eine temporale Differenz (Luhmann 1984, S. 116). Sinn entsteht aus einer Differenz von Vergangenheit und Zukunft bzw. von „vorher“ und „nachher“ (Schützeichel 2003, S. 46).
Zwar können die Sinndimensionen nur kombiniert auftreten, da sie voneinander abhängen, allerdings kann durch die Selbstreferenz der Sinndimensionen deren Interdependenz reduziert werden. Durch die Selbstreferenz lösen sich alle Bezugspunkte auf, sodass eine Vielfalt an neuem Sinn möglich wird, der aber eine Verankerung in der Sinndimension selbst finden muss, um sich zu stabilisieren. Die unendlichen Möglichkeiten in den Sinndimensionen trennt sie voneinander, sie ermöglichen so den Aufbau von Komplexität zur Verarbeitung von Komplexität (Luhmann 1984, S. 127 ff.).
In sozialen Systemen kann der Druck für eine Selektion im Möglichkeitshorizont, der den Erhalt von Sinn sichert, auf drei unterschiedlichen Wegen entstehen.
Das Beispiel der Organisation zeigt, wie der Druck auf neue Entscheidungen entsteht und somit der Sinn durch weitere Entscheidung in der Organisation erhalten bleibt.
In Organisationen beruhen Entscheidungen auf vorangegangenen Entscheidungen, wobei die Erwartung einer Entscheidung auf einer bereits getroffenen Entscheidung basiert. Entscheidungen werden in diesem Fall reflexiv. Im Rahmen der sozialen Reflexivität wird betrachtet, was andere erwarten. Dies entspricht dem kategorischen Imperativ. Bei einer Normierung von Verhaltenserwartungen bestehen bereits Regeln, die vorgeben, was zu tun ist (Luhmann 1988, S. 294 ff.).
Das System kann unterschiedlich darauf reagieren. Durch Konformität kann sich das System an die Erwartungen anpassen oder es kann den Erwartungen bewusst widersprechen. Zudem können Entscheidungen so getroffen werden, dass die Folgen externalisiert werden. Damit eine Selektion aus dem Möglichkeitsraum stattfinden kann, müssen Erwartungen existieren. Falls es keine Erwartungen gibt, müssen diese Erwartungen eigenständig erschaffen werden, was immer die Gefahr birgt, dass die Entscheidung pathologisch wird (Luhmann 1988, S. 299).
Während diese Darstellung sich besonders auf die Auflösung des unendlichen Möglichkeitshorizonts in Entscheidungssituationen von Organisationen darstellt, wird im folgenden Abschnitt in Anlehnung an diese drei Möglichkeiten der Umgang mit Kontingenz für die soziale Sinndimension im Allgemeinen dargestellt. Beschrieben wird dies exemplarisch durch eine Situation mit Kontingenz, die durch Erfahrungen, ein zufälliges Suchverfahren nach dem Trial-and-Error-Prinzip oder durch Generalisierung aufgelöst werden kann.
In der sozialen Dimension besteht die Herausforderung in der Situation einer doppelten Kontingenz, wie sie bereits unter Abschnitt 2.1.1 beschrieben wurde. Durch die Komplexität von sozialen Systemen stehen zwei soziale Systeme nur als Black Box einander gegenüber, wobei der jeweils andere nicht durchschaut werden kann (Luhmann 1984, S. 153 ff.). Aus Sicht der Sozialdimension stehen soziale Systeme immer vor einer kontingenten Situation, da die Umwelt, die aus den anderen sozialen Systemen besteht, immer komplexer ist als das System selbst (Luhmann 1986, S. 33). Mit der Ausdifferenzierung haben sich die Systeme immer stärker auf ihre eigenen Operationen spezialisiert, wodurch die Komplexität der Umwelt reduziert wurde (Luhmann 1986, S. 36 f.). Durch eine eigene Beobachtungsform der gesellschaftlichen Funktionssysteme nehmen sie die Umwelt und deren Risiken unterschiedlich wahr (Strulik 2000, S. 55 ff.). Kontingenz kann durch Erfahrungen reduziert werden, indem auf vorangegangene Situationen Bezug genommen wird, wodurch schnellere Entscheidungen getroffen werden können.
Mithilfe von Erfahrungen wird Scheinsicherheit erzeugt, wie es beispielsweise bei der Wahrscheinlichkeitsberechnung von Versicherungen ersichtlich wird. Die Nichtkalkulierbarkeit des Risikos bleibt latent (Japp 1996, S. 59 f.).
Mit der zunehmenden Bedeutung der Digitalisierung (Rifkin 2013) stellen Algorithmen, die in einer Vielzahl von Anwendungsfeldern – von Steuergeräten in Fahrzeugen über Textverarbeitungen bis hin zu Finanzprodukten – eingesetzt werden, eine Methode dar, mit der eine solche Scheinsicherheit dargestellt wird.
Algorithmen sind Rechenprogramme für die Lösung von Problemen, bei dem durch eine Eingabe ein eindeutiges Ergebnis entsteht, wodurch die Lösungssuche gestoppt wird. Entscheidend dafür ist, dass die Länge des Programms (räumlich) und die Dauer der Berechnung (zeitlich) begrenzt sind (Turing 1937). Für komplexe Systeme sind diese Verfahren zur Lösung von nichttrivialen Problemen jedoch nur begrenzt geeignet, da es keine Eins-zu-eins-Beziehungen gibt und damit auch keine eindeutigen Lösungen existieren, die berechenbar sind. Es ist daher nur eine Frage der Zeit, bis die akzeptierte Methode eines scheinbar funktionierenden Algorithmus enttäuscht wird.
Rationalität hilft dabei, eine Entscheidung zu treffen. Die Paradoxie einer gleichzeitigen Sicherheit und Unsicherheit wird durch eine zeitliche Sinndimension aufgelöst. Es wird eine zeitliche Differenz gezogen, dass eine Entscheidung mit Sicherheit getroffen wird, die dann in Zukunft durch die Unsicherheit irgendwann enttäuscht wird. Die Unsicherheit, die bei jeder Entscheidung vorhanden ist, wird durch Festlegung auf bestimmte Themen in die Zukunft verschoben (temporalisiert), da man erst mal von einer scheinbaren Sicherheit ausgeht, bis man von unerwarteten Nebenfolgen irgendwann in der Zukunft überrascht wird (Japp 1996, S. 67 f.).
Mithilfe von Heuristiken können Entscheidungspfade abgekürzt werden, indem auf bisherige Erfahrungen zugegriffen wird. Sie sind einfache Problemlösungsmechanismen, die auf einfachen Regeln basieren und somit zu schnelleren Ergebnissen führen (Kahneman 2011).
Da sie nur eine begrenzte Information für ihre Entscheidungen heranziehen, führen Heuristiken zwar zu schnelleren Ergebnissen als Algorithmen, aber damit sind auch Unsicherheiten verbunden, die zu Verzerrungen und falschen Ergebnissen führen können. Neben den vereinfachenden Modellen der Realität, die durch den Bezug auf Erfahrungen eindeutige Entscheidungen ermöglichen, gibt es auch realitätsnähere Verfahren zur Auflösung von Kontingenz, die die Möglichkeiten des Zufalls berücksichtigen.
Zwar basieren bei Heuristiken die Erkenntnisse für Entscheidungen auf den Erfahrungen der Vergangenheit, aber mit dem Verfahren von Trial-and-Error kann auch bewusst der Zufall hinzugezogen werden, um einen Erkenntnisgewinn zu erlangen. Dabei werden so lange falsche Ergebnisse akzeptiert, bis sich zufällig ein richtiges Ergebnis einstellt. In Anlehnung an den Falsifikationismus von Popper (1935), der besagt, dass etwas so lange Gültigkeit hat, bis das Gegenteil bewiesen ist, geht Traill (2008, S. 31) davon aus, dass alle Lernprozesse, etwa die natürliche Selektion, solche im Gehirn, aber auch in der Gesellschaft auf dem Trial-and-Error-Verfahren basieren. Auch nach der Systemtheorie basiert die Evolution auf dem Trial-and-Error-Verfahren. Da sich die Risiken nie vollständig abschätzen lassen, können Risiken nur begrenzt werden, indem aus den bereits entstandenen unerwarteten Nebenfolgen gelernt wird und diese in den nächsten Entscheidungen mitberücksichtigt werden (Japp 1996, S. 56).
Die Erfahrungen prägen damit die Entscheidungen eines Systems und führen dazu, dass die getroffenen Entscheidungen immer auch ein Stück weit von den vorherigen Entscheidungen und deren Folgen abhängen. Zwar können Entscheidungen nicht rückgängig gemacht werden, aber die Selbstreferenz macht es möglich, dass aus den Fehlern gelernt werden kann (Japp 1996, S. 39).
Oftmals werden Formen der Unsicherheitsabsorption nicht geändert und weitere Entscheidungen auf die damit verbundenen Entscheidungen bezogen, obwohl offensichtlich ist, dass sie nicht geeignet sind. Hier können zufällige Ereignisse helfen, einen Lernprozess zu initiieren (Japp 1996, S. 93).
Damit stellt Kontingenz nicht nur ein Problem für soziale Systeme dar, indem Risiken unerwartete Nebenfolgen einer sonst erstrebenswerten Entwicklung der Gesellschaft hervorbringen, sondern die Risiken werden von den sozialen Systemen genutzt, um das System weiterzuentwickeln. In Situationen der Ungewissheit wird die Umwelt von den Systemen mit Tests abgetastet, um sie auf Reaktion und Konsequenzen zu prüfen. Damit entstehen zwar Risiken durch das System selbst, aber das System würde und könnte ohne das Eingehen von Risiken gar nicht existieren, da es sich dann nicht weiterentwickeln und erhalten könnte (Japp 1996, S. 51). Das Trial-and-Error-Verfahren trägt daher zur Evolution der Systeme bei.
Allerdings hat die Verarbeitung von Kontingenz durch das Trial-and-Error-Verfahren ihre Grenzen. Nach Kuhn (2014, S. 90) geht es bei der wissenschaftlichen Erkenntnis nicht darum, wie von Karl Popper gefordert und im Trial-and-Error-Verfahren vollzogen, eine bestimmte Abweichung zu erkennen, sondern darum, dass Wissenschaft innerhalb eines bestimmten Paradigmas arbeitet, um bestimmte Probleme zu lösen oder Anomalien zu erklären. Im Gegensatz zu Popper, nach dem Wissen entsteht, wenn etwas entgegen den bisherigen Erkenntnissen entdeckt worden ist, entsteht für Kuhn ein Wandel der Wissenschaft nur dann, wenn eine Anomalie so groß ist, dass eine Einigkeit vorhanden ist, dass das vorherrschende Paradigma abgelöst werden muss. Nicht der Unterschied, sondern die Einheit macht erst neue Erkenntnisgewinne möglich.
Damit eine Falsifikation von empirischen Ergebnissen als gültig betrachtet werden kann, müsste sie als unwiderlegbar gelten. Da sie selbst aber eine empirische Erkenntnis ist, besteht die Möglichkeit, dass sie selbst auch widerlegt werden kann. Ohne klare Stoppregeln, besteht bei dem Trial-and-Error-Verfahren daher immer die Gefahr, zu einer Endlosschleife zu werden.
In sozialen Systemen ermöglichen die zufälligen Irritationen zwar eine Aufrechterhaltung der Autopoiesis und eine Fortsetzung der Evolution, aber eine Voraussetzung, dass die selbstreferenziellen Operationen möglich sind, ist eine symbolische Generalisierung, die eine Einheit erzeugt. Mit symbolischer Generalisierung wird ein Medium bezeichnet, durch das eine Einheit hergestellt werden kann. Die Generalisierung beschreibt die Funktion einer operativen Verarbeitung von Vielheit. Eine Mehrheit wird einer Einheit zugeordnet und durch sie symbolisiert. Sinn kann in Systemen nur durch eine solche Symbolisierung oder Abstraktion entstehen. Mithilfe der Generalisierung wird es erst möglich, die Komplexität der Umwelt im System zu verarbeiten. Durch eine symbolische Generalisierung können Erwartungen erzeugt werden, die einen Hinweis darauf geben, wie Sinn verarbeitet werden soll. Gleichzeitig können aber auch Erwartungen die Generalisierung beeinflussen. Durch die Generalisierung von Erwartungen auf etwas Übliches oder Normatives kann eine Selektion aus der Gesamtheit aller Möglichkeiten erfolgen, wodurch die Komplexität verarbeitbar wird, ohne sie zu zerstören. Durch Generalisierung kann der unendliche Möglichkeitshorizont in der sachlichen, zeitlichen und sozialen Sinndimensionen so begrenzt werden, dass Erwartungen entstehen, die nicht nur in einer Situation verwendet werden können. Ein Überschuss an Sinn muss selektiv verarbeitet werden, wodurch allerdings auch die Möglichkeit besteht, Erwartungen auszuwählen, die in verschiedenen Situationen gelten und dann bei Bewährung eine Generalisierung bedingen können (Luhmann 1984, S. 135 ff.).
Entscheidungen, zukünftige Konsequenzen und Präferenzen stehen in einem zirkulären Zusammenhang, da immer ein gewisses Risiko hinsichtlich der Anschlussfähigkeit und der Folgen entsteht. Diese Zirkularität kann nur durch eine Selbstbindung unterbrochen werden. Durch Unsicherheitsabsorption werden beispielsweise die Unsicherheiten zukünftiger Konsequenzen verschleiert. Erwartungen helfen dabei, die Präferenzen stabil zu halten (Japp 1996, S. 48).
Durch Generalisierung, an der sich Erwartungen orientieren, wird eine Unterbrechung der Zirkularität der Selbstreferenz ermöglicht, was eine Voraussetzung für die Entstehung von neuem Sinn ist.
Damit soziale Systeme sich selbst erhalten, müssen sie also neuen Sinn erzeugen. Dazu müssen sie Kontingenz reduzieren, indem sie auf ein Trial-and-Error-Verfahren, Erfahrungen oder eine Generalisierung zurückgreifen.
Zusammenfassend betrachtet sind also unterschiedliche Arten von Systemen zu differenzieren. Das Kennzeichen der Systemtheorie ist, dass sie nicht mit trivialen, sondern mit nicht-trivialen Systemen arbeitet. Während triviale Systeme durch eine kausale Beziehung gekennzeichnet sind, die mit einem fest definierten Prozess aus einem Input einen Output erzeugen, sind nichttriviale Systeme komplexe Systeme, die sich durch das, was sie herstellen, selbst als Input nutzen. Sie sind daher selbsterhaltend. Die internen Prozesse sind so komplex, dass sie von außen weder verstanden noch vorhergesagt werden können. Diese Systeme werden auch autopoietische Systeme genannt. Als autopoietische Systeme werden sowohl lebende Systeme als auch Sinnsysteme bezeichnet. Luhmann bezieht sich in seiner Systemtheorie auf die Sinnsysteme, die in psychische Systeme und soziale Systeme unterschieden werden können.
In der einfachen Beschreibung wird deutlich, dass die autopoietischen Systeme aus den Elementen bestehen, die sie selbst herstellen. Sie sind dadurch geschlossene Systeme. Allerdings verfallen diese Elemente mit der Zeit, weshalb das System gleichzeitig offen sein muss für Irritationen, die Anlass für neue Elemente geben, da sonst die Autopoiesis aufhören würde.
Komplexe Systeme, die miteinander interagieren, stehen vor einer kontingenten Situation. Sie können aufgrund der Systemkomplexität das andere System nie komplett verstehen. Diese doppelte Kontingenz erzeugt Unsicherheit, bei der kein System weiß, was zu tun ist. Diese Situation kann nur durch Erfahrungen gelöst werden, die Erwartungen über das andere System erzeugen. Falls dies nicht der Fall ist, hilft ein zufälliges Ereignis. Beides führt zu Reaktionen eines Systems, das dem anderen System hilft, das System einschätzen zu können, wodurch eine Gegenreaktion möglich wird. Dies löst die Kontingenz auf und ermöglicht die Fortsetzung der Interaktion.
Soziale Systeme bestehen aus dem Element, das sie selbst produzieren – Kommunikation. Kommunikationselemente zerfallen über die Zeit. Sie brauchen daher einen externen Anschluss, da sie sich sonst auf sich selbst beziehen und dadurch tautologisch werden und ihren Sinn verlieren. Das soziale System kann dieser Tautologie entgegenwirken, indem es durch die Herstellung eines Bezugs zur Umwelt einen sinnvollen Anschluss findet. Dazu müssen Möglichkeiten wahrgenommen werden, die intern selektiert werden müssen, um die Möglichkeiten einzuschränken.
Da soziale Systeme nur mit anderen sozialen Systemen kommunizieren können, besteht die Umwelt der sozialen Systeme aus anderen sozialen Systemen. Stehen sie sich gegenüber, befinden auch sie sich in einer Situation doppelter Kontingenz, die viele Möglichkeiten bieten. In einer vollständig kontingenten Situation können Erfahrungen nicht helfen. Mithilfe einer abstrakteren Beobachtung wird es den beteiligten Systemen möglich, das Gleiche in einer Situation zu sehen, obwohl sie eigentlich vollständig andere Perspektiven einnehmen. Durch symbolische Generalisierung können Erwartungen erzeugt werden, durch die es möglich wird, die Unsicherheit der Kontingenz zu reduzieren.
Es sind somit zwei Dinge notwendig, damit Komplexität reduziert werden kann. Die Anschlussfähigkeit kann nur durch Offenheit ermöglicht werden, indem sie durch Einbezug der Umwelt die Tautologie der Selbstreferenz durchbricht. Eine Einschränkung der Möglichkeiten aus der daraus resultierenden Kontingenz kann durch Generalisierung erreicht werden.
Nach der Systemtheorie ist jede Beobachtung nur durch eine Paradoxie möglich. Die Systemtheorie impliziert eine Beobachtung zweiter Ordnung, die darin besteht, dass sie beobachtet, wie soziale Systeme beobachten. Dabei entsteht für die Systeme die Paradoxie, dass sie sich selbst und ihre Umwelt nur durch eine Differenz zwischen System und Umwelt wahrnehmen können. Für die Wahrnehmung dieser Differenz müssten sie jedoch sich selbst und die Umwelt bereits kennen. Diese Paradoxie kann nur aufgelöst werden, indem die Umwelt, in Form der Differenz von System und Umwelt, im System berücksichtigt wird (Reentry).
In sozialen Systemen besteht die Paradoxie, dass Systeme zur Aufrechterhaltung der Autopoiesis sowohl offen als auch geschlossen sein müssen. Diese Paradoxie wird durch die Differenz aus Selbst- und Fremdreferenz ersetzt, wodurch die Paradoxie invisibilisiert wird. Während ein binärer Code die Geschlossenheit von sozialen Systemen herstellt, mit der sich das System auf sich selbst bezieht, ermöglichen Programme auf einer niedrigeren Ebene eine Offenheit, mit der die Umwelt wahrgenommen werden kann. Sinn entsteht bei sozialen Systemen durch weitere Kommunikation, die durch Irritationen der Umwelt veranlasst werden. Mithilfe der Programme wird es möglich, die Umwelt im System abzubilden, was eine wesentliche Voraussetzung für weitere Kommunikation ist. Damit die komplexe Umwelt im System abgebildet werden kann, muss die Beobachtung der Umwelt durch die gewählte Beobachtungsdifferenz auf Basis des Systemcodes begrenzt werden.
Durch Interaktion entsteht allmählich ein Quasisystem, das mit einer immer höheren Komplexität immer stärker von sich selbst abhängig wird, wodurch es sich allmählich von der Umwelt differenziert und ein autopoietisches System wird.
Die Komplexität der Umwelt der Systeme ist immer komplexer als die Systeme, weshalb die Systeme eine Vereinfachung der Umwelt vornehmen müssen, um sie intern abzubilden. Durch eine Ausdifferenzierung der Systeme aus der Umwelt erfolgt in den Systemen eine selektive Beobachtung der Umwelt, wodurch die Komplexität verarbeitbar wird.
Systeme entstehen evolutionär. Mit zufälligen Ereignissen werden Situationen der doppelten Kontingenz aufgelöst. Diese Zufälle können in dem System als Störungen wahrgenommen werden, dazu muss es im System Erwartungen in Form von Strukturen geben, die besagen, wie mit diesen umgegangen werden soll. Mit Strukturen werden die Selektionsmöglichkeiten so weit eingeschränkt, dass weitere Selektionen möglich werden. Daher wird mit der Einschränkung der Selektionsmöglichkeiten gleichzeitig die Möglichkeit weiterer Selektionen eröffnet.
Entstehen Widersprüche, ermöglicht dies eine Weiterentwicklung des Systems, da die Strukturen dann angepasst werden und die Reproduktion eine andere Richtung einnimmt.
Im Gegensatz zu Strukturen, die reversibel, weil veränderbar sind, sind Prozesse irreversibel, da sie, wenn sie einmal durchlaufen wurden, nicht mehr verändert werden können.
Die zentrale Problemstellung der Systemtheorie ist nicht Komplexität, sondern Sinn. Sinn entsteht durch die Auflösung der Differenz zwischen Aktualität und Potenzialität. Für die Erzeugung von neuem Sinn muss in der sozialen Dimension Kontingenz reduziert werden. Situationen mit hoher Kontingenz lassen sich auflösen, indem Erfahrungen aus der Vergangenheit herangezogen und rationale Entscheidungen daraus abgeleitet werden. Zudem kann durch ein eher zufallsgesteuertes Trial-and-Error-Verfahren aus unerwarteten Nebenfolgen gelernt werden. Außerdem kann durch Generalisierung eine Einheit hergestellt werden, die den Möglichkeitsraum einschränkt. Die Reduktion von Kontingenz durch Erfahrungen, Zufälle oder durch Vorgaben gibt einen abstrakten Überblick über die Möglichkeiten der gesellschaftlichen Steuerung, die im Kapitel 3 vertieft betrachtet werden.

2.2 Funktionsweise und Interdependenzen gesellschaftlicher Steuerungsformen

Da aus systemtheoretischer Sicht soziale Systeme selbstreferenzielle, autonome Systeme darstellen, die geschlossen und offen zugleich sind, stellt sich die Frage, wie soziale Systeme aufeinander wirken und sich gegenseitig beeinflussen können. Grundsätzlich wird in diesem Kapitel erörtert, welche Steuerungsmöglichkeiten der Gesellschaft bestehen. Dazu wird eine systemtheoretische Governanceperspektive eingenommen. Im ersten Schritt wird die Funktionsweise gesellschaftlicher Steuerungskonzepte aus systemtheoretischer Sicht dargestellt. Im zweiten Schritt können durch die systemtheoretische Perspektive Interdependenzen der gesellschaftlichen Steuerungskonzepte erläutert werden.

2.2.1 Formen der gesellschaftlichen Steuerung

Wie bereits in der Einleitung dargestellt, gibt es keine einheitliche Definition von Governance, sondern es gibt unterschiedliche Auslegungen, was unter Governance zu verstehen ist. Ein wesentlicher Vorteil einer systemtheoretischen Governanceperspektive besteht darin, dass eine geschlossene und konsistente Theorie vorliegt, mit der nicht nur der gegenseitige Einfluss beschrieben werden kann, sondern mit der auch darstellbar wird, wie Systeme operieren. Sie kann damit besser Auskunft geben, wie Systeme bei einer Beeinflussung reagieren, und somit ein vollständigeres Bild von Steuerung generieren.
Zur Beschreibung der gesellschaftlichen Steuerung haben sich mit der Zeit unterschiedliche Ansätze entwickelt. Eine Übersicht zu den drei wesentlichen Steuerungsformen (Tabelle 2.1), die sich herauskristallisiert haben, gibt Willke (2006, S. 60). Üblicherweise werden die Steuerungsformen „Markt“, „Hierarchie“, „Gemeinschaft“ bzw. „Netzwerke“ unterschieden. Zur Beschreibung der Steuerungsformen „Markt“, „Gemeinschaft“ und „Organisation“ verwendet Wiesenthal (2000, S. 45) auch eine „MGO-Begrifflichkeit“.
Tabelle 2.1
Haupt- und weitere Typen der Koordination in verschiedenen Steuerungsmodellen. (In Anlehnung an Willke 2006, S. 60)
Autor
Zwei Hauptformen
Dritte Form
Vierte Form
Dahl und Lindblom (1953)
Hierarchie
Markt
Verhandlung
 
Williamson (1975)
Hierarchie
Markt
  
Williamson (1985)
Hierarchie
Markt
Relationaler Vertrag
 
Lindblom (1977)
Politik (Staat)
Markt
Überredung
 
Ouchi (1980)
Hierarchie
Markt
Klan (Solidarität)
 
Kaufmann (1983)
Hierarchie
Markt
Solidarität
 
Offe und Keane (1984)
Staat
Markt
Solidarität
 
Streeck und Schmitter (1985a)
Staat
Markt
Solidarität (community)
Verbände (associations)
Hegner (1986)
Hierarchie
Markt
Solidarität
 
Traxler und Vobruba (1987)
Zwang
Tausch
Solidarität
 
Scharpf (1993)
Hierarchie
Markt
Verhandlungssysteme
 
Mayntz (1993)
Hierarchie
Markt
Policy-Netzwerke
 
Obwohl die meisten Ansätze der Steuerungsformen besonders durch die Soziologie und Politikwissenschaften entwickelt wurden, legten die Wirtschaftswissenschaften den Grundstein für die gewählten Unterscheidungen. Bereits Smith (1827, S. 184) erkannte mit der unsichtbaren Hand, dass der Markt eine emergente Eigenschaft besitzt. Denn der Markt erzeugt einen großen Nutzen für das Gemeinwohl, obwohl bei den damit verbundenen Handlungen eher individuelle Interessen im Vordergrund stehen. Auch Hayek (1945, S. 519) hat sich mit der Steuerungsfunktion des Marktes auseinandergesetzt. Er sieht in dem Markt eine intelligente Form der Austauschbeziehungen, die mit dem Preissystem als Kommunikationsmedium ein Wissen impliziert, das weit über die Möglichkeiten eines Individuums hinausgeht. Die Unterscheidung zwischen Markt und Organisation wurde besonders durch Überlegungen von Coase (1937) initiiert. Er stellte sich die Frage, warum es überhaupt Organisationen gibt, wenn doch der Markt die effizienteste Koordinationsform ist. Er kam zu der Erkenntnis, dass Organisationen die Aufgabe haben, Transaktionskosten, also die nichtmarktlichen Kosten, die zur Durchführung von marktlichen Transaktionen anfallen, zu reduzieren. Für die Durchführung von Transaktionen ist die Wirtschaft auf Organisationen angewiesen, da Organisationen in der Lage sind, Unsicherheiten zu absorbieren. Diese Erkenntnis veranlasste Williamson, sich intensiver mit dem Unterschied zwischen Markt und Organisation auseinanderzusetzen (Williamson 1975). Er definierte unterschiedliche Eigenschaften von Transaktionen, für die jeweils bestimmte Koordinationsmechanismen besser geeignet sind, um Transaktionskosten zu reduzieren (Williamson 1979). Die Differenzierung zwischen Markt und Hierarchie wurde dann allmählich um eine dritte Variante erweitert. So wurde von Ouchi (1980) beispielsweise die Ergänzung um Clans vorgenommen. Während im deutschsprachigen Raum Streeck und Schmitter (1985b) neben Gemeinschaft, Markt und Staat noch Verbände ergänzten, erhielt die MGO-Begrifflichkeit durch die Etablierung des Netzwerkbegriffs, insbesondere durch Powell (1990), eine neue Ausrichtung.
In dieser Arbeit werden die etablierten Steuerungsformen nicht durch einen Bezug auf die Funktionssysteme systemtheoretisch beschrieben, sondern anhand der Ordnungsformen von Luhmann. Luhmann unterscheidet drei Typen sozialer Systeme: Interaktionen, Organisationen und gesellschaftliche Funktionssysteme (Luhmann 1984, S. 16). Die Steuerungsformen der Governanceperspektive sind mit einer systemtheoretischen Perspektive kompatibel, da die Systemtheorie auch mit unterschiedlichen Ebenen arbeitet und die systemtheoretischen Ordnungsformen „Wirtschaft“, „Organisation“ und „Netzwerke“ unterscheidet. Der Markt als Teil der Wirtschaft wird aus der systemtheoretischen Perspektive des gesellschaftlichen Funktionssystems beschrieben. Hierarchie wird demnach nicht dem Rechtssystem zugeordnet, sondern dem sozialen System der Organisation, die mit Hierarchie arbeitet. Obwohl Organisationen in allen Funktionssystemen vorkommen, wird in dieser Arbeit überwiegend die Organisation als Unternehmen beschrieben, da die Untersuchung stärker auf das Wirtschaftssystem ausgerichtet ist. Demnach wird auf den Ursprung des wissenschaftlichen Diskurses über Koordinationsmechanismen zurückgegriffen, bei dem Unternehmen vom Markt differenziert worden sind. Da als dritte Steuerungsform sowohl Gemeinschaft bzw. Solidarität als auch Netzwerke genannt werden, wird, um eine höhere Kompatibilität mit der Systemtheorie zu erreichen, insbesondere auf Netzwerke Bezug genommen, die stellvertretend für das soziale System „Interaktion“ stehen sollen, wobei sich die systemtheoretischen Ausführungen auf neuere Ansätze der Systemtheorie beziehen.

2.2.2 Markt als gesellschaftliche Steuerungsform des Wirtschaftssystems

Für eine systemtheoretische Beschreibung der Steuerungsform des Marktes wird der Blick auf die systemtheoretische Ebene der gesellschaftlichen Funktionssysteme gelegt. Neben den Funktionssystemen von Politik, Religion, Erziehung, Recht hat sich auch das Funktionssystem der Wirtschaft aus der Gesellschaft ausdifferenziert. Der Markt ist Teil des Funktionssystems der Wirtschaft, weshalb die Operationsweise des Wirtschaftssystems tiefergehend betrachtet wird. Neben der allgemeinen Beschreibung der Wirtschaft als gesellschaftliches Funktionssystem werden darüber hinaus Innovationsnetzwerke, die die Realwirtschaft repräsentieren, und das Bankennetzwerk, das die Finanzwirtschaft beschreibt, als zwei neuere Weiterentwicklungen der Systemtheorie dargestellt und eine Verbindung zwischen beiden hergestellt.
Die wirtschaftswissenschaftliche Perspektive und die systemtheoretische Perspektive auf die Wirtschaft ermöglichen unterschiedliche Beobachtungen auf denselben Gegenstand. Während die Mikroökonomik, die aus den Ideen von Adam Smith (1827) hervorgegangen ist, einzelne Sachverhalte der Wirtschaft auf Basis von handelnden Akteuren zu beobachten versucht, hat die Systemtheorie eine andere Herangehensweise. Luhmann bezeichnete die neoliberalistische Schlussfolgerung, dass bei einem Tauschhandel für beide Akteure individuell ein Vorteil entsteht (da sonst kein Tausch zustande käme) und somit gleichzeitig auch für alle, also die Gesellschaft insgesamt, Vorteile generiert werden, als einen Trugschluss (Luhmann 1988, S. 255). Nach Willke (1993, S. 197) ist der Markt kein Steuerungsakteur. Wegen der operativen Geschlossenheit der Kommunikation stellt der Markt zwar ein Subjekt mit einer Identität dar, allerdings ist er kein Akteur, dem Handlungen zuzuordnen sind. Der Markt ist als Subjekt daher nicht handlungsfähig, aber steuerungsfähig.
Klassische Ökonomen sehen die Funktion der Wirtschaft in der Befriedigung von Bedürfnissen durch Produktion und Konsum. Wenn jedoch im Rahmen einer anderen Beobachtungslogik von den Menschen abstrahiert wird, wird deutlich, dass die Wirtschaft durch Zahlungen und Nichtzahlungen beschrieben werden kann (Willke 2007, S. 140).
Wie bereits in Abschnitt 1.​3 dargestellt, ist die Systemtheorie eine Theorie, die den Akteur bewusst ausschließt, um alle anderen Zusammenhänge zu erkennen. Die Grundannahme basiert darauf, dass die Wirtschaft ein emergentes System darstellt, das ganz andere Eigenschaften aufweist als die Summe seiner Teile, sodass sich daher mit der Beobachtung des Ganzen ganz andere Erkenntnisse ergeben als mit der Betrachtung von Einzelphänomenen. Wie in Abschnitt 2.1 beschrieben, werden in der Systemtheorie nicht Einheiten beobachtet, aus denen die Wirtschaft besteht, sondern es werden Differenzen identifiziert, mit der die Wirtschaft in der Lage ist, Beobachtungen durchzuführen.
Darüber hinaus gibt es unterschiedliche makroökonomische Ansätze, die versuchen, die Wirtschaft als Ganzes zu beschreiben. Ein wesentlicher Unterschied der systemtheoretischen Perspektive auf die Wirtschaft im Vergleich zu den klassischen Wirtschaftswissenschaften besteht darin, dass die Wirtschaft als ein nichttriviales System betrachtet wird. Die Wirtschaftswissenschaften versuchen meist, die Wirtschaft als triviales System zu beschreiben. Von dem Tableau économique von François Quesnay (1758), der erstmals die Wirtschaft als Kreislauf beschrieb, bis hin zur Weiterentwicklung durch Wassily Leontiefs (1986) Input-Output-Analyse, die bis heute die Basis für den internationalen Standard der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (European Commission et al. 2009) bildet, wird in Modellen ein vereinfachtes Abbild der Realität angenommen. Mit allgemeinen Gleichgewichtsmodellen wird versucht, die Volkswirtschaft als Ganzes abzubilden, um Erkenntnisse zu wirtschaftlichen Größen wie Produktion, Konsum, Preis, Arbeitslosigkeit oder Inflation zu erhalten. Mit dem Walrasianischen Gleichgewichtsmodell, das auf den Erkenntnissen der klassischen Nationalökonomen Adam Smith und David Ricardo basiert, unternahm der neoklassische Ökonom Walras (1874) den Versuch, die wirtschaftlichen Zusammenhänge mathematisch zu beschreiben. Dieses Modell wurde von Arrow und Debreu (1954) zum Arrow-Debreu-Gleichgewichtsmodell weiterentwickelt, das eine Marktwirtschaft mit unterschiedlichen Produzenten, Konsumenten und Gütern beschreibt, in der auch Privateigentum existiert. Heute gibt es die computerbasierten Ansätze wie die Computable-general equilibrium-Modelle (Taylor und Black 1974), welche die Applied-general-equilibrium-Modelle (Scarf und Hansen 1973) seit den 1980er Jahren abgelöst haben. Allen Modellen ist gemeinsam, dass sie mit einem mathematischen Modell durch eine Veränderung von Eingangsvariablen ein eindeutiges Ergebnis erzielen, weshalb sie von einem trivialen System ausgehen. Einer der prominentesten Kritiker gegenüber der neoklassischen Perspektive einer statischen Wirtschaft im Gleichgewicht war John Maynard Keynes, der sie für realitätsfern hält, da die Wirtschaft nie einen statischen Zustand erreicht und mit den bisherigen Theorien keine Krisen erklärt werden konnten (Keynes 1923, S. 80). Keynes (2002) versuchte, die wirtschaftlichen Zusammenhänge in einer veränderten Form, aber weiterhin durch mathematische Gleichungen zu beschreiben. Auch hier wird die Wirtschaft als ein triviales System angenommen, das einen kausalen Zusammenhang aufweist, bei dem durch bestimmte Eingangsparameter bestimmte Ausgangsgrößen erzielt werden. Darüber hinaus wurden Modelle entwickelt, die nicht nur eine Erklärung für konjunkturelle Änderungen der Wirtschaft geben möchten, sondern auch Einflussfaktoren für ein langfristiges Wachstum der Wirtschaft suchen. Diese Wachstumstheorien sind besonders nach dem Zweiten Weltkrieg in den Fokus der Wirtschaftswissenschaften gerückt. Eine entwarfen die Postkeynesianer Harrod (1939) und Domar (1946). Ihnen zufolge entsteht Wirtschaftswachstum besonders durch neue Investitionen. Demgegenüber entwickelten sich mit Solow (1956) neoklassische Wachstumstheorien, die davon ausgehen, dass Wachstum besonders durch den technischen Fortschritt erklärt werden kann. Da der entscheidende Einflussfaktor außerhalb des Modells liegt, werden diese Theorien auch als exogene Wachstumstheorien bezeichnet. Ähnlich zur „invisible hand“ (Smith 1827, S. 349), die die Selbststeuerung einer statischen Wirtschaft beschreibt, wurden auch Wachstumstheorien entwickelt, die das Wachstum einer Wirtschaft nicht auf äußere Faktoren zurückführen, sondern darauf, dass die Wirtschaft aus sich selbst heraus wächst. Eine der ersten endogenen Wachstumstheorien stammt von Romer (1990), der auch den technischen Fortschritt als wesentlicher Einflussfaktor annahm, wobei dieser sich durch Forschung und Entwicklung aus dem Modell selbst ergibt. Die Idee, dass Wirtschaftswachstum aus sich selbst heraus entsteht, geht auf die Ideen von Schumpeter (2006) zurück. Im Gegensatz zu den endogenen Wachstumstheorien sah er jedoch nicht nur die positiven Seiten der Innovationen, sondern beschrieb mit dem Prozess der „Creative Destruction“ (Schumpeter 1994, S. 83) auch die negativen Folgen, die damit verbunden sind. Da dieser Blick auf die Wirtschaft einem systemtheoretischen Verständnis der Wirtschaft als selbstreferenzielles System sehr nahekommt, wird in diesem Kapitel noch tiefergehend darauf Bezug genommen. Grundsätzlich handelt es sich jedoch bei den Wachstumsmodellen auch um mathematische Modelle, die von einem trivialen System der Wirtschaft ausgehen. Mit dem Versuch, die Eingangsvariablen zu identifizieren, mit denen Wirtschaftswachstum beeinflusst werden kann, liegt ein technisches Verständnis von Steuerung vor, das in Kausalketten denkt und eher der Kybernetik zuzuordnen ist.
Die Ökonometrie, deren moderne Ansätze auf Henry L. Moore (1911) zurückgehen, hat sich zu einem Standard für den empirischen Nachweis von ökonomischen Zusammenhängen entwickelt (Epstein 1987). Aus systemtheoretischer Sicht ist, ähnlich wie aus der kritischen Sicht der österreichischen Schule (Hayek und Hoppmann 1972), fraglich, ob statistische Methoden für zukünftige Prognosen geeignet sind. Denn die Möglichkeit, dass aus historischen Werten eine Ableitung auf zukünftige Phänomene der Wirtschaft möglich ist, basiert auf der Annahme, dass die Wirtschaft ein triviales System ist. Die Annahme, dass die aus den historischen Daten abgeleiteten Erkenntnisse auch in Zukunft gelten, vernachlässigt, dass die Zusammenhänge in Zukunft auch ganz anders sein könnten.
Diese genannten Beobachtungsperspektiven auf die Wirtschaft sollten nicht kritisiert werden. Jede Einzelne hat ihre Berechtigung, da jede Beobachtung durch einen bestimmten Ausschluss der Wirklichkeit etwas anderes sichtbar macht. In dieser Arbeit wird aber eine systemtheoretische Perspektive auf die Wirtschaft eingenommen, da sie nicht von einem trivialen System der Wirtschaft ausgeht, sondern von einem nicht-trivialen selbstreferenziellen System, das der eigentlichen Komplexität der Wirtschaft eher gerecht werden soll. Mit der systemtheoretischen Betrachtung der Wirtschaft wird eine andere Perspektive gegenüber dem Markt eingenommen, wohl wissend, dass diese Beobachtung nur durch den Ausschluss von bestimmten Bereichen der Realität möglich ist, weshalb auch sie unvollständig ist. Nach einer allgemeinen Beschreibung der Wirtschaft werden die Real- und die Finanzwirtschaft differenziert dargestellt. Im Anschluss daran werden Zusammenhänge zwischen beiden Subsystemen der Wirtschaft expliziert.
Die Wirtschaft kann als autopoietisches System beschrieben werden, da es mit der Einführung von Geld einen eindeutigen binären Code verwendet, der eine konsequente Orientierung an den eignen Operationen ermöglicht. Mit Hilfe des Kommunikationsmediums Geld wird das Wirtschaftssystem gesellschaftlich ausdifferenziert (Luhmann 1988, S. 249).
Die Funktion der Wirtschaft besteht in der Auflösung des Knappheitsparadoxes. Die Paradoxie besteht darin, dass auf der kugelförmigen Erde im Grunde alles knapp ist und die Reduktion einer Knappheit nur mit einer Erhöhung einer anderen Knappheit einhergehen kann (Luhmann 1988, S. 177 ff.). Nach Luhmann besteht die Funktion der Wirtschaft nicht in der Befriedigung von Bedürfnissen, sondern darin, dass die Knappheiten so verteilt werden, dass das Wirtschaftssystem dauerhaft funktioniert und sich selbst erhält, indem ein Mechanismus die „zukunftsstabile Vorsorge [mit den] gegenwärtigen Verteilungen verknüpft“ (Luhmann 1988, S. 64). Es muss daher sowohl eine Zeitdimension als auch eine Sozialdimension betrachtet werden. Dies kommt dem Prinzip der Nachhaltigkeit von inter- und intragenerationaler Gerechtigkeit (United Nations 1987) sehr nahe. Die gleichzeitige Verteilung von Gütern bei gleichzeitiger Sicherstellung zukünftiger Versorgung wird in der Wirtschaft durch Autopoiesis, die ihre Geschlossenheit nur durch Offenheit erzielt, erreicht. Die selbstreferenzielle Geschlossenheit entsteht im Wirtschaftssystem durch Operationen mit dem wirtschaftlichen Code. Zur Verschleierung des Knappheitsparadoxes haben sich zwei Codierungen im Wirtschaftssystem gebildet, mit denen die Paradoxie in eine Differenz überführt wird.
Mit Eigentum und der Unterscheidung von „Haben“ und „Nicht-Haben“ wird bestimmt, was knapp ist und was nicht knapp ist. Mit Geld wird zusätzlich die Knappheit codiert. Demnach wird, nachdem die Knappheit durch Eigentum bestimmt worden ist, mithilfe der Quantifizierbarkeit des Geldes eine weitere Unterscheidung innerhalb dieser Knappheit vorgenommen, aus der hervorgeht, wie stark die Knappheit ist (Luhmann 1988, S. 198). Das Wirtschaftssystem hat sich mit Geld ausdifferenziert und arbeitet mit der Unterscheidung von Zahlungsfähigkeit und Zahlungsunfähigkeit (Luhmann 1988, S. 134 ff.). Die Geschlossenheit des Wirtschaftssystems aufgrund der Autopoiesis ist nur durch Offenheit möglich. Für die langfristige Aufrechterhaltung der Autopoiesis ist es entscheidend, wie das System die Umwelt wahrnimmt.
Es ist eine interne und eine externe Umwelt zu unterscheiden. Die interne Umwelt der Gesellschaft enthält alle anderen sozialen Systeme der Gesellschaft, die mit Kommunikation arbeiten. Die externe Umwelt bezieht sich auf alles, was außerhalb der Gesellschaft liegt, z. B. Ökologie und psychische Systeme (Luhmann 1988, S. 36).
Eine Beobachtung der Umwelt durch ein Reenty der Differenz von System und Umwelt in das System wird im Wirtschaftssystem durch den Markt und Preise möglich. Der Markt ist die wirtschaftsinterne Umwelt des Wirtschaftssystems (Luhmann 1988, S. 94, 106). Er stellt für jedes Unternehmen die Wirtschaft als Ganzes ohne das Unternehmen selbst dar. Anhand der Preise kann beobachtet werden, wie die anderen Unternehmen beobachten (Luhmann 1988, S. 127 f.). Da sich die Konkurrenz am Markt orientiert, der das Unternehmen einschließt, kann sich das Unternehmen über den Markt aber auch selbstbeobachten (Luhmann 1988, S. 74). Der Markt kann die Umwelt nur berücksichtigen, wenn sie in die Wirtschaftslogik übersetzt wird. Das System muss sich selbst irritieren können, da die Autopoiesis sonst aufhören würde (Luhmann 1988, S. 113). Die Veränderung der Preise macht dies möglich, denn sie zeigen den Stellenwert innerhalb des Wirtschaftssystems an (Luhmann 1988, S. 118 ff.). Mithilfe der Preise wird es möglich, dass sich das Wirtschaftssystem selbst beobachtet. Preise reduzieren die Komplexität der Umwelt, wobei jedoch viele Informationen nicht berücksichtigt werden und die reine Orientierung an Preisen nie völlig rational sein kann (Luhmann 1988, S. 31 ff.). Die Umwelt kann im Wirtschaftssystem nur berücksichtigt werden, wenn sie in den Wirtschaftscode übersetzt wird (Luhmann 1988, S. 114). Die Gesellschaft kann nur innerhalb von Programmen für den Code relevant werden (Luhmann 1988, S. 251).
Entscheidungsprogramme definieren, welcher Code verwendet wird. Dabei entscheiden Programme, was Zahlungsfähigkeit und was Zahlungsunfähigkeit erzeugt (Luhmann 1988, S. 224 ff.). Präferenzen bilden ein Programm mit externem Bezug, und Liquidität ist ein systeminternes Programm (Luhmann 1988, S. 250).
Rentabilitäten, die durch Programme definiert werden, bestimmen über die Verteilung von Knappheit. Durch den Fokus auf Rentabilität ist der wirtschaftliche Austauschprozess nicht mehr auf Reziprozität angewiesen. Das System reguliert durch Selbststeuerung, wer was verdient hat. Es müssen nicht alle zustimmen, dass ein Unternehmer Geld bekommt, sondern die zusätzliche Zahlungsfähigkeit, die er durch seine Zahlung erhält, entsteht aus dem System. Dadurch verliert die soziale Stellung an Bedeutung (Luhmann 1988, S. 58).
Außer im Rahmen der unten genannten Beschreibung des Geldmarktes (Luhmann 1988, S. 115 ff.) hat sich Luhmann sehr wenig zur Finanzwirtschaft geäußert. Er hat sich nicht tiefergehend mit einzelnen Märkten oder Teilsystemen des Wirtschaftssystems auseinandergesetzt. Mit Bezug auf die Arbeit von Baecker (2008) zur Funktionsweise von Banken wird eine systemtheoretische Beschreibung des Kapitalmarktes erarbeitet, um Realwirtschaft und Finanzwirtschaft gegenüberzustellen und deren Interaktion beschreiben zu können.
Zur Darstellung des Finanzsystems hat sich Luhmann auf den Geldmarkt bezogen. Unterschiedliche Märkte entstehen durch unterschiedliche Perspektiven auf die Wirtschaft. Der Geldmarkt stellt einen besonderen Markt dar, da er als Eigenmarkt der Wirtschaft selbstreferenziell ist und sich dadurch eigendynamisch entwickelt. Da sich der Geldmarkt auf nichts Weiteres bezieht, erzeugt er eine hohe Kontingenz, die zu einer kurzfristigen Perspektive führt. Banken geben jedoch einen Orientierungspunkt, indem sie durch hierarchische Struktur limitierend agieren. Die Struktur geht über die Differenz zwischen Banken und Kunden hinaus, denn mit dem zweistufigen Bankensystem und der zusätzlichen Unterscheidung von Zentralbanken und Geschäftsbanken entsteht eine höhere Stabilität (Luhmann 1988, S. 117 ff.).
Mit der Dreiteilung in Zentralbanken, Geschäftsbanken und deren Kunden wird es möglich, die Selbstreferenz aufzulösen. Mit dem Bankensystem wird ein Bezug des Wirtschaftssystems zu Organisationen hergestellt. Sie ermöglichen sowohl die Zentralisierung von Geld als auch dezentrale Entscheidungen in Organisationen (Luhmann 1988, S. 146).
Der Geldmarkt hat eine besondere Bedeutung, da er in alle anderen Märkte wirkt. Da alle Märkte von ihm abhängig sind, repräsentiert der Geldmarkt das System im System. Die Funktion des Geldmarktes besteht darin, Zeitdifferenzen zu überbrücken und unterschiedliche Systemzeiten zu synchronisieren. Geld dient daher als Puffer von Einzelereignissen. Mithilfe von Geld wird es möglich, die Differenz zwischen Einnahmen und Ausgaben zu überbrücken (Luhmann 1988, S. 118,147,253).
Auch aus systemtheoretischer Sicht zeichnet sich ein kapitalistisches Wirtschaftssystem dadurch aus, dass Investitionsentscheidungen auf Basis von Rentabilitäten getroffen werden. Diese entstehen, indem durch Zahlungen Zahlungsfähigkeit hergestellt wird. Da zwischen dem Erwerb von Produktionsfaktoren und der Veräußerung von hergestellten Gütern und Dienstleistungen eine zeitliche Diskrepanz entsteht, müssen die Lücke der Zahlungen, also die Ausgaben, und die Einnahmen, also die Wiederherstellung der Zahlungsfähigkeit, mithilfe des Geldmarktes überbrückt werden. Investitionsentscheidungen auf Basis von Rentabilitäten legen der Entscheidung diese Differenz zugrunde (Luhmann 1986, S. 109).
Baecker (2008) knüpft an die Überlegungen von Luhmann an und beschreibt konkretisierend die Rolle von Banken aus systemtheoretischer Perspektive. Im Gegensatz zu der losen Kopplung des Mediums „Geld“ im Funktionssystem „Wirtschaft“ sind Banken Organisationen, die durch eine feste Kopplung Form erzeugen. Banken handeln mit Zahlungsversprechen. Banken sorgen für eine zeitliche Steuerung der wirtschaftlichen Operationen (Baecker 2008, S. 55 ff.).
Das klassische Risiko der Banken besteht in einem Ausfall der Zahlungsversprechen. Mit dem Übergang zu einem internationalen Bankensystem entsteht jedoch das größte Risiko einer Bank durch eine Abstufung der Bonität. Risiko wird in den Wirtschaftswissenschaften entweder einer Entscheidung oder der Umwelt zugeordnet, aber es wird nicht beides zusammen betrachtet. Luhmann unterscheidet Gefahr und Risiko, wobei die Gefahr aus der Umwelt und das Risiko aus Entscheidungen entstehen. Risiko ist selbstreferenziell und geht aus einer Rückkopplung von Wirtschaft und Banken hervor, da das Risiko aus Entscheidungen entsteht, die selbst wiederum Risiko bei ihrer Entscheidung berücksichtigen müssen. Für Banken ist es im Grunde nicht relevant, wie hoch Risiken sind, da Sie entsprechend reagieren können. Entscheidend für den Handel mit Zahlungsversprechen ist eher, ob Risiken überhaupt identifiziert werden. Die Herausforderung besteht somit in der Identifizierung von Risiko, wobei Unternehmen als Blackbox gegenüberstehen und diese aufgrund ihrer Komplexität nie vollkommen verstanden werden können. Es besteht daher eine Situation doppelter Kontingenz, die nur durch riskante Kommunikation aufgelöst werden kann. Banken beobachten, wie Unternehmen beobachten, und erzeugen daraus Erwartungen hinsichtlich der Zahlungsfähigkeit. Banken versuchen, sowohl Zahlungen als auch Entscheidungen und Zahlungsversprechen aufrechtzuerhalten (Baecker 2008, S. 108 ff.). Sind die Risiken identifiziert, werden sie in einem dreiteiligen Netzwerk aus Risikostrukturen, Risikomanagement und Risikoinstrumenten verarbeitet, um die Zahlungen, Entscheidungen und Zahlungsversprechen aufrechtzuerhalten (Baecker 2008, S. 177 ff.).
Die gegenseitige Risikoerwartung hinsichtlich der Aufrechterhaltung der Autopoiesis von Zahlungen, Entscheidungen und Zahlungsversprechen durch die Marktbeobachtung bezeichnet Becker als Risikostrukturen. Das Risikomanagement innerhalb von Banken gibt den Banken vor, welches Risiko sie eingehen können, und mit den Risikoinstrumenten werden die Risiken verteilt (Baecker 2008, S. 136 ff.).
Das Problem der Knappheit besteht nicht darin, dass knappe Güter heute so verteilt werden, dass jeder Güter erhält, sondern das größte Risiko der Wirtschaft besteht darin, dass zukünftig keine Konsum- oder Produktionsmöglichkeiten mehr bestehen. Das größte Risiko der Wirtschaft wird daher nur durch eine zeitliche Dimension ersichtlich. Indem das Wirtschaftssystem das Risiko, dass zukünftig nicht produziert oder konsumiert werden kann, auf das geldbasierte Risiko überträgt, dass möglicherweise in Zukunft keine Zahlungsfähigkeit mehr besteht, erbringt die Wirtschaft eine wichtige soziale Funktion. Erst durch die Reduktion des Knappheitsproblems auf Geld wird es möglich, das Netzwerk der Risikoverarbeitung anzuschließen und das Problem der Wirtschaft von fehlenden Konsum- oder Produktionsmöglichkeiten, welches sich in der sozialen und sachlichen Dimension befindet, durch eine zeitliche Dimension zu lösen. Eine dauerhafte Bedürfnisbefriedigung kann und soll nicht erfolgen, denn jede heutige Bedürfnisbefriedigung erzeugt das Risiko, dass morgen keine Zahlungsfähigkeit mehr besteht, um die im Zeitverlauf erneut entstandenen Bedürfnisse zu befriedigen. Dadurch entstehen wieder Probleme in der sachlichen und der sozialen Dimension der Wirtschaft. Das Paradox der Wirtschaft besteht darin, dass das Problem der Knappheit in der sachlichen und sozialen Dimension durch die zeitliche Dimension zu einer Reproduktion der Probleme in der sachlichen und sozialen Dimension führt. Damit bleibt die Wirtschaft funktionsfähig. Das Problem der sozial gerechten Verteilung wird quasi in die Zukunft verschoben, wodurch in der Zukunft neue soziale Probleme entstehen, die in die Zukunft verschoben werden können. Eine wichtige soziale Funktion der Wirtschaft besteht also darin, soziale Probleme in die Zukunft zu verschieben. Die riskante Kommunikation macht es möglich, unterschiedliche Zeithorizonte (Unternehmen langfristig – Banken mittelfristig – Börsen kurzfristig) miteinander zu vereinen. So werden Sach- und Sozialprobleme mithilfe von Zeit gelöst. Aufgrund der Zahlungsversprechen wird die Kontingenz der Zahlungen reduziert. Da das Finanzsystem die Differenz zwischen Zahlungsmöglichkeit und Zahlungsfähigkeit auflöst, ermöglicht es die Anschlussfähigkeit von Zahlungen. Es kann daher auch als ein autopoietisches System betrachtet werden, das mit Zahlungsfähigkeit operiert (Baecker 2008, S. 180 ff.).
Luhmann (2000) hat sich überwiegend mit Unternehmen auseinandergesetzt, während er sich mit Organisationen befasste, was in Abschnitt 2.2.3 noch detaillierter betrachtet wird. Er hat allerdings keine tiefergehende Analyse der Rolle von Unternehmen innerhalb des Wirtschaftssystems durchgeführt. In Anlehnung an Röpke (2002) folgt eine differenziertere Betrachtung, mit der die Funktionsweise von Unternehmen in Innovationsnetzwerken erläutert wird. Damit wird eine systemtheoretische Beschreibung der Realwirtschaft erarbeitet, um die Interaktion mit der Finanzwirtschaft beschreiben zu können. Die systemtheoretischen Erklärungen von Röpke (2002) orientieren sich an der Theorie von Schumpeter (2006) zur wirtschaftlichen Entwicklung, da den Argumentationen von Schumpeter (2006) und Luhmann (1988) eine ähnliche Logik zugrunde liegt. Für Unternehmenssysteme ist es wichtig, dass sie es schaffen, die Zahlungsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Dies ist für sie nur möglich, wenn sie bei Kunden eine Zahlungsbereitschaft erzeugen können.
Das Wirtschaftssystem hat nicht die Aufgabe der Bedürfnisbefriedigung, sondern der Bereitstellung der Möglichkeit, die Bedürfnisse auch in Zukunft zu befriedigen (Röpke 2002, S. 69 f.). Röpke (2002, S. 59 ff.) unterscheidet vier Verfahren, wie die Zukunftsfähigkeit der Wirtschaft sichergestellt und das Knappheitsproblem der Zeit überwunden werden kann. Er differenziert Routine-, Abitrage-, Innovations- und Evolutionsunternehmersysteme, die jeweils ein funktionales Teilsystem des Wirtschaftssystems bilden und unterschiedliche Funktionen erfüllen. Die unterschiedlichen Systeme sind aufeinander angewiesen und können sich von Routine über Abitrage und Innovation zu Evolutionsunternehmersystemen entwickeln et vice versa.
Das Routineunternehmersystem sorgt für eine effiziente Ressourcenallokation. Das System erhält sich selbst durch Autopoiesis mit Produktion und Konsum und bildet die Basis der Wirtschaft (Röpke 2002, S. 59 ff.). Ein Outputwachstum kann nur erzeugt werden, indem der Input erhöht wird (Röpke 2002, S. 216).
Das Arbitrageunternehmersystem identifiziert Bewertungsunterschiede und löst diese auf. Dies sorgt dafür, dass die Ungleichgewichte des Marktes wieder in Gleichgewicht kommen (Röpke 2002, S. 73). Sobald dies geschehen ist, verschwinden sie wieder, weshalb sie keine autopoietischen Systeme sind (Röpke 2002, S. 206).
Das Innovationsunternehmersystem setzt Neukombinationen durch. Röpke differenziert dieses System noch weiter in die Finanzunternehmersysteme, die Finanzkapital zur Verfügung stellen, und die realen Unternehmersysteme, die mithilfe des Finanzkapitals Produkte und Dienstleistungen bereitstellen (Röpke 2002, S. 208). Sie reproduzieren sich durch innovationsbezogene Zahlungen in einem Netzwerk von Unternehmersystemen. Für die Durchsetzung von Neukombinationen werden Kompetenz und Kaufkraft benötigt (Röpke 2002, S. 213 ff.).
Das Evolutionsunternehmersystem erzeugt Reflexion und sorgt für die Weiterentwicklung der Fähigkeiten (Röpke 2002, S. 59 ff.). Die Weiterentwicklung der Kompetenz innerhalb des Wirtschaftssystems ist notwendig, da sonst auch die Innovationssysteme an ihre Grenzen kämen. Jedes Unternehmersystem kann zu einem Evolutionsunternehmersystem werden, wenn es neue Kompetenzen aufbaut oder sich zu einem anderen Unternehmersystem wandelt (Röpke 2002, S. 87 ff.).
Dies kann mittels struktureller Kopplung mit anderen Systemen, die sich ko-evolutiv entwickeln, bewirkt werden. Fähigkeiten reproduzieren sich autopoietisch (Röpke 2002, S. 251 ff.). Die Systeme entwickeln sich selbst zu einem anderen Unternehmersystem aufgrund der Notwendigkeit eines evolutionären Wandels (Röpke 2002, S. 198). Innovationen haben sowohl positive als auch negative Folgen. Welche Seite dominiert, kann nie im Vorfeld gesagt werden. Für die Durchsetzung von Innovationen müssen die positiven Seiten überbetont werden (Luhmann 2000, S. 333 f.).
Nach Schumpeter erzeugt der Unternehmer eine Scheinsicherheit, dass die positiven Aspekte überwiegen, da er in seiner Persönlichkeit die Energie hat, gegen Widerstände vorzugehen und andere zu Veränderungen zu motivieren (Schumpeter 2006, S. 131).
Da in vorliegender Arbeit vom Unternehmer als Subjekt abstrahiert wird, wird eine alternative Erklärung für den Aufbau von Scheinsicherheit gesucht, mit der ein Unternehmersystem Vertrauen in Innovationen aufbauen kann. Wie im folgenden Abschnitt dargestellt, kann eine Scheinsicherheit für den Erfolg von Innovationen auch durch eine Fremdreferenz erzeugt werden.
Die Zahlungsfähigkeit kann durch strukturelle Kopplung mit anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen wie dem Rechtssystem (z. B. durch Patente) aufrechterhalten werden. Durch gegenseitige Irritation kann ein koevolutionärer Prozess entstehen (Röpke 2002, S. 226 ff.).
Die Bezugnahme auf eine abstraktere Ebene, die sich mit zunehmender Abstraktionsebene weniger dynamisch entwickelt, sorgt für scheinbar stabile Erwartungen. So können Innovation deswegen erfolgreich sein, da sie im Einklang mit Innovationen eines Konjunkturzyklus nach Juglar (1862) oder den Basisinnovationen eines Kondratjew-Zyklus (Kondratjew 1926) stehen. Während Schumpeter und Kondratjew wirtschaftliche Entwicklung aus Innovationen erklären, geht der technoökonomische Paradigmenwechsel noch darüber hinaus und betrachtet auch die gesellschaftlichen Auswirkungen (Perez 2010). Der technoökonomische Paradigmenwechsel (Freeman und Perez 2000) beschreibt, wie technoökonomische Kräfte zu einer Veränderung der sozioinstitutionellen Rahmenbedingungen führen. Perez (2002) gibt eine Übersicht, wie Basisinnovationen nicht nur mit einer wirtschaftlichen Entwicklung, sondern auch mit institutionellem und gesellschaftlichem Wandel zusammenhängen. Während die Theorie des technoökonomischen Paradigmenwechsels (Freeman und Perez 2000) mit dem Fokus auf langfristige Wirtschaftszyklen eine eher abstraktere Perspektive einnimmt, fokussiert sich die Multi-Level-Perspektive (MLP) besonders auf konkrete technologische Systeme. Ein wesentlicher Unterschied zwischen diesen Theorien besteht darin, dass sie nicht nur beschreiben, wie Innovationen eine abstraktere Ebene beeinflussen, sondern auch, wie sie durch eine abstraktere Ebene beeinflusst werden. Geels (2002) verknüpft die Ansätze des technologischen Regimes (Nelson und Winter 1982, S. 258) und der Neukombinationen (Schumpeter 2006, S. 158) aus der evolutorischen Ökonomik und beschreibt, wie unterschiedliche Ebenen an soziotechnologischen Veränderungen beteiligt sind.
Die Erwartungsstrukturen sorgen für Stabilität, wodurch die Paradoxie einer Innovation mit unbekannten Folgen überhaupt erst aufgelöst werden kann und eine Entscheidung für eine Innovation aus dem Möglichkeitsraum aller möglichen Innovationen getroffen werden kann. Auch diese Erwartungsstrukturen generieren eine Scheinsicherheit, da Innovationen selbst die höheren Abstraktionsebenen beeinflussen können. Auch im Fall von Innovationen wird also die Paradoxie durch eine Differenz zwischen loseren Elementen und festeren Elementen, die sich auf einer anderen Ebene befinden, aufgelöst.
Um zu einem Gesamtbild der Interaktion zwischen Realwirtschaft und Finanzwirtschaft zu kommen, wird die finanzwirtschaftliche Relevanz für die wirtschaftliche Entwicklung mit Schumpeter detaillierter (2006) beschrieben, um auf der Grundlage die beiden theoretischen Erweiterungen der Systemtheorie von Becker und Röpke miteinander verknüpfen zu können.
Es gibt eine lange Debatte über die Zusammenhänge der Finanzwirtschaft und der Realwirtschaft. Aus einer klassischen (Mill 2004) und neoklassischen Perspektive (Fisher und Brown 1911; Friedman und Schwartz 1971; Kydland und Prescott 1982) ist von der Neutralität des Geldes auszugehen, da die Geldmenge keinen Einfluss auf die Realwirtschaft hat. Die Systemtheorie folgt eher dem Verständnis des Keynesianismus (Keynes 1923, S. 80), dem zufolge die Finanzwirtschaft Einfluss auf die Realwirtschaft ausübt.
In der Systemtheorie wird davon ausgegangen, dass zwischen der Realwirtschaft und der Finanzwirtschaft eine strukturelle Kopplung besteht (Willke 2007, S. 149 f.). Während für die Realwirtschaft Selbstreferenz durch Zahlungen entsteht, die sich auf den Handel mit Gütern beziehen, wird in der Finanzwirtschaft Selbstreferenz durch Investments hergestellt, die durch die erzielbaren Renditen induziert werden (Willke 2007, S. 131 f.). Ob eine Kommunikation mittels des Mediums „Geld“ eher dem Wirtschaftssystem oder dem Finanzsystem zugewiesen werden kann, hängt von der jeweiligen Perspektive und den verschiedenen Akteuren, die daran beteiligt sind, ab (Willke 2007, S. 150). Im Wesentlichen ist für die Entstehung einer Entwicklung der Realwirtschaft, gemessen am Wirtschaftswachstum, eine Geldschöpfung durch die Finanzwirtschaft notwendig, mit der Innovationen finanziert werden.
Für eine Entwicklung der Wirtschaft, die auf Innovationen basiert, müssen Produktionsfaktoren neu kombiniert werden (Schumpeter 2006, S. 62). Für eine Neukombination müssen die Produktionsfaktoren aus dem Kreislauf der statischen Wirtschaft herausgelöst werden. Mithilfe von Geld kann das Unternehmersystem auf Güter zugreifen, ohne dass Kooperationen eingegangen oder Besitzer um Erlaubnis gebeten werden müssen. In einer geldbasierten Marktwirtschaft ersetzt Geld Macht und physische Gewalt, die in anders organisierten Wirtschaftssystemen die Güterverwendung bestimmen (Schumpeter 2006, S. 187 ff.).
Für den Erwerb der Güter ist Kaufkraft notwendig, die der Fähigkeit zum Kauf entspricht. Die Kaufkraft bezeichnet eine bestimmte Macht, mit der auf Güter zugegriffen werden kann und die somit eine Rekombination ermöglicht (Schumpeter 2006, S. 83 f.). Mit Kapital erhält der Unternehmer einen Fond an Kaufkraft, sodass dem statischen Kreislauf Produktionsgüter entzogen werden können (Schumpeter 2006, S. 231 ff.).
Auch Binswanger (2013, S. 116) erläutert, dass ein Wirtschaftskreislauf, in dem Geld zwischen Unternehmen und Haushalten zirkuliert, nicht ausreicht, um eine wachsende Wirtschaft zu beschreiben, da sich die Einnahmen und Ausgaben in der Summe ausgleichen würden und somit auch kein Gewinn entstehen kann. Für die Entstehung von Gewinnen muss zusätzliches Geld in das System eingeführt werden. Dies erfolgt mit einer Giralgeldschöpfung des Bankensystems. Klassischerweise wird davon ausgegangen, dass Investitionen nur möglich sind, wenn vorher gespart wurde (Hicks 1937).
Aus einer mikroökonomischen Perspektive stimmt es zwar, dass Sparen Investitionen überhaupt erst ermöglicht, allerdings kann damit nicht auf einen makroökonomischen Gesamtzusammenhang geschlossen werden. Denn auch systemtheoretisch ist das Wirtschaftssystem ein emergentes System.
Stützel (2011, S. 22 f.) unterscheidet in der Beschreibung der volkswirtschaftlichen Saldenmechanik zwischen Partialsätzen, die nur für die Betrachtung einer Gruppe der Wirtschaft gültig sind, und Globalsätzen, die erst mit Blick auf die Gesamtheit der Wirtschaft sichtbar werden.
Demnach ist die Annahme, dass erst Einlagen in einer Bank erfolgen müssen, damit die Bank Kredite an Unternehmen vergeben kann, nur für die Betrachtung von einzelnen Gruppen gültig. Aus Sicht der gesamten Wirtschaft entstehen mit der Kreditschöpfung nicht nur Schulden, sondern gleichzeitig neue Guthaben, mit denen neue Wertschöpfung betrieben werden kann (Stützel 2011, S. 214 ff.).
Aus systemtheoretischer Perspektive basiert die Verbindung der Realwirtschaft mit der Finanzwirtschaft auf einer Paradoxie: Es werden gleichzeitig Schulden und Guthaben erzeugt, die in der Summe Null ergeben (Stützel 2011, S. 80). Sie heben sich demnach gegenseitig auf und ergeben dadurch nichts – und doch ist Geld alles in der Wirtschaft. Die Paradoxie wird verschleiert, indem Kredite und Guthaben in unterschiedlichen Bereichen der Wirtschaft existieren und weitergegeben werden.
Ob zusätzliche Zahlungen und Wachstum entstehen, ist davon abhängig, wem der Kredit zugeht. Denn wenn Kredite nur dazu verwendet werden, um bereits bestehende Kredite zu tilgen, nehmen die Guthaben um die gleiche Summe ab, wie durch die neue Kreditschöpfung entstanden sind (Stützel 2011, S. 220).
Durch die Rückzahlung eines Kredites wird das erzeugte Geld der Wirtschaft wieder entzogen (Schumpeter 2006, S. 223).
Gleichzeitig behält das Konzept der Neutralität des Geldes seine Gültigkeit, wenn das zusätzliche Geld aus der Giralgeldschöpfung für nicht-innovatorische Zahlungen verwendet wird. Wenn also die Kredite nicht für eine zusätzliche Kaufkraft verwendet werden, sondern lediglich eine höhere Nachfrage nach bestehenden Gütern bewirken, steigen die Preise, und die Geldschöpfung führt lediglich zur Inflation. Damit durch die Geldschöpfung nicht Inflation entsteht, muss ein Mehrwert erzeugt werden. Der Zugriff auf die knappen Güter wird akzeptiert, wenn aus dem Weniger ein Mehr wird. Mithilfe des Finanzsystems werden die vorhandenen Produktionsfaktoren und die damit verbundene Knappheit nach den gesellschaftlichen Erwartungen gesteuert. Das Finanzsystem autorisiert das Unternehmersystem, im Namen der Gesellschaft auf die knappen Ressourcen bzw. Produktionsfaktoren zuzugreifen mit dem Versprechen, dass sie diese nicht einfach verbrauchen, sondern einen höheren Wert erzeugen, als sie vorher hatten. Je höher eine Neukombination von der Gesellschaft wertgeschätzt wird, desto höher kann der Preis für den Verkauf der neuen Produkte und Dienstleistungen angesetzt werden. Dadurch ist das Unternehmersystem eher in der Lage, einen Kredit inklusive der Zinsen zurückzuzahlen. Der Zins stellt eine Art Steuer dar, der Unternehmersysteme daran hindert, einen Zugriff auf Produktionsfaktoren zu erhalten (Schumpeter 2006, S. 351). Der Zins ist daher ein Preis für Kaufkraft, mit der Macht über die Produktionsfaktoren ausgeübt werden kann (Schumpeter 2006, S. 361). Die Zinshöhe entscheidet, wie viel teurer die Unternehmersysteme die vorhandenen Produktionsfaktoren verkaufen müssen, damit sie den bestehenden Verwendungen entzogen werden und rentabel verkauft werden können. Mit dem Zins bestimmt die Gesellschaft, wie hoch ein Mehrwert mindestens ausfallen muss, damit er einen Zugriff auf die Produktionsfaktoren rechtfertigt. Aus Eigenkapitalperspektive entspricht der Zins einer Rendite, die erwartet wird, damit die Kaufkraft zur Verfügung gestellt wird, was das Unternehmersystem zu einer bestimmten Höhe des Mehrwertes zwingt. Die Paradoxie der Knappheit wird also durch Wachstum aufgelöst. Ein Zugriff auf die knappen Ressourcen wird gestattet, um aus dem Weniger ein Mehr zu machen. Je mehr aus dem Weniger erzeugt wird, desto eher erfolgt der Zugriff. Die Paradoxie der Knappheit kann durch eine Paradoxie des Wachstums (mehr durch weniger) ersetzt werden. Mithilfe einer zeitlichen Differenz und durch strukturelle Latenz kann die Paradoxie des Wachstums verschleiert werden. Aufgrund der Zeitdifferenz wird wirtschaftliches Wachstum möglich.
Die Voraussetzung für einen Mehrwert, der Zins und Rendite impliziert (Binswanger 2013, S. 76), besteht darin, dass die Unternehmersysteme das geschöpfte Geld für Neukombinationen einsetzen und die Gesellschaft bereit ist, dafür einen Mehrwert zu zahlen. Damit die Konsumenten einen Mehrwert zahlen können, muss in der Zeit zwischen Herstellung und Verkauf neues Geld geschöpft werden. Denn mit den Einkommen und Renten, die sie durch das geschöpfte Geld erhalten haben, können die Konsumenten nur Güter in gleichem Wert kaufen. Damit sie einen Mehrwert bezahlen können, müssen in der Zwischenzeit weitere Einkommen für Neukombinationen, die in der folgenden Periode verkauft werden, gezahlt worden sein, sodass die Konsumenten in der Lage sind, einen Mehrwert zu bezahlen (Binswanger 2013, S. 305 ff.). Dies ist nur möglich, indem die Paradoxie der Geldschöpfung durch strukturelle Latenz verschleiert wird (Binswanger 2013, S. 67).
Denn die Wachstumsspirale kann nur langfristig aufrechterhalten werden, wenn eine positive Erwartung herrscht, dass in Zukunft ein höherer Mehrwert erzielt wird, wodurch mehr investiert wird und ein höheres Einkommen schon heute für die Produkte, die gestern hergestellt wurden, zur Verfügung steht. Ein Mehrwert kann also nur durch eine strukturelle Latenz erzeugt werden, die verschleiert, dass der erwartete Mehrwert der Neukombination nicht unbedingt dem Stellenwert der Gesellschaft entspricht und dass es Unsicherheiten bei der Erzielung von zukünftigen Mehrwerten gibt (Binswanger 2013, S. 312).
Mit der Zeitdifferenz entsteht der Möglichkeitsraum für Innovationen, denn ob eine Zahlung Rentabilität erzielt, wird erst später durch die Zahlungseingänge ersichtlich. Rentabilität schafft daher höhere Freiheitsgrade und gleichzeitig stärkere Selektivität (Luhmann 1988, S. 58), indem nur die Innovationen angegangen werden, die die geforderte Mindestrentabilität oder Zinsen in Aussicht stellen oder nach Umsetzung tatsächlich erreicht haben. Die Begrenzung der Komplexität ermöglicht den Aufbau von neuer Komplexität.
Da sich die Erwartungen zur Zahlungsfähigkeit und der Rendite auf zukünftige Ereignisse beziehen, sind die Investitionen immer mit einem Risiko verbunden (Willke 2007, S. 149). Das Risiko des Scheiterns wird jedoch nicht von den Unternehmersystemen, sondern von den Banken getragen (Schumpeter 2006, S. 290). Wie bereits in diesem Kapitel mit Verweis auf Baecker (2008) beschrieben, ist aus systemtheoretischer Sicht die wesentliche Funktion des Finanzsystems die Verarbeitung von Risiken, indem sie Risiken der Zahlungsfähigkeit identifizieren und mit Zahlungsversprechen handeln. Aus Sicht von Willke (2007, S. 132) arbeitet das Finanzsystem mit der Differenz von Risiken und Chancen. Die gesellschaftliche Funktion des Finanzsystems besteht also darin zu definieren, welche Arten von Chancen und Risiken in den Anlage- und Investitionsstrategien eingegangen werden können.
Zur Beschreibung der Funktion der Finanzwirtschaft für die Realwirtschaft wird in dieser Arbeit die risikobezogene Perspektive von Baecker (2008), in Anlehnung an die Differenz aus Chancen und Risiken Perspektive nach Willke (2007), um eine chancenbezogene Ansicht ergänzt. Denn durch die Bereitstellung von Kaufkraft ermöglicht das Finanzsystem erst Innovationen und wirtschaftliches Wachstum. Mit dem Fokus auf die Rendite identifiziert die Finanzwirtschaft Zahlungen, mit denen die Zahlungsfähigkeit wiederhergestellt werden kann. Sie ermittelt die Zahlungen, mit denen möglichst hohe weitere Zahlungen ermöglicht werden. Das heißt, Geld fließt besonders in die Innovationen, die einen hohen gesellschaftlichen Mehrwert erzeugen. Gleichzeitig wird aber auch die Risikoperspektive berücksichtigt, indem die Finanzwirtschaft bei der Identifizierung der Zahlungen auch die Wahrscheinlichkeit von Zahlungsausfällen einbezieht und das damit verbundene Risiko verteilt. Mit dieser Differenz aus Chancen und Risiken hat die Finanzwirtschaft eine hohe Steuerungswirkung in Bezug auf die Ressourcenallokation der Realwirtschaft und der Auflösung des Knappheitsparadoxes in der Wirtschaft.
Wie bereits oben bei der systemtheoretischen Beschreibung der Wirtschaft expliziert, sind für die Fortsetzung von Zahlungen Irritationen notwendig, die heutzutage nicht nur durch die Preise der Waren, sondern besonders durch die Preise des Geldes entstehen. Mit den Zinsen und Renditen, die für den Erhalt von Kaufkraft unter Berücksichtigung der damit verbundenen Risiken gezahlt werden müssen, werden die Preise beeinflusst. Mit einer Änderung des Preises für Geld ändern sich alle anderen Preise der Realwirtschaft (Luhmann 1988, S. 25). Mit diesem Hebel kommt der Finanzwirtschaft eine hohe Steuerungswirkung gegenüber der Realwirtschaft zu.
Durch die Operation mit der Differenz aus Chancen, die durch rentable Innovationen auf Grund von neuer Kaufkraft erzeugt werden, und Risiken, die durch Zahlungsausfälle entstehen und verteilt werden, hat die Finanzwirtschaft einen hohen Einfluss auf die Ressourcenallokation der Realwirtschaft und der Auflösung des Knappheitsparadoxes in der Wirtschaft.

2.2.3 Hierarchie als Steuerungsform durch Organisationen

Für eine systemtheoretische Betrachtung der Steuerungsform der Hierarchie werden Organisationen betrachtet, da diese hierarchisch aufgebaut sind. In diesem Kapitel wird insbesondere den Ausführungen von Luhmann (2000) in seinem Werk „Organisation und Entscheidung“ Rechnung getragen. Die Beschreibung der autopoietischen Funktionsweise von Organisationen macht es deutlich, wie eine Interaktion zwischen Makro- und Mesoebene bzw. Unternehmen und Wirtschaft möglich wird.
Es gibt sehr viele Theorien, wie Organisationen arbeiten. Dies ist unter anderem dadurch begründet, wie sich die Arbeit von Organisationen über den Zeitverlauf verändert hat. Es wird ein kleiner Überblick über diesen Wandel gegeben, um den systemtheoretischen Ansatz der Organisationstheorie besser einordnen zu können. Hinsichtlich der Organisationstheorien lassen sich klassische Ansätze, neoklassische Ansätze und moderne Ansätze unterscheiden. Die klassischen Ansätze der Organisationstheorie folgten einem sehr mechanischen Verständnis von Organisation.
Weber (1972, S. 122) untersuchte verschiedene Herrschaftsformen und sieht im Bürokratieansatz die rationalste Herrschaftsform, die am effizienteste ist, um große Organisationen in komplexen Situationen zu steuern. Im administrativen Ansatz wird Organisation als Prinzip gesehen, um einen Betrieb zu führen. Demnach wird die Organisation zentralisiert gestaltet, wobei mit Hierarchie Arbeitsteilung durch Spezialisierung möglich wird. Es gibt klare Verantwortungen und Weisungen (Fayol 1929).
Eine Organisationstheorie mit einer noch rationaleren Arbeitsteilung und Spezialisierung entwickelte Taylor (1911) mit dem arbeitswissenschaftlichen Ansatz, der bestrebt ist, Arbeitsabläufe zeitlich zu optimieren. Diese Standardisierung legte die Grundlage für die Fließbandfertigung und Massenproduktion. Bei diesem starren und regelbasierten Organisationsverständnis wurden keine Möglichkeiten berücksichtigt, wie Organisationen auf Veränderungen in der Umwelt eingehen können. Mit den neoklassischen Organisationstheorien wurde diese Perspektive aufgeweicht.
Zur Weiterentwicklung der arbeitswissenschaftlichen Ansätze wurden die Hawthrone-Experimente durchgeführt. Sie zeigten, dass die Arbeitsbedingungen Einfluss auf die Produktivität haben (Roethlisberger und Dickson 1939). Mit einem stärkeren Fokus auf das Verhalten vernachlässigt dieser Human-Relations-Ansatz jedoch die Perspektive auf die Gesamtorganisation und deren Strukturen. Auch nach der Anreiz-Beitragstheorie wurde erkannt, dass durch Verhaltensanreize die Effektivität und Effizienz gesteigert werden können (Barnard 1938). Hierbei werden jedoch jegliche Hierarchiebeziehungen und -strukturen vernachlässigt. Als moderne Organisationstheorien versucht der Human-Ressource-Ansatz eine Brücke zwischen Verhalten und Strukturen zu schlagen, indem die Strukturen des Unternehmens so gestaltet werden sollen, dass positive Verhaltensanreize durch eine höhere Flexibilität, Abwechslung und Autonomie geschaffen werden (Schreyögg 2003).
Auch die Strukturationstheorie beschreibt eine Dualität der Struktur, bei der es eine Wechselwirkung zwischen Handeln und Strukturen gibt. Regeln haben nur einen begrenzten Einfluss auf das Handeln von Akteuren in Unternehmen, da Regeln für verschiedene Situationen Interpretationsspielraum offenlassen müssen. Durch Handlungen, die sich an Strukturen orientieren, werden die Strukturen produziert oder reproduziert. Sie sind daher sowohl Medium als auch Ergebnis (Giddens 1986).
Eine der Ersten, die einen Zusammenhang zwischen Organisationen und der Umwelt beschrieben, waren Lawrence und Lorsch (1967). Sie konnten zeigen, dass es nicht eine beste Organisationsform gibt, sondern die Organisationsform sich abhängig von der Umwelt gestaltet. Dadurch bedingt ergibt sich eine Balance von Differenzierung durch effiziente Arbeitsteilung und Integration durch Abstimmungen, um effektiv das Ziel oder mehrere Ziele zu erreichen. Je turbulenter die Umwelt, desto flexibler gestaltet sich die Organisation.
Als Kritik gegenüber Bürokratieansätzen haben sich eher laterale Organisationsansätze entwickelt. So fordert der Netzwerkstrukturansatz nach Likert (1961) eine flache Hierarchie, die eine vertikale, horizontale und laterale Vernetzung ermöglichen soll. Dadurch soll die Gruppenzugehörigkeit gestärkt, Eigenverantwortung gefördert, Kommunikationsgeschwindigkeit erhöht und die Abstimmungsprozesse sollen vereinfacht werden. Virtuelle Organisationen sind gekennzeichnet durch die Vernetzung von Organisationseinheiten, die sich an verschiedenen Standorten befinden und in einen abgestimmten Wertschöpfungsprozess einbringen, wodurch sie eine hohe Flexibilität in turbulenten Umwelten erreichen (Picot et al. 2001). Auch in den Konzepten der flexiblen Firma (Toffler und Vázquez 1985), des innovativen Unternehmens (Oelsnitz 2009), der lernenden Organisation (Argyris und Schön 1978) und der agilen Organisation (Atkinson und Moffat 2007) wird immer wieder gefordert, dass Umweltveränderungen möglichst früh erfasst werden sollen, um die Strukturen der Organisation daran zu adaptieren. Auch nach der Stakeholdertheorie von Freeman (1984) können Unternehmen nur überleben, wenn sie die Umwelt berücksichtigen, indem sie die Interessen von Stakeholdern einbeziehen. Nach einem ähnlichen Ansatz aus einer eher wirtschaftsethischen Perspektive sollten Unternehmen versuchen, ihre Legitimität oder auch „lisence-to-operate“ zu erhalten, indem sie Verantwortung für ihr Verhalten übernehmen und sich stetig selbst hinterfragen (Ulrich 2008; Drucker 2009).
Organisationstheorien haben sich also im Zeitverlauf von einem Fokus auf eine geschlossene Organisation und einer starren Hierarchie zu Organisationsansätzen mit flexibleren Ansätzen entwickelt, die eine höhere Offenheit gegenüber Umwelteinflüssen aufweisen.
Während ein Regelkreis im Sinne eines mechanischen Steuerungskonzeptes wie beispielsweise Plan, Do, Check, Act in vielen Managementinstrumenten verankert ist, um auf Umweltveränderungen eingehen zu können, operieren die Organisationen nach der Systemtheorie selbstreferenziell, wodurch sie zwar einerseits auch von der Umwelt beeinflusst werden, aber auch stärker selbst gestaltend auf die Umwelt einwirken können (Hasenmüller 2013, S. 63 ff.).
Im folgenden Abschnitt wird das systemtheoretische Organisationsverständnisbeschrieben, das bewusst das Individuum und damit auch die verhaltensbezogenen Ansätze ausschließt, um die Organisation als komplexes System mit ihren emergenten Eigenschaften als Ganzes verstehen zu können. Durch die Differenz zwischen System und Umwelt ermöglicht sie, das Verhältnis von Organisation und Gesellschaft zu beobachten. Sie bietet zudem den Vorteil, dass sie einen Anschluss an die systemtheoretischen Überlegungen zu den Steuerungsformen des Marktes und des Netzwerkes bietet, wodurch ein geschlossener theoretischer Rahmen entwickelt werden kann. Wie bei den Funktionssystemen werden Organisationen durch die Differenz von System und Umwelt beobachtbar (Luhmann 2000, S. 29).
Die wesentliche Paradoxie der Organisation besteht darin, dass sie sowohl nach innen anschlussfähig sein muss, um die eigenen Operationen aufrechtzuerhalten, als auch den externen Anforderungen gerecht werden muss, um nicht die Anschlussfähigkeit der psychischen und der Funktionssysteme zu verlieren. Die Gesellschaft wird sowohl ausgegrenzt als auch eingeschlossen. Es handelt sich daher um ein System, das sowohl offen als auch geschlossen ist (Baecker 2003, S. 141 f.).
Die Offenheit im System entsteht nur durch Geschlossenheit. Zum besseren Verständnis, wie Organisationen Geschlossenheit erreichen, wird die Operationsweise von Organisationen beschrieben. Wie bereits auch in Abschnitt 2.1.3 angedeutet, wird in Organisationen die Reproduktion durch die Kommunikation von Entscheidungen bewerkstelligt (Luhmann 2000, S. 56 ff.). Organisationen ermöglichen Unsicherheitsabsorption, indem sie die Möglichkeiten durch Entscheidungen eingrenzen (Luhmann 2000, S. 185). Zudem können auch Entscheidungen über die personelle Besetzung von Stellen getroffen werden. „Der Sinn einer Stelle liegt in der wechselseitigen Einschränkung von Entscheidungsprämissen.“ (Luhmann 2000, S. 225)
Es können also auch Entscheidungen über Entscheidungsprämissen getroffen werden. Dies ist notwendig, denn die Entscheidungsprämissen müssen aufeinander abgestimmt werden. Die Entscheidung über Entscheidungsprämissen bezeichnet Luhmann als Planung (Luhmann 2000, S. 231). Die abstrakteste beeinflussbare Entscheidung zur Beschränkung von Entscheidung liegt in der Personalentscheidung (Luhmann 2000, S. 294). Durch den zunehmenden Bezug von Entscheidungen auf Entscheidungen entsteht allmählich Hierarchie (Luhmann 2000, S. 138).
In der Organisation erfolgt Unsicherheitsabsorption üblicherweise über Hierarchien. Eine Autorität bekommt die Macht zu entscheiden, wodurch die Kommunikationswege verkürzt werden (Luhmann 2000, S. 204). Die Unsicherheitsabsorption wird also durch Hierarchie ermöglicht, denn getroffene Entscheidungen werden nicht mehr hinterfragt, da die Entscheidungen durch Autorität getroffen wurden. Dadurch werden Entscheidungen möglich, obwohl Entscheidungen eigentlich nicht getroffen werden können. Die Paradoxie von Entscheidungen besteht darin, dass Entscheidungen unentscheidbar sind, da sie immer auch ihr Gegenteil enthalten (Luhmann 2000, S. 132). Entscheidungen enthalten immer ihr Gegenteil, da sie eine Entscheidung gegen eine Alternative sind. Es kann zum Entscheidungszeitpunkt nie genau gesagt werden, welche Entscheidung im Nachhinein die Bessere ist. Darüber hinaus besteht bei Entscheidungen eine Paradoxie in der zeitlichen Dimension.
Die Beschreibung der Gegenwart ist eine Differenz zwischen Vergangenheit und Zukunft. Damit sie beschrieben werden kann, ist eine Entscheidung über den Zeitpunkt der Vergangenheit und der Zukunft notwendig, um die Gegenwart als eine Differenz zwischen Vergangenheit und Zukunft zu beschreiben. Es ist also eine Entscheidung notwendig, um die Gegenwart, also die Differenz zwischen Vergangenheit und Zukunft, zu bestimmen. Gleichzeitig ist eine Entscheidung eine Information, die im Vergleich von Vergangenheit und Zukunft einen Unterschied macht. Bei Entscheidungen besteht die Zeitparadoxie also darin, dass die Gegenwart, als Differenz zwischen vorher und nachher, nur durch eine Entscheidung beschrieben werden kann. Gleichzeitig kann aber eine Entscheidung nur aufgrund einer Differenz zwischen Vergangenheit und Zukunft getroffen werden (Luhmann 2000, S. 156 ff.). Die Zeitparadoxie kann durch „ein ‚re-entry‘ der Zeit in die Zeit oder genauer: der Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft in die Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft“ (Luhmann 2000, S. 141) aufgelöst werden. Eine fiktive Beschreibung der Gegenwart durch die gewählte Differenz zwischen Vergangenheit und Zukunft wird dann in die reale Gegenwart, also in die tatsächliche Differenz zwischen Zukunft und Vergangenheit, wiedereingeführt. „Ein ‚re-entry‘ hat zur Folge, dass das System so viele Möglichkeiten (soviel „Sinn“) gewinnt, dass es für sich selbst unkalkulierbar wird.“ (Luhmann 2000, S. 141) Aus systemtheoretischer Sicht entsteht die Unsicherheit für Organisationen nicht aus der Umwelt, sondern Organisationen schaffen sich durch die Wahl der Beobachtung ihre eigene Unsicherheit (Luhmann 2000, S. 160). Mithilfe des Gedächtnisses, das in der Lage ist, zu vergessen, kann die Organisation sich der Umwelt öffnen und die Komplexität reduzieren (Luhmann 2000, S. 153, 275). Das Systemgedächtnis speichert, welche Entscheidungen getroffen worden sind. Im Systemgedächtnis werden die Entscheidungen über getroffene Annahmen gespeichert, die sich in der Umwelt bewährt haben (Luhmann 2000, S. 156,277).
Ein zu starker Fokus auf das System selbst entsteht bei Organisationen besonders dann, wenn sie sich zu sehr auf ihre historischen Erfolge stützen und ihrer Organisationskultur zu viel Aufmerksamkeit schenken. Dadurch können sie wichtige Veränderungen in der Umwelt verpassen, sodass sie an ihrem eigenen Erfolg scheitern (Luhmann 2000, S. 246).
Je mehr Entscheidungen im historischen Zeitverlauf getroffen wurden, umso mehr Entscheidungen gibt es, die sich bereits auf eine Vielzahl von Entscheidungen stützen. Eine nachträgliche Änderung von getroffenen Entscheidungen hat immer größere Auswirkungen. Die Irreversibilität nimmt zu und es wird immer schwieriger, sich auf die Umwelt einzulassen. Je älter und größer eine Organisation ist, umso schwieriger wird es, dass sie sich der Umwelt anpasst (Luhmann 2000, S. 324). Die Wahrnehmung von Irritationen aus der Umwelt ist die Voraussetzung für das Überleben der Organisation und die Fortsetzung der eigenen Autopoiesis (Luhmann 2000, S. 74).
Die Berücksichtigung der Umwelt im System ist nur durch Selbstbeobachtung mit Hilfe der Differenz aus Selbstreferenz und Fremdreferenz möglich. Beim Reentry handelt es sich um eine Beobachtung, bei der das Beobachtete in das zu Beobachtende wieder eintritt. Die Differenz zwischen Organisation und Umwelt kann so innerhalb der Organisation, die auf der Differenz von Organisation und Umwelt beruht, dargestellt werden (Luhmann 2000, S. 72).
Die stetige Erneuerung der Entscheidung macht es möglich, auf Irritationen der Umwelt in ausreichender Reaktionszeit zu reagieren und sich dadurch stetig zu aktualisieren (Luhmann 2000, S. 71,145).
Gleichzeitig sind zur Fortsetzung der Autopoiesis Unsicherheiten notwendig, die Entscheidungen notwendig machen. Die Organisation muss daher durch Selbstorganisation dafür sorgen, dass solche Unsicherheiten vorhanden sind und kontrolliert werden können. (Luhmann 2000, S. 45)
Damit die Organisation die gefühlte Sicherheit der Organisationsstruktur, die durch die bisherigen Erfahrungen und die Bestätigung durch Erfolg aufgebaut wurde, ersetzten kann, muss eine neue Unsicherheit erzeugt werden (Luhmann 2000, S. 218).
Da sich die Organisation im Zeitverlauf durch das Gedächtnis tendenziell eher an der Selbstreferenz als an der Fremdreferenz orientiert, sind für die Veränderung der Organisation Innovationen notwendig, die sich nur durchsetzen können, wenn sie die bisherigen Erfahrungen stören. Das System ändert sich nur durch Irritationen mit entsprechendem Druck aus der Umwelt (Luhmann 2000, S. 162).
Organisationen haben sowohl einen Bezug zu gesellschaftlichen Funktionssystemen (Luhmann 2000, S. 383) als auch zu psychischen Systemen. Personen als Mitglieder der Organisation haben in Organisationen die Fähigkeit, zu beobachten und zu selektieren (Luhmann 2000, S. 286). Nur durch Personen ist die Organisation daher in der Lage Entscheidungen zu treffen (Luhmann 2000, S. 390). Dabei sind die Personen stark karrieregetrieben, was die Entscheidungsmöglichkeiten einschränkt (Luhmann 2000, S. 297 ff.). Andererseits können die nicht beeinflussbaren Entscheidungsprämissen der Unternehmenskultur, die durch die Interaktion der Personen geprägt wird und die sich an den Werten der Gesellschaft orientiert, und der kognitiven Routinen – also der selbst konstruierten Erwartungen, die der Gesellschaft zugeordnet werden – für einen gesellschaftlichen Wandel sensibilisieren. „Ein Wandel der Organisationskultur wird oft durch einen gesellschaftlichen Wertewandel induziert sein.“ (Luhmann 2000, S. 245) Die Entscheidungen in Organisationen werden daher besonders durch die unentscheidbaren Entscheidungsprämissen, also durch Personen, die Personalentscheidungen treffen, und die Unternehmenskultur bestimmt. Veränderungen der Organisation kommen in der Organisation in Form von Reformen zum Ausdruck. Innovationen oder Reformen sind nach Luhmann (2000, S. 332) Beobachtungen von Strukturänderungen. In Organisationen stellen Reformen oft paradoxe Anforderungen dar, da beispielsweise gefordert wird, dass eine Organisation sowohl flexibel als auch effizient sein soll (Luhmann 2000, S. 314).
Dieses Paradox kann nur durch eine paradoxe Kommunikation aufgelöst werden, indem gefordert wird, dass die Organisation diesen Zustand in der Zukunft erreichen soll. Durch die Mehrdeutigkeit bleibt es dem Adressaten überlassen, ob der Sender das Eine oder das Andere meint. Die Paradoxie wird in sehr unterschiedlichen Ausprägungen wieder in das System eingebracht (Reentry) (Luhmann 2000, S. 115 ff.).
Die Änderung der Organisation durch Reformen kann sowohl positiv als auch negativ dargestellt werden. Je nachdem, was erreicht werden soll, ist es möglich, einen entsprechenden Begriff zu wählen (Luhmann 2000, S. 303).
So schwingt bei Innovationen eine positive Konnotation für Veränderungen mit, wobei nicht gesagt sein muss, dass eine Veränderung etwas Positives bewirkt. Denn auch der Versuch, eine Innovation in einem ungeeigneten Moment durchzusetzen, kann negative Konsequenzen haben. So kann es sein, dass Beständigkeit die bessere Option ist. Daher stellt die Forderung nach Innovationen ebenso eine Paradoxie dar (Luhmann 2000, S. 220).
Reformen sind eine Paradoxie in der zeitlichen Dimension. Reformen basieren auf der Annahme, dass etwas unvollkommen ist und verbessert werden kann. Dies ist jedoch ein Paradox. Für die Kommunikation von Reformen muss die Vergangenheit gegebenenfalls schlecht gemacht und die Zukunft besser dargestellt werden, obwohl die Zukunft ungewiss ist (Luhmann 2000, S. 342).
Die Kommunikation von Reformen führt daher immer in eine Art Widerstand, der die Innovationen angreifbar macht. Dieser kann sowohl aus der Forderung die gewohnten Strukturen beizubehalten, als auch aus anderen Ansichten über die Art und Weise der Strukturveränderung resultieren. In jedem Fall führt die Zukunftsorientierung zu Konflikten (Luhmann 2000, S. 346).
Das Verlangen nach der Überwindung von Widerständen zur Transformation von Unternehmen ist letztendlich nur eine Tautologie: „es gelingt, wenn es gelingt“. (Luhmann 2000, S. 330)
Obwohl es eigentlich unmöglich ist, dass Reformen so durchgeführt werden, wie sie beabsichtigt waren, verfügt die Organisation über Möglichkeiten, die Veränderungen in die gewünschte Richtung zu steuern. Dies wird üblicherweise durch die Änderung von Entscheidungsprämissen, also der Veränderung von Zuständigkeiten oder Kompetenzen, bewirkt. Der konkret angestrebte Systemzustand bleibt allerdings offen (Luhmann 2000, S. 341).
Allerdings können auch bei den sehr abstrakten Änderungsbestrebungen die gewünschten Effekte verfehlt werden. Denn: „Auch zwischen Entscheidungsprämissen und Entscheidungen besteht nur eine verhältnislose Kopplung.“ (Luhmann 2000, S. 341) Da kein direkter Zusammenhang zwischen Entscheidungsprämissen und Entscheidungen existiert, führt eine Veränderung der Entscheidungsprämissen nicht immer zur gewünschten Änderung von Entscheidungen. So kann es sein, dass die zukünftige Vision, die durch die Reform angestrebt wurde, der sich aus der Zukunft heraus entwickelnden Gegenwart angepasst werden muss, damit die Organisation in der Lage ist, ihre Reformziele zu erreichen.
Es besteht daher keine Kausalität, sondern die Organisation entwickelt sich eher durch zufällige Evolution. Auch wenn sich die Veränderung innerhalb von Organisationen eher durch Evolution beschreiben lässt, stellt dies doch kein Lösungsprinzip dar. Reformen bleiben notwendig, denn setzt man nur auf Evolution, sind die Effekte oft zu langsam, nichtlinear und das Ende ist nicht absehbar. Die Evolution kann auch zu einem Aussterben der Organisation führen (Luhmann 2000, S. 348 ff.).
Die Organisation kann sich selbst beobachten und auf die Ergebnisse der Evolution reagieren. Dabei geht sie jedoch nicht rational vor, da sie damit zu sehr überfordert wäre. „Aber es kann ein Netzwerk von Kennziffern usw. entwickeln und verbessern, mit dessen Hilfe es im Rückblick beobachtet und gegebenenfalls korrigiert, was durch Evolution entstanden ist.“ (Luhmann 2000, S. 355)
Denn Planung bleibt auch in der Evolution wichtig, da die Veränderung der Entscheidungsprämissen notwendig bleibt. Allerdings sollte der Erfolg der Planung nicht nach dem angestrebten Ziel gemessen werden, da die Planung sich selbst in der Evolution befindet – und so muss sie sich auch selbst beobachten können (Luhmann 2000, S. 358).
Für den Wandel von Organisationen ist aus systemtheoretischer Sicht eine Auseinandersetzung mit der Differenz von Vergangenheit und Zukunft notwendig. Neuere systemtheoretische Ansätze der Organisationsforschung betrachten bei der Veränderung von Organisationen besonders Pfadabhängigkeiten (Hasenmüller 2013, S. 66). Da in Kapitel 5 beschrieben wird, wie Nachhaltigkeitsratings auch durch Einfluss auf Pfadabhängigkeiten organisatorische Entscheidungen verändern, wird im folgenden Abschnitt auf grundlegende Konzepte zu Pfadabhängigkeiten in Organisationen eingegangen.
Die Überlegungen zu Pfadabhängigkeiten führen zu keiner geschlossenen Theorie, vielmehr wurden verschiedene Konzepte sowohl in der Volkswirtschaftslehre und der Soziologie als auch in der Politikwissenschaft erarbeitet. Die Erkenntnisse der Pfadabhängigkeit wurden dann vor allem in der Betriebswirtschaftslehre auf Organisationen übertragen (Grabher 1993; Ortmann 1995; Schreyögg 2003; Schäcke 2006; Dievernich 2007).
Eines der ersten und bekanntesten Beispiele einer Pfadabhängigkeit besteht im Zusammenhang mit der Anordnung der Buchstaben auf Tastaturen. Aus einer wirtschaftshistorischen Perspektive untersuchte David (1985, S. 332 ff.), warum es bei im englischen Sprachraum verbreiteten QWERTY-Tastaturen genau zu dieser Anordnung kam. Er kam zu der Erkenntnis, dass der Markt nicht zwingend zu einem Optimum führt, sondern verschiedene Gleichgewichtszustände entstehen können.
Prozesse, die zu multiplen Gleichgewichtszuständen führen können, werden von Arthur (1994, S. 112 ff.) als nichtergodisch bezeichnet. Sie sind durch einen Bifurkationspunkt gekennzeichnet, der eine Gabelung darstellt, in der die Entwicklung zu dem einen oder dem anderen Gleichgewichtspunkt führen kann.
Pfadabhängigkeiten entstehen also, wenn mehrere Ergebnisse möglich sind und das Ergebnis von der zeitlichen Entwicklung des Prozesses abhängt.
Pfadabhängige Prozesse sind daher nicht vorhersehbar, inflexibel und sorgen potenziell für Ineffizienzen (Ackermann 2001, S. 10 ff.), sie entstehen durch positive Rückkopplungen, die zu einem selbstverstärkenden Effekt führen (David 1985, S. 332).
Bei technologischen Pfadabhängigkeiten entstehen positive Rückkopplungseffekte, besonders durch Skalenerträge, Netzwerkeffekte, Komplementarität mit technologischen Systemen oder Lerneffekten (Ackermann 2001, S. 59 f.). Diese Rückkopplungsmechanismen wurden auf institutionelle Pfadabhängigkeiten übertragen (North 1990, 95 ff.; Picot et al. 2005, 10 ff.). Aus den volkswirtschaftlichen, soziologischen und politologischen Diskussionen lassen sich die positiven Rückkopplungseffekte, Koordination, Komplementarität, Lernen, Investitionen und Macht ableiten (Schäcke 2006, S. 54).
Anhand der Erkenntnisse der Forschungen zu den technologischen und institutionellen Pfadabhängigkeiten wurden Pfadabhängigkeiten von Organisationen und für deren strategische Ausrichtung beschrieben (Schreyögg 2003, S. 257 ff.).
Auch diese Ansätze der Pfadabhängigkeiten basieren auf evolutionstheoretischen Überlegungen, indem sie die Durchsetzung von bestimmten Strukturen und Prozessen analysieren. Allerdings geht es dabei nicht darum, Erfolgsbeispiele zu beschreiben, sondern pathologische Strukturen zu identifizieren, um alternative Entwicklungsmöglichkeiten aufzuzeigen (Dievernich 2007, S. 14).
Neben dem weiten Verständnis der allgemeinen Beschreibung von Pfadabhängigkeiten wurde mit der Definition von Pfadabhängigkeiten für Organisationen ein engeres Verständnis bestimmt (Koch 2007, S. 286).
Sydow et al. (2009, S. 691) verstehen Pfadabhängigkeit als einen Prozess, der drei Phasen umfasst: kleine zufällige Ereignisse, ein kritisches Ereignis und positive Rückkopplungseffekte, die zu einem ineffizienten Zustand der Organisation führen. Bei den kleinen und zufälligen Ereignissen kann es sich jedoch auch um intendierte und bedeutende Eingriffe in die Organisation handeln.
Dies ist ein wesentlicher Unterschied gegenüber technologischen und institutionellen Pfadabhängigkeiten. Die Mitglieder der Organisation versuchen mit ihrer hierarchischen Macht bewusst Einfluss auf die Entstehung und Entwicklung von Pfadabhängigkeiten in der Organisation zu nehmen. Rückkopplungseffekte, die zu organisatorischen Pfadabhängigkeiten führen können, bestehen daher in Koordinationseffekten, Komplementaritätseffekten, Lerneffekten oder mentalen Modellen, Machteffekten und Investitionseffekten (Hasenmüller 2013, S. 150 ff.).
Mit der Übertragung des eher betriebswirtschaftlichen Ansatzes zu Pfadabhängigkeiten auf Organisationen als selbstreferenziellen Systemen wird es nachvollziehbar, wie ein Rahmen geschaffen wird, in dem Entscheidungen getroffen werden, die weitere Entscheidungen ermöglichen. Es wird deutlich, wie Strukturen in der Organisation entstehen, die den Kontext für die Autopoiesis der Organisation erzeugen (Hasenmüller 2013, S. 66).
Organisationen operieren mit Entscheidungen, die durch Entscheidungsprämissen geprägt werden. Die sich evolutionär entwickelnden Strukturen von Organisationen können daher durch eine Veränderung der Entscheidungsprämissen beeinflusst werden. Die Betrachtung von Pfadabhängigkeiten gibt Hinweise, wie andere Entscheidungen in Organisationen veranlasst werden können.

2.2.4 Netzwerke als integrierende Steuerungsform

In den Diskussionen über Steuerungsformen hat sich mit der Zeit neben Markt und Hierarchie eine weitere Steuerungsform herauskristallisiert, die meist als Solidarität, Gemeinschaft oder Netzwerk bezeichnet wird. Diese Arbeit schließt sich besonders den Unterteilungen, die Netzwerke als dritte Alternative betrachten, an, da diese Form mit der Systemtheorie besonders kompatibel ist. Nach einer Übersicht über die Entstehung des Netzwerkbegriffes werden Netzwerke aus systemtheoretischer Sicht beschrieben, um damit dann auch auf Solidarität eingehen zu können.
Damit die systemtheoretischen Ausführungen zu Netzwerken besser eingeordnet werden können, wird eine kurze Übersicht über die Entstehung des Netzwerksbegriffs gegeben. Der Netzwerkbegriff ist allgegenwärtig und spiegelt die gesellschaftliche Relevanz dieser Steuerungsform (Hertner 2011, S. 68). Der Ursprung des Netzwerkbegriffs geht mit der sozialen Netzwerkanalyse bis in die 1930er Jahre zurück, in der vor allem Verknüpfungen grafisch dargestellt wurden (Tacke 2011a, S. 89). Demgegenüber hat sich eine soziologische Netzwerktheorie mit dem Basiselement der sozialen Beziehungen als Ausgangspunkt der Theoriebildung entwickelt. Nach Granovetter (1985) ist jede ökonomische Handlung eines Akteurs auch in einen gesellschaftlichen Kontext eingebettet (social embeddedness). Der Netzwerkbegriff hat einen sehr allgemeinen Charakter, da er auch einen Zusammenhang von komplexen Beziehungen in sozialen Systemen bezeichnen kann (Hertner 2011, S. 68). Die Verwendung des Netzwerksbegriffs als Ausgangspunkt der Theorie hat jedoch den Nachteil, dass die Besonderheiten von Netzwerken in Bezug auf die Gesellschaft nicht erörtert werden können. Dem steht daher die These einer Netzwerkgesellschaft gegenüber, in der Netzwerken eine zentrale Rolle zugeschrieben wird, weil sie als neue Ordnungsform eine ganz neue Gesellschaft entstehen lassen können (Baecker 2007). Ein etwas beschränkteres Verständnis von Netzwerken ist in den Forschungen zu Unternehmensnetzwerken oder Policy-Netzwerken zu finden, insofern hier Netzwerke nur in einem ganz bestimmten Bereich der Gesellschaft verwendet werden (Tacke 2011a, S. 89).
Systemtheorie und Netzwerke scheinen auf den ersten Blick nicht miteinander kompatibel zu sein, da die Systemtheorie mit Systemen, die klare Grenzen haben, arbeitet (Bommes und Tacke 2011a, S. 28), während Netzwerke gerade durch die Grenzenlosigkeit gekennzeichnet sind (Holzer und Fuhse 2010, S. 313). Allerdings bietet die Systemtheorie mit der Komplexität und Vielseitigkeit die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Beschreibung von Netzwerken. Die Systemtheorie macht es mit dem Bezug auf Kommunikation möglich, Netzwerke als eine besondere Steuerungsform zu beschreiben (Bommes und Tacke 2011a, S. 26 ff.) und verhindert, dass die gesamte Theorie auf Netzwerken aufgebaut wird (Tacke 2011b, S. 9 f.). Neben den einzelnen Beiträgen von Luhmann (1990) wurden in jüngster Vergangenheit tiefergehende systemtheoretische Beschreibungen von Netzwerken herausgearbeitet (Tacke 2011a, S. 89). Diesen zufolge gibt es innerhalb der Systemtheorie unterschiedliche Ansätze, Netzwerke in die Systemtheorie zu integrieren. Netzwerke können sich in Interaktionssystemen, innerhalb und zwischen Organisationen oder innerhalb von Funktionssystemen bilden (Holzer und Fuhse 2010, S. 316). Systeme sind nicht eine besondere Art von Netzwerk, dessen Grenzen klar definiert sind, sondern Netzwerke sind eine eigene Ordnungsform (Japp 2011, S. 263).
Während Netzwerke in archaischen Gesellschaften noch an bestimmte Sozialkontexte gebunden waren (Holzer 2011, S. 54 ff.), sind die heutigen Netzwerke der modernen Gesellschaft mit der Ausdifferenzierung der Funktionssysteme entstanden. Sie verbinden Personen, die mehreren Funktionssystemen gleichzeitig angehören. Sie kompensieren Probleme, die durch die Ausdifferenzierung der Funktionssysteme entstanden sind, und entstehen durch das Risiko dieser Ausdifferenzierung (Japp 2011, S. 261 ff.).
Der wesentliche Unterschied von Netzwerken im Vergleich zu den ausdifferenzierten Funktionssystemen besteht darin, dass sie nicht dem Primat der Funktion, sondern dem Primat der Adresse folgen (Bommes und Tacke 2011a, S. 30). Das entscheidende Merkmal der Netzwerke in der modernen Gesellschaft liegt in der Verwendung von polykontexturalen Adressen. Soziale Adressen sind ubiquitär. Sie sind sowohl für Personen als auch für Organisationen vorhanden (Bommes und Tacke 2011a, S. 32).
Der Begriff der Adresse ist von einem Akteur, also von einer Person oder einer Organisation, zu unterscheiden, da die Adresse betont, dass eine Person oder Organisation in mehreren Funktionsbereichen teilnimmt. Die Adresse zentralisiert die unterschiedlichen Verknüpfungen einer Person und Organisation und betont daher die Einbindung der Person und Organisation in eine Vielzahl von unterschiedlichen Kontexten. Da Adressen in mehreren Kontexten verwendet werden können, ist die Rede von polykontexturalen Adressen. Dies ermöglicht Reflexion, da durch die Polykontexturalität nun Kontakte auf andere Kontakte verweisen können. Dies ermöglicht eine heterogene Zusammensetzung auch über Funktionssysteme hinweg (Holzer 2011, S. 60 ff.).
Die Verknüpfungsmöglichkeiten von heterogenen Sinnzusammenhängen ist der wesentliche Unterschied zwischen Netzwerken und Systemen, die als komplementär betrachtet werden können. Während zu Beginn eines Netzwerks besonders die Heterogenität eine Herausforderung bei der Suche nach gemeinsamen Interessen darstellt, wird diese Heterogenität im weiteren Verlauf zum wesentlichen Vorteil, indem sie die Netzwerkstrukturen stabilisiert (Bommes und Tacke 2011a, S. 30 ff.).
Die Heterogenität in der zeitlichen Dimension führt durch Reziprozität zur Stabilität des Netzwerkes (Tacke 2011b, S. 15). Vertrauen spielt eine große Rolle in den Netzwerken, da die Reziprozität darauf ausgelegt ist, zu hoffen, dass die Gegenleistung irgendwann erbracht wird. Je vielfältiger die Netzwerke werden, desto größer ist die Gefahr einer Überlastung. Eine Einschränkung bestimmter Adressen hängt oft mit dem Ausgangspunkt zusammen. Allerdings sind die sachlichen, sozialen und zeitlichen Einschränkungen keine festen Vorgaben, sondern die Grenzen von Netzwerken sind flexibel (Bommes und Tacke 2011a, S. 37 ff.).
Das systemtheoretische Verständnis von Netzwerk hat eine Gemeinsamkeit mit den Überlegungen zum Sozialkapital oder dem Gemeinwohl. Alle diese Konzepte empfinden den Fokus auf die etablierten und offensichtlichen Austauschprozesse der Gesellschaft als nicht ausreichend, da es noch etwas gibt, das für die Funktion der Gesellschaft notwendig ist. Es handelt sich dabei vor allem um verloren gegangene oder neu entstandene netzwerkartige Interaktionen, die sich mit Themen beschäftigen, die sonst nicht im Fokus liegen, aber für den Erhalt der Gesellschaft notwendig sind. Aus systemtheoretischer Sicht handelt es sich um das ausgeschlossene Dritte, das durch die Differenz der Gesellschaft mit der Umwelt nicht beobachtet wird, aber aufgrund ihrer Bedeutung wieder eingeschlossen werden sollte. Nach dem Verständnis der OECD (2001, S. 41) besteht bei Netzwerken eine enge Verbindung zu dem Begriff des Sozialkapitals. Ähnlich Kapital und Arbeit kann Sozialkapital für eine künftige Verbesserung genutzt werden (Ostrom und Ahn 2003, xiii). Im Gegensatz zu Kapital und Arbeit führt eine Investition des Sozialkapitals jedoch nicht zu einer Reduktion, sondern zu einer Vermehrung, da beispielsweise Vertrauen neues Vertrauen erzeugt (Woolcock 1998, S. 191).
Durkheim (1992, S. 183) hat mit der Unterscheidung von mechanischer und organischer Solidarität eine entscheidende Grundlage für das heutige Verständnis von Sozialkapital gelegt. In kleinen Gesellschaften ohne Arbeitsteilung findet eine mechanische Solidarität statt, die besonders dadurch gekennzeichnet ist, dass die festen Strukturen nicht hinterfragt werden. Im Zuge der zunehmenden Arbeitsteilung (Ausdifferenzierung) entsteht organische Solidarität, da durch die Spezialisierung eine höhere Abhängigkeit des Einzelnen von anderen ergibt, während gleichzeitig das Kollektivbewusstsein abnimmt.
Granovetter (1973, 1985) schließt an diese Überlegungen an. Granovetter (1973, S. 1360) hat den Unterschied von starken Bindungen, die innerhalb von Gruppen existieren, und schwachen Bindungen, die zwischen unterschiedlichen Gruppen bestehen, deutlich gemacht. In einer weiteren Arbeit zeigt Granovetter (1985, S. 504), dass soziales Verhalten stark in zwischenmenschliche Beziehungen eingebettet ist.
Weitere wichtige Autoren, die die Diskussion um Sozialkapital geprägt haben, sind der Politikwissenschaftler Putnam (2000) und die Soziologen Bourdieu (1983) und Coleman (1988).
Putnam (1993, S. 173 f.) sieht soziales Engagement als wesentliche Voraussetzung für soziale Integration. Die Pflege von formellen und informellen Netzwerken bildet die Grundlage für den Aufbau von Sozialkapital. Sozialkapital ist nach seiner Ansicht ein Merkmal von sozialer Organisation wie Vertrauen, Normen und Netzwerke, das die Effizienz der Gesellschaft erhöht, indem es koordinierte Handlungen ermöglicht.
In Anlehnung an Granovetter (1973) entwickelt Putnam (2000) die Unterscheidung von Bonding- und Bridging-Sozialkapital. Während Bonding-Sozialkapital nach innen gerichtet ist und eine geschlossene Einheit und homogene Gruppe sicherstellt, ist Bridging-Sozialkapital nach außen gerichtet und umfasst Menschen aus verschiedenen sozialen Bereichen. Während Bonding die Reziprozität und Solidarität innerhalb von Gruppen stärkt, verbessert Bridging Außenkontakte und erleichtert den Informationsaustausch. Sozialkapital entsteht daher durch ein gemeinschaftliches Netzwerk, das zugleich offen und geschlossen ist.
Bourdieu (1983, S. 190 f.) sieht in Sozialkapital eine Ressource, die immer wieder neu reproduziert wird, wodurch sich soziale Klassen verfestigen. Sozialkapital wird besonders von privilegierten Gruppen zur Reproduktion verwendet, da ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital zur gegenseitigen Sicherung oder Erhöhung ihrer sozialen Stellung verwendet werden kann.
Coleman (1990) übertrug ökonomische Modelle auf eine Vielzahl von sozialen Phänomenen, um sowohl der Soziologie als auch den Wirtschaftswissenschaften einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn zu schaffen. Sozialkapital beschreibt nach Coleman (1988) soziale Beziehungen, die Individuen nutzen, um ihre Interessen durchzusetzen. Voraussetzung dafür sind jedoch enge Bindungen und gemeinsame Werte und Normen, die die Gemeinschaft erzeugt.
Nach Woolcock und Narayan (2000, S. 229) werden aus einer institutionalistischen Perspektive gemeinschaftliche Netzwerke und die Zivilgesellschaft als Resultat der politischen, rechtlichen und institutionellen Umwelt betrachtet. Aus dieser Perspektive wird das Sozialkapital zu einer abhängigen Variablen, die von den vorherrschenden Rahmenbedingungen geprägt wird. Nach North (1990) führt beispielsweise der Rückzug des Staates gerade nicht zu einer Verbesserung der wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Entwicklung, da diese auf fördernde Rahmenbedingungen angewiesen sind.
Durch den Verweis auf polykontexturale Adressen können Netzwerke systemübergreifend kommunizieren. Netzwerke können durch institutionelle Rahmenbedingungen beeinflusst werden.

2.2.5 Interdependenzen von gesellschaftlichen Steuerungskonzepten

Komplexe Systeme entstehen durch die Ausdifferenzierung gegenüber der Umwelt. Dadurch werden sie unabhängig von anderen Systemen. Gleichzeitig sind sie jedoch weiterhin von anderen Systemen abhängig. In diesem Kapitel wird das Zusammenspiel zwischen den einzelnen Systemen beschrieben. Zuerst wird die Verbindung zwischen den Funktionssystemen analysiert. Dann wird der Zusammenhang zwischen Organisation und Funktionssysteme beschrieben. Abschließend wird die Bedeutung der Netzwerke für die Funktionssysteme und Organisationen dargestellt.
Die Formulierung „ausdifferenzierte Gesellschaft“ lässt vermuten, dass die Funktionssysteme vollständig unabhängig arbeiten. Das ist zwar nicht falsch, entspricht aber nur einer Seite der Medaille. In dem folgenden Abschnitt wird erläutert, wieso die Unabhängigkeit der Funktionssysteme nur mit einer höheren Abhängigkeit einhergeht. Es werden die systemtheoretischen Begriffe „Interpenetration“, „strukturelle Kopplung“ und „Resonanz“ erläutert.
Mit dem Übergang von einer stratifizierten zu einer differenzierten Gesellschaft haben sich verschiedene Teilsysteme der Gesellschaft gebildet, die nur die Funktion für einen ganz bestimmten Bereich in der Gesellschaft übernehmen. Durch diese Ausdifferenzierung hat die Gesellschaft eine enorme Leistungsfähigkeit und Komplexität erreicht. Gleichzeitig führt dies aber auch zu Problemen der Integration, die darin bestehen, dass die Funktionssysteme eine begrenzte Resonanzfähigkeit gegenüber anderen Funktionssystemen und der Umwelt aufweisen (Luhmann 1986, S. 74).
Differenzierung bedeutet nicht nur eine Steigerung der Komplexität, sondern durch sie wird auch Komplexität reduziert. Jedes Teilsystem stellt einen Teil der Gesamtkomplexität dar. Dadurch kann sich das Teilsystem „entlastet fühlen, dass viele Erfordernisse der Gesamtsystemreproduktion anderswo erfüllt werden.“ (Luhmann 1984, S. 262)
Das System gewinnt seine Freiheit und seine Autonomie der Selbstregulierung durch Indifferenz gegenüber seiner Umwelt. Deshalb kann man die Ausdifferenzierung eines Systems auch beschreiben als Steigerung der Sensibilität für Bestimmtes (intern Anschlussfähiges) und Steigerung der Insensibilität für alles Übrige – also Steigerung von Abhängigkeit und von Unabhängigkeit. (Luhmann 1984, S. 250)
Diese Ausdifferenzierung macht das System jedoch komplexer, was bedeutet, dass die Umwelt der anderen Systeme wiederum komplexer wird und sie zu einer weiteren Ausdifferenzierung zwingt (Luhmann 1984, S. 250).
Das bringt uns zur Hypothese eines evolutionären Zusammenhangs von Unsicherheitsamplifikation und Ausdifferenzierung – eines Zusammenhangs, der seine eigene Steigerbarkeit impliziert, da die Ausdifferenzierung und Denaturalisierung des Verhaltens die Unsicherheit des Erwartens erhöht und dadurch umso stärkere Abstützung auf Erwartungserwartungen erfordert, die wiederum die Ausdifferenzierung vorantreibt. (Luhmann 1984, S. 415)
Durch die Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Funktionssysteme entsteht eine gegenseitige Abhängigkeit, da sich die Systeme nur differenzieren können, wenn sie voraussetzen können, dass alle anderen gesellschaftlichen Funktionen von anderen Systemen übernommen werden (Luhmann 1986, S. 86).
Durch ihre Spezialisierung kann die Autopoiesis immer unabhängiger von den anderen Funktionssystemen durchgeführt werden. Gleichzeitig werden sie aber dadurch immer abhängiger von den anderen Funktionssystemen, da die Funktionssysteme zur Erbringung ihrer Funktion auf die Funktion der anderen Systeme angewiesen sind (Luhmann 2000, S. 396).
Funktionssysteme reduzieren ihre Operation auf die eigene Funktion, weshalb die Systeme sich nicht gegenseitig ersetzen können. Wird die Grenze der Systeme aufgehoben, werden auch die Vorteile der Ausdifferenzierung aufgehoben (Luhmann 1986, S. 207 f.).
Funktionssysteme sind auf die Leistung der anderen Funktionssysteme angewiesen. Ein Leistungsausfall in einem System kann zu dramatischen Folgen in einem anderen System führen, was insbesondere beim Verhältnis zwischen Politik und Wirtschaft deutlich wird (Luhmann 1986, S. 222 f.).
Da jedes System eine eigene Funktion für die Gesellschaft erfüllt, müssen alle Funktionssysteme im gleichen Maße ihre Funktion vollziehen können, damit die gesellschaftliche Reproduktion gewährleistet werden kann. Die Funktionssysteme sind also auch voneinander abhängig, da sie auf eine funktionierende Gesellschaft angewiesen sind (Melde 2012, S. 58).
Mit der Interpenetration wird beschrieben, wie ein System auf die Komplexität des anderen Systems zugreifen kann und dadurch die Komplexität nicht selbst aufbauen muss (Luhmann 1984, S. 290).
Erst durch Interpenetration wird es möglich, dass sich ein emergentes System bildet, bei dem das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Eine Generalisierung in Form von Normen kann die Interpenetration erleichtern (Luhmann 1984, S. 311 f.).
Da Normen abstrakt alle Erwartungen der Gesellschaft implizieren, kann bei den Einschränkungen oder Fokussierungen eines Systems auf sie Bezug genommen und die Funktion von anderen Systemen berücksichtigt werden, ohne dass zu jedem anderen System einzeln eine Interpenetration aufgebaut wird.
Komplexitätsverarbeitung kann nur durch eine Einschränkung in einem System erfolgen, indem sich das System auf eine Generalisierung bezieht, in der auch die Einschränkungen der anderen Systeme enthalten sind. Denn nur durch eine gegenseitige Abstimmung der Einschränkungen, ohne dass die Systeme einzeln jeweils in Kontakt treten, kann ein emergentes System entstehen (Willke 1993, S. 144 ff.).
Während Interpenetration erklärt, welchen Vorteil die Ausdifferenzierung hat, beschreibt strukturelle Kopplung, wie die Funktionssysteme miteinander interagieren können. Mittels struktureller Kopplungen werden die Systeme zwar gegenseitig beeinflusst, aber nicht direkt miteinander gekoppelt. Sie wirken nicht direkt auf die Autopoiesis und den Strukturaufbau, sondern sie beeinflussen Systeme nur langfristig und bewirken daher nur einen allmählichen Wandel. Bei ausdifferenzierten Systemen können ganz unterschiedliche strukturelle Kopplungen auftreten. So ist das Wissenschafts- und Wirtschaftssystem beispielsweise durch neues technisches und ökonomisches Wissen miteinander gekoppelt, Entsprechendes gilt für das Wirtschaftssystem und das Rechtssystem hinsichtlich des Eigentums- und Vertragsrechts (Luhmann 2000, S. 397). Organisationen sind eine wichtige Voraussetzung dafür, eine strukturelle Kopplung zwischen gesellschaftlichen Funktionssystemen zu ermöglichen. Strukturelle Kopplungen werden bei ausdifferenzierten Funktionssystemen auf der Ebene des Gesellschaftssystems notwendig, da die Abhängigkeiten und Unabhängigkeiten zwischen ihnen kontinuierlich zunehmen.
Aber sie wären in der notwendigen Komplexität und Differenziertheit kaum möglich, wenn es nicht Organisationen gäbe, die Information raffen und Kommunikation bündeln können und so dafür sorgen können, dass die durch strukturelle Kopplungen erzeugte Dauerirritation der Funktionssysteme in anschlussfähige Kommunikation umgesetzt wird. (Luhmann 2000, S. 400)
Systeme werden durch Irritationen in der Umwelt beeinflusst. Wenn dies vom System wahrgenommen wird, führt das zu Resonanz im System. Durch diese Irritationen entstehen Strukturen, mit denen die Fortsetzung der Autopoiesis sichergestellt werden kann. Systeme können nur solche Irritationen verarbeiten, die mit dem eigenen Systemcode kompatibel sind. Funktionssysteme haben dadurch in manchen Bereichen eine sehr hohe Resonanz, während in allen anderen Bereichen keine Resonanz entsteht (Luhmann 1986, S. 36 ff.).
Zwar scheinen sowohl Organisationen als auch Funktionssysteme unabhängig voneinander zu operieren, allerdings können sie nicht ohne den anderen existieren. Funktionssysteme sind auf die Operationen der Organisation angewiesen.
Ohne Organisationen wären alle Funktionssysteme miteinander direkt gekoppelt und jede Veränderung in einem Funktionssystem würde sich sofort auf alle anderen Systeme auswirken. Erst durch Organisationen werden diese Interdependenzen unterbrochen. Durch Entscheidungen und den Bezug auf bereits getroffene Entscheidungen sorgen die Organisationen als Interdependenzunterbrecher für Stabilität (Luhmann 2000, S. 395 ff.). Organisationen reduzieren die Unsicherheit der Funktionssysteme (Luhmann 2000, S. 221).
Da Organisationen über die Programme der Funktionssysteme entscheiden, haben sie von den sozialen Systemen das höchste Potenzial für eine Koordination und Integration der Gesellschaft. Organisationen können nicht nur einem einzigen Funktionssystem zugeordnet werden, sondern bilden in der Umwelt der Funktionssysteme eine eigenständige Systemebene. Sie können an unterschiedlichen Funktionssystemen gleichzeitig beteiligt sein, wodurch sie auch in der Lage sind, über die Grenzen der Funktionssysteme hinweg zu kommunizieren und andere Systeme zu beeinflussen (Melde 2012, S. 75 ff.). Funktionssysteme sorgen für Veränderung, während Organisationen für Stabilität sorgen (Japp 1996, S. 43).
Luhmann unterscheidet zwischen Interaktion, Organisation und ausdifferenziertem Funktionssystem. Netzwerke ähneln zwar Interaktionssystemen, aber sie unterscheiden sich in einem wesentlichen Punkt.
Während bei Interaktionen eine Kommunikation nur unter Anwesenden möglich ist, besteht bei Netzwerken auch die Möglichkeit der Kommunikation mit Abwesenden. Da Netzwerke keine Interaktionen darstellen, heißt das aber nicht, dass sie mit Gesellschaft gleichgesetzt werden können, denn dies würde voraussetzen, dass alle Kontakte mit allen Kontakten verknüpft sind (Holzer 2011, S. 52).
Im Gegensatz zu den ausdifferenzierten Funktionssystemen können Netzwerke eher als lose Kopplung betrachtet werden. Netzwerke können innerhalb von Funktionssystemen entstehen oder diese miteinander verknüpfen, weshalb sie quer zu den Grenzen der Funktionssysteme stehen (Tacke 2011a, S. 90 ff.).
Netzwerk und Systeme können als komplementär betrachtet werden. In der differenzierten Gesellschaft mussten bestehende Netzwerke erst aufgelöst werden, bevor die hochspezialisierten Funktionssysteme überhaupt entstehen konnten (Japp 2011, S. 270).
Andererseits entstehen Netzwerke erst durch die ausdifferenzierten Funktionssysteme, die mit ihrer sehr spezialisierten Arbeitsweise offene Räume entstehen lassen, die nicht von ihnen bearbeitet werden und die dann erst von Netzwerken besetzt werden können (Bommes und Tacke 2011a, S. 47).
Netzwerke sind auf die Existenz von Funktionssystemen angewiesen, weshalb sie als sekundäre Ordnungsform bezeichnet werden (Bommes und Tacke 2011a, S. 28). Alle sozialen Systeme, also Interaktion, Organisation, soziale Bewegungen, Funktionssysteme und Gesellschaft, erzeugen identitätsbezogene Erwartungen, wodurch soziale Netzwerke auf jeder dieser unterschiedlichen Ebenen entstehen können. Netzwerke können sich sowohl in, zwischen als auch unterhalb von Interaktionssystemen, Organisationen und Funktionssystemen ergeben (Fuhse 2009, S. 307 ff.).
Im Gegensatz zu Funktionssystemen scheinen Netzwerke und Organisationen auf den ersten Blick sehr viele Gemeinsamkeiten zu haben. Allerdings gibt es grundsätzliche Unterschiede. Eine Gemeinsamkeit zwischen Organisation und Netzwerken besteht darin, dass beide quer zu Funktionssystemen entstehen können (Tacke 2011a, S. 90). Eine weitere Gemeinsamkeit besteht darin, dass beide mit Rekursivität arbeiten. Während die Organisation mit Entscheidungen auf weitere Entscheidungen verweist, besteht das Netzwerk aus Verweisungen von Adressen auf weitere Adressen, die mit reziproken Erwartungen verknüpft sind (Bommes und Tacke 2011a, S. 46). Netzwerke sind aber keine Alternative zu Organisationen, sondern bilden eine eigene Ordnungsform.
Während in Organisationen funktionsspezifische Rollen und Programme übernommen werden, entstehen Netzwerke meist genau dann, wenn Rollen und Programme nur eingeschränkt festgelegt sind. Netzwerke können die funktionsspezifische Kommunikation ergänzen oder auch vollständig ersetzen, falls die funktionsspezifische Kommunikation komplett versagt (Tacke 2011a, S. 94 f.).
Zwar erhalten sich soziale Systeme als autopoietische Systeme selbst, allerdings sind sie in Form von Intrapenetration, strukturellen Kopplungen und Irritationen auf andere Systeme angewiesen. Eine Veränderung der Operationsweise von gesellschaftlichen Funktionssystemen kann insbesondere durch Organisationen erfolgen. Netzwerke liegen quer zu sozialen Systemen, wodurch sie funktionsspezifische Kommunikation ergänzen oder ersetzen können.
Zusammenfassend werden für eine gesellschaftliche Steuerung meist drei wesentliche Steuerungsformen unterschieden, deren Funktionen in der Systemtheorie beschrieben werden können. Eine Auseinandersetzung mit Hierarchie erfolgt in der Systemtheorie innerhalb des sozialen Systems der Organisation. Der Markt wird als Teil der Wirtschaft innerhalb eines gesellschaftlichen Funktionssystems beschrieben. Zwar werden als dritte Variante Gemeinschaft und Netzwerke genannt – da der Netzwerkbegriff aber eine höhere Anschlussfähigkeit in der Systemtheorie hat, liegt der Fokus auf Netzwerken. Netzwerke können durch das soziale System einer Interaktion entstehen.
In der Systemtheorie wird die Wirtschaft nicht wie in den meisten wirtschaftswissenschaftlichen Theorien als ein triviales System, sondern als ein komplexes System dargestellt, das sich durch Autopoiesis selbst erhält. Die Funktion der Wirtschaft besteht nicht in der Befriedigung von Bedürfnissen, sondern in der Auflösung des Knappheitsparadoxes. Sie muss sicherstellen, dass Güter heute so verteilt werden, dass gleichzeitig auch eine stabile Vorsorge für die Zukunft erfolgt. Zur Steuerung der Knappheit arbeitet das Wirtschaftssystem sowohl mit der Differenz Eigentum/kein Eigentum als auch mit derjenigen von Zahlungsfähigkeit/Zahlungsunfähigkeit. Der Reentry der Differenz zwischen Wirtschaft und Gesellschaft erfolgt durch den Markt und Preise. Der Markt ist die wirtschaftsinterne Umwelt des Wirtschaftssystems, wodurch es sich selbst beobachten kann. Mithilfe von Preisen erfolgt eine Reduktion der Umweltkomplexität, da nur das berücksichtigt wird, was einen Einfluss auf Preise hat. Programme entscheiden über die Zahlungsfähigkeit. So wird beispielsweise die Rentabilität definiert, durch die die Knappheiten verteilt werden. Der Umgang mit Knappheiten erfolgt im Wirtschaftssystem daher durch Selbststeuerung.
Der Geldmarkt stellt einen Eigenmarkt der Wirtschaft dar, der sich selbstreferenziell entwickelt. Eine tautologische Selbstreferenz wird durch einen Bezug auf die Struktur aus Zentralbanken, Geschäftsbanken und Kunden verhindert. Der Geldmarkt wirkt in alle anderen Märkte und hat die Funktion, die zeitliche Differenz zwischen Einnahmen und Ausgaben zu überbrücken. Banken handeln mit Zahlungsversprechen und identifizieren das Risiko für einen Ausfall von Zahlungsversprechen, das auf Basis von Entscheidungen entsteht. Die Risiken werden in einem Netzwerk von Risikostrukturen, Risikomanagement und Risikoinstrumenten verarbeitet. Die Probleme des Knappheitsparadoxes in der sachlichen und sozialen Dimension können mithilfe einer zeitlichen Dimension (eine Verschiebung in die Zukunft) aufgelöst werden. Das Finanzsystem operiert mit Zahlungsfähigkeit.
Die Funktion von Unternehmersystemen beruht darauf, die Zahlungsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Ein Routineunternehmersystem sorgt für eine effiziente Ressourcenallokation. Das Abitrageunternehmersystem identifiziert und reduziert Bewertungsunterschiede. Das Innovationsunternehmersystem setzt Neukombinationen durch. Dazu gehören Finanzunternehmersysteme, die Finanzkapital zur Verfügung stellen, und die realen Unternehmersysteme, die mithilfe des Finanzkapitals Produkte und Dienstleistungen bereitstellen. Das Evolutionsunternehmersystem erzeugt Reflexion und sorgt für die Weiterentwicklung der Kompetenzen im Wirtschaftssystem.
Innovationen können sowohl positiv als auch negativ sein. Für die Durchsetzung von Innovationen müssen die Vorteile betont werden. Diese Scheinsicherheit kann durch abstraktere Erwartungen erzeugt werden.
Aus Sicht der Systemtheorie gilt nicht die Neutralität des Geldes, da das Finanzsystem Einfluss auf die Realwirtschaft hat. Für eine wachsende Wirtschaft, die neue Innovationen hervorbringt, ist Geldschöpfung notwendig. Sie erzeugt neue Kaufkraft, mit der Produktionsfaktoren aus ihrer bisherigen Verwendung gelöst und zu Innovationen neu kombiniert werden können. Die Paradoxie besteht darin, dass ein Kredit und Guthaben immer gleichzeitig erzeugt werden. Damit der Kredit nicht nur zu einem höheren allgemeinen Preisniveau führt, muss das geschöpfte Geld dem Unternehmersystem zur Verfügung gestellt werden, da ein Mehrwert erzeugt werden muss. Entscheidend dafür ist die Zeitdifferenz zwischen Ausgaben und Einnahmen. Denn aus gesamtwirtschaftlicher Sicht muss nach den Ausgaben für die Produktionsfaktoren neues Geld geschöpft werden, das es ermöglicht, einen Gewinn bzw. Wirtschaftswachstum zu einem späteren Zeitpunkt zu erzeugen. Dieses Geld muss beispielsweise innerhalb der zeitlichen Differenz durch neue Ausgaben Löhnen zugegangen sein, die zu einem späteren Zeitpunkt zusätzliche Ausgaben ermöglichen. Neben der Schaffung von neuer Kaufkraft besteht die Funktion des Finanzsystems weiterhin in der Verarbeitung von Risiken, da immer das Risiko besteht, dass der erhoffte Mehrwert nicht erzielt wird und damit die Zahlungsfähigkeit gefährdet ist. Mit dieser Differenz von Chancen und Risiken hat die Finanzwirtschaft eine hohe Steuerungswirkung in Bezug auf die Ressourcenallokation der Realwirtschaft und die Auflösung des Knappheitsparadoxes in der Wirtschaft.
Organisationstheorien haben im Zeitverlauf den Fokus von geschlossenen Organisationen und deren starrer Hierarchie auf flexiblere Ansätze verlagert, die eine breitere Offenheit gegenüber Umwelteinflüssen aufweisen.
Aus systemtheoretischer Sicht besteht die Paradoxie von Organisationen darin, dass sie geschlossen und offen zu gleich sind.
Organisationen erhalten sich selbst durch Entscheidungen, die kommuniziert werden. Der Möglichkeitsraum für Entscheidungen wird durch Entscheidungsprämissen eingeschränkt. Durch Hierarchie wird eine Entscheidung autoritär getroffen, wodurch sie nicht weiter hinterfragt wird. Im Systemgedächtnis werden die Entscheidungen gespeichert, die in der Vergangenheit getroffen wurden. Eine Unsicherheitsabsorption erfolgt, indem sich Entscheidungen auf getroffene Entscheidungen beziehen.
Organisationen müssen jedoch auch ihre Umwelt wahrnehmen, damit sie Irritationen erhalten, die einen Anlass für weitere Entscheidungen geben. Die Beobachtung der Umwelt erfolgt durch Selbstbeobachtung mit Hilfe der Differenz von Selbstreferenz und Fremdreferenz. Damit die Organisation nicht an dem bisherigen Erfolg und getroffenen Entscheidungen scheitert, muss sie selbst für Unsicherheiten sorgen, die die bisherigen Erfahrungen stören. Entscheidungen werden besonders durch Personen, die Personalentscheidung treffen, und die Unternehmenskultur geprägt, da sie unentscheidbare Entscheidungsprämissen darstellen.
Strukturveränderungen innerhalb der Organisation werden durch Reformen und Innovationen beobachtbar. Da Veränderung sowohl positive als auch negative Folgen haben kann, werden zur Beschreibung von Veränderungen Begriffe wie Innovation verwendet, die die positive Seite der Veränderung hervorheben. Da die Zukunft ungewiss ist, werden Ziele oftmals vage formuliert. Auch wenn die Zielerreichung ungewiss ist, kann die Organisation durch eine Änderung der Entscheidungsprämissen Einfluss auf die eher zufällige Evolution der Organisation nehmen.
Da die Theorien der organisatorischen Pfadabhängigkeiten ähnlich wie die Systemtheorie von einem evolutorischen Entwicklungsverständnis von Organisation ausgehen, bieten sie gute Erklärungsansätze, um zu beschreiben, wie die Organisation und deren Hierarchie durch bewusste Eingriffe in ihrer Entwicklung beeinflusst werden können. Während die Systemtheorie bei bewussten Veränderungen von Reformen spricht, entsprechen intendierte Eingriffe aus Sicht der Pfadabhängigkeit kleinen zufälligen Ereignissen, die zu einer Veränderung von Strukturen und damit auch der Entscheidungen in der Organisation führen können.
Eine systemtheoretische Perspektive auf Netzwerke hat den Vorteil, dass Netzwerke nicht als Grundlage einer gesellschaftlichen Theorie verstanden werden, die alles umfasst. Vielmehr seien Netzwerke als eine besondere Steuerungsform zu betrachten. Sie können innerhalb und zwischen Organisationen oder innerhalb von Funktionssystemen entstehen. Netzwerke in der modernen Gesellschaft verbinden unterschiedliche soziale Systeme, wodurch Nachteile der Ausdifferenzierung kompensiert werden können. Durch die Verwendung von polykontexturalen Adressen können Personen oder Organisationen in mehreren Funktionsbereichen der Gesellschaft oder mehreren Kontexten teilnehmen. Netzwerke zeichnen sich gegenüber Systemen besonders durch ihre Heterogenität aus. Durch Reziprozität werden Leistungen eingebracht, im Vertrauen zu einem späteren Zeitpunkt eine Gegenleistung zu erhalten. Dadurch erhält ein Netzwerk seine Stabilität.
Netzwerke weisen eine enge Verbindung zum Sozialkapital auf, das auch als Kapitalform betrachtet werden kann. Der Unterschied zu Arbeit und Kapitel besteht darin, dass eine Investition von Sozialkapital zu mehr und nicht zu weniger Sozialkapital führt. Sozialkapital entsteht durch ein gemeinschaftliches Netzwerk, das zugleich offen und geschlossen ist. Sozialkapital reproduziert sich selbst. Sozialkapital kann dabei helfen, individuelle Interessen durchzusetzen. Allerdings sind innerhalb einer Gemeinschaft gleiche Werte und Normen notwendig. Netzwerkartige Gemeinschaften können durch institutionelle Rahmenbedingungen beeinflusst werden.
Durch die Ausdifferenzierung der Gesellschaft sind selbstreferenzielle Funktionssysteme entstanden. Sie operieren unabhängig, wodurch sie sehr komplex werden konnten. Gleichzeitig besteht eine Herausforderung der Integration, da Funktionssysteme Komplexität reduzieren, indem sie eine Indifferenz gegenüber einem Großteil der Umwelt erzeugen. Da sie jedoch nur eine spezielle Funktion in der Gesellschaft übernehmen, sind sie auf die Funktion der anderen gesellschaftlichen Funktionssysteme angewiesen. Durch die zunehmende Unabhängigkeit entsteht zugleich eine höhere Abhängigkeit von anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen. Funktionssysteme sind für ihre Funktion daher darauf angewiesen, dass auch die anderen Funktionssysteme funktionieren.
Durch Interpenetration können Funktionssysteme auf die Komplexität der anderen Funktionssysteme zugreifen, ohne sie selbst erzeugen zu müssen. Normen erhalten Erwartungen der Gesellschaft, sodass keine Interpenetration mit allen Systemen notwendig ist. So kann die gesellschaftliche Komplexität berücksichtigt werden, ohne sie selbst erzeugen zu müssen.
Strukturelle Kopplungen beschreiben den gegenseitigen Einfluss von Systemen. Durch Organisationen können strukturelle Kopplungen zwischen gesellschaftlichen Funktionssystemen stattfinden.
Systeme werden durch Irritationen der Umwelt beeinflusst. Sie reagieren mit Resonanz auf die Irritationen, die mit ihrem Systemcode kompatibel sind. Gesellschaftliche Funktionssysteme sind auf Organisationen angewiesen, da eine direkte Kopplung zwischen Funktionssystemen zu einer sofortigen Änderung führen würde. Organisationen sorgen als Interdependenzunterbrecher für Stabilität. Sie ermöglichen eine gesellschaftliche Koordination und Integration, da sie mehreren Funktionssystemen zugehörig sein können.
Netzwerke weisen gegenüber den festen Kopplungen der gesellschaftlichen Funktionssysteme eher lose Kopplungen auf. Sie können sowohl innerhalb als auch zwischen Funktionssystemen bestehen und Interaktionssysteme, Organisationen und Funktionssysteme miteinander verbinden.
Zwar können auch Organisationen innerhalb und zwischen Funktionssystemen bestehen, allerdings übernehmen Netzwerke, im Gegensatz zu Organisationen, nicht funktionsspezifische Rollen und Programme. Sie können deshalb funktionsspezifische Kommunikation ergänzen oder ersetzen.

2.3 Zwischenfazit

Da der Einfluss der Nachhaltigkeitsratings auf eine nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft einen komplexen Steuerungsprozess impliziert, wird eine systemtheoretische Governanceperspektive eingenommen. Die Beschreibung der systemtheoretischen Grundlagen macht nachvollziehbar, wie komplexe Systeme operieren und die systemtheoretische Beschreibung der gesellschaftlichen Steuerungsformen bildet die Basis, um die Steuerungsmöglichkeiten der Nachhaltigkeitsratings zu erkennen.
Soziale Systeme sind nicht-triviale Systeme, die so komplex sind, dass sie nicht verstanden werden können. Als autopoietische Systeme gehören sie zu den Sinnsystemen. Sinn entsteht bei sozialen Systemen durch Kommunikation, die durch Irritationen aus der Umwelt veranlasst werden. Für die Aufrechterhaltung der Autopoiesis müssen sich Systeme selbst beobachten. Die Beobachtung von Systemen erfolgt durch eine Differenz von System und Umwelt. Da die Umwelt eigentlich viel zu komplex ist, lösen Systeme die Paradoxie durch ein Reentry der Differenz von System und Umwelt. Mithilfe eines systemspezifischen Codes wird die Umweltkomplexität reduziert, und es entsteht eine Geschlossenheit der autopoietischen Systeme. Programme, die über den Code entscheiden, erzeugen Offenheit, wodurch die Umwelt wahrgenommen werden kann. Da die Umwelt immer komplexer ist als das System, muss die Umwelt vereinfacht werden. Die Strukturen, die darüber bestimmen, wie das System beobachtet, sind durch Evolution entstanden. Sie schränken den Möglichkeitsraum der Kommunikation ein und bestimmen daher darüber, wie neuer Sinn entsteht. Bei Widersprüchen können Strukturen angepasst werden, die die Autopoiesis in eine andere Richtung lenkt.
Die zentrale Problemstellung der Systemtheorie ist Sinn, der durch die Auflösung der Differenz zwischen Aktualität und Potenzialität entsteht. Für die Erzeugung von neuem Sinn muss in der sozialen Dimension Kontingenz reduziert werden. Situationen mit hoher Kontingenz lassen sich auflösen, indem Erfahrungen aus der Vergangenheit herangezogen werden oder ein eher zufallsgesteuertes Trial-and-Error-Verfahren Verwendung findet oder eine Generalisierung eine Einheit herstellt und so den Möglichkeitsraum einschränkt.
Üblicherweise werden bei einer gesellschaftlichen Steuerung die Steuerungsformen „Markt“, „Hierarchie“, „Gemeinschaft“ oder „Netzwerke“ unterschieden. Die Systemtheorie beschreibt detailliert, wie diese Steuerungsformen sich in der Gesellschaft verorten. Der Markt gehört zum gesellschaftlichen Funktionssystem der Wirtschaft.
Die Funktion der Wirtschaft besteht nicht in der Befriedigung von Bedürfnissen, sondern in der Auflösung des Knappheitsparadoxes. Sie muss sicherstellen, dass Güter heute so verteilt werden, dass eine stabile Vorsorge für die Zukunft erfolgt. Zur Steuerung der Knappheit arbeitet das Wirtschaftssystem sowohl mit der Differenz Eigentum/kein Eigentum, als auch mit Differenz von Zahlen und Nichtzahlen. Der Reentry der Differenz zwischen Wirtschaft und Gesellschaft erfolgt durch den Markt und Preise. Der Markt ist die wirtschaftsinterne Umwelt des Wirtschaftssystems, wodurch es sich selbst beobachten kann. Das Finanzsystem operiert mit Zahlungsfähigkeit. Der Geldmarkt stellt einen Eigenmarkt der Wirtschaft dar, der sich selbstreferenziell entwickelt. Der Geldmarkt wirkt in alle anderen Märkte und hat die Funktion, die zeitliche Differenz zwischen Einnahmen und Ausgaben zu überbrücken. Banken handeln mit Zahlungsversprechen und identifizieren das Risiko eines Ausfalls von Zahlungsversprechen. Die Funktion von Unternehmersystemen besteht darin, die Zahlungsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Aus Sicht der Systemtheorie gilt nicht die Neutralität des Geldes, da das Finanzsystem Einfluss auf die Realwirtschaft hat. Neben der Schaffung von neuer Kaufkraft, mit der Produktionsfaktoren aus ihrer bisherigen Verwendung gelöst und zu Innovationen neu kombiniert werden können, besteht die Funktion des Finanzsystems in der Verarbeitung von Risiken, da immer das Risiko besteht, dass der erhoffte Mehrwert nicht erzielt wird und damit die Zahlungsfähigkeit gefährdet ist. Mit dieser Differenz aus Chancen und Risiken hat die Finanzwirtschaft eine hohe Steuerungswirkung in Bezug auf die Ressourcenallokation der Realwirtschaft und die Auflösung des Knappheitsparadoxes in der Wirtschaft.
Die Hierarchie befindet sich in Organisationen. Organisationen erhalten sich selbst durch Entscheidungen, die kommuniziert werden. Der Möglichkeitsraum für Entscheidungen wird durch Entscheidungsprämissen eingeschränkt. Durch Hierarchie wird eine Entscheidung autoritär getroffen, wodurch sie nicht weiter hinterfragt wird. Eine Unsicherheitsabsorption erfolgt, indem Entscheidungen sich auf getroffene Entscheidungen beziehen. Organisationen müssen jedoch auch ihre Umwelt wahrnehmen, damit sie Irritationen erhalten, die einen Anlass für weitere Entscheidungen geben. Die Beobachtung der Umwelt erfolgt durch eine Selbstbeobachtung mit einer Differenz aus Selbstreferenz und Fremdreferenz. Strukturveränderungen innerhalb der Organisation werden durch Reformen und Innovationen beobachtbar. Auch wenn die Zielerreichung ungewiss ist, kann die Organisation durch eine Änderung der Entscheidungsprämissen Einfluss auf die eher zufällige Evolution der Organisation nehmen. Da die Theorien der organisatorischen Pfadabhängigkeiten ähnlich wie die Systemtheorie von einem evolutorischen Entwicklungsverständnis von Organisationen ausgehen, bieten sie gute Ansatzmöglichkeiten, um die Organisation und ihre Hierarchie durch bewusste Eingriffe in ihrer Entwicklung zu beeinflussen.
Netzwerke entstehen durch Interaktion von sozialen Systemen. Eine systemtheoretische Perspektive auf Netzwerke hat den Vorteil, dass Netzwerke nicht als Grundlage einer gesellschaftlichen Theorie verstanden werden, die alles umfasst. Vielmehr können Netzwerke als eine besondere Steuerungsform betrachtet werden und innerhalb sowie zwischen Organisationen oder innerhalb von Funktionssystemen entstehen. Netzwerke in der modernen Gesellschaft verbinden unterschiedliche soziale Systeme, wodurch Nachteile der Ausdifferenzierung kompensiert werden können. Durch die Verwendung von polykontexturalen Adressen können Personen oder Organisationen an mehreren Funktionsbereichen der Gesellschaft oder mehreren Kontexten teilnehmen, wodurch sie systemübergreifend kommunizieren können. Sozialkapital entsteht durch ein gemeinschaftliches Netzwerk, das zugleich offen und geschlossen ist, und reproduziert sich selbst. Netzwerkartige Gemeinschaften können durch institutionelle Rahmenbedingungen beeinflusst werden.
Die Systemtheorie bietet auch Ansätze, wie die verschiedenen Steuerungsformen der Gesellschaft miteinander interagieren können. Durch die Ausdifferenzierung operieren gesellschaftliche Funktionssysteme sehr autonom. Da sie aber auch auf die Funktionsweise der anderen gesellschaftlichen Funktionssysteme angewiesen sind, entsteht gleichzeitig eine höhere Abhängigkeit gegenüber den anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen. Funktionssysteme sind für ihre Funktion daher darauf angewiesen, dass auch die anderen Funktionssysteme funktionieren. Durch Interpenetration können Funktionssysteme auf die Komplexität der anderen Funktionssysteme zugreifen, ohne sie selbst erzeugen zu müssen. Strukturelle Kopplungen beschreiben einen gegenseitigen Einfluss von Systemen. Durch Organisationen können strukturelle Kopplungen zwischen gesellschaftlichen Funktionssystemen stattfinden. Gesellschaftliche Funktionssysteme sind auf Organisationen angewiesen, da eine direkte Kopplung zwischen Funktionssystemen zu einer sofortigen Änderung führen würde. Organisationen sorgen als Interdependenzunterbrecher für Stabilität. Sie ermöglichen eine gesellschaftliche Koordination und Integration, da sie mehreren Funktionssystemen zugehörig sein können. Netzwerke weisen gegenüber den festen Kopplungen der gesellschaftlichen Funktionssysteme eher lose Kopplungen auf. Sie können sowohl innerhalb als auch zwischen Funktionssystemen bestehen und Interaktionssysteme, Organisationen und Funktionssysteme miteinander verbinden. Sie können dadurch funktionsspezifische Kommunikation ergänzen oder ersetzen.
Die Selbsterhaltung von Systemen wird durch neuen Sinn ermöglicht, der auf weiteren Sinn verweist. In komplexen sozialen Systemen muss dafür Kontingenz reduziert werden.
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Metadaten
Titel
Selbsterhaltung von Systemen durch neuen Sinn
verfasst von
Christian Strangalies
Copyright-Jahr
2024
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-44078-7_2