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20.06.2013 | Fahrzeugtechnik | Schwerpunkt | Online-Artikel

Simulation von Straßenverkehr: effiziente Regellosigkeit

verfasst von: Christiane Brünglinghaus

4 Min. Lesedauer

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Der Straßenverkehr in Europa ist hochgradig geregelt. Autos bewegen sich innerhalb markierter Fahrstreifen, Fahrstreifenwechsel dienen der effizienten Fortbewegung. Anders in vielen asiatischen Metropolen. Hier ist die Ordnung im Straßenverkehr viel schwächer ausgeprägt. Auf vorgegebene Fahrstreifen wir oft keine Rücksicht genommen.

Ein solches Verkehrssystem sieht auf den ersten Blick chaotisch und ineffizient aus. Doch stimmt das? Um das herauszufinden, haben Professor Dr.-Ing. Heike Emmerich, die an der Universität Bayreuth den Lehrstuhl für Material- und Prozesssimulation leitet, und ihr Kollege Professor Dr. Hamid Assadi, der an der Tarbiat Modares Universität in Teheran lehrt und zurzeit am Max-Planck-Institut für Eisenforschung in Düsseldorf tätig ist, ein komplexes Modell entwickelt. Dieses soll es ermöglichen, die Auswirkungen einer mehr oder weniger ausgeprägten Fahrstreifen-Disziplin auf den Straßenverkehr zu berechnen.

Kann effizient sein: Straßenverkehr ohne Fahrstreifen-Disziplin

Und die Ergebnisse überraschen: Falls sehr viele Fahrzeuge unterwegs sind, erweist sich ein ungeregeltes System, in dem die Verkehrsteilnehmer sich nicht an vorgegebene Fahrstreifen halten, sondern offensiv in jeweils freie Lücken vorstoßen, als außerordentlich effizient, erläutern die Wissenschaftler. Denn ein solches Fahrverhalten führe in Summe dazu, dass pro Zeiteinheit eine große Zahl von Fahrzeugen die Straßen passieren kann. Die wechselseitige Toleranz für ungeregeltes Fahrverhalten fördere den zügigen "Durchsatz" der Fahrzeuge – allerdings bei einer sehr hohen Verkehrsdichte. Insofern sei sie eine intelligente Form, ein hohes Verkehrsaufkommen zu bewältigen.

Sogar ein völlig ungeregeltes System ist möglicherweise effizienter, als wenn alle Verkehrsteilnehmer den vorgegebenen Fahrstreifen folgen, erklären die Forscher weiter. Diese Berechnungen beziehen sich wiederum auf eine sehr hohe Verkehrsdichte und beruhen auf der Annahme, dass die einzuhaltenden Sicherheitsabstände nicht für alle Fahrzeuge und in allen Situationen gleich sind, sondern sich im fließenden Verkehr ständig ändern. Unter diesen Umständen sorge ein System, das sich für den Betrachter als komplettes Chaos darstellt, in Wirklichkeit dafür, dass die Verkehrsteilnehmer schnellstmöglich vorankommen.

Halbe Ordnung schadet

Hingegen sind diejenigen Verkehrssysteme am wenigsten effizient, die eine Mischung aus Ordnung und Unordnung bilden. Wenn sich die eine Hälfte der Verkehrsteilnehmer diszipliniert auf Fahrstreifen vorwärts bewegt, während die andere Hälfte derartige Vorgaben ignoriert, kommt der Verkehr nur noch schleppend voran. Eine "halbe" Ordnung sei daher für alle Beteiligten schlechter als völlige Regellosigkeit.

Was bedeuten diese Erkenntnisse nun für die Regelung des Verkehrsverhaltens? Welchen Einfluß haben diese Maßnahmen, die darauf abzielen, ein regelloses Verkehrsverhalten in ein hochgradig geregeltes Verkehrssystem zu überführen? Dazu erläutern die Wissenschaftler, dass derartige Maßnahmen zunächst einmal eine geringere Effizienz bewirken, wenn sich nicht alle Verkehrsteilnehmer schlagartig dem neuen System unterordnen, sondern schrittweise dafür gewonnen werden müssen. Dies wiederum könne, insbesondere bei hoher Verkehrsdichte, schnell dazu führen, dass die Einführung des neuen Systems scheitere. Denn wenn Verkehrsteilnehmer die Erfahrung machen, dass die auf stärkere Disziplin ausgerichteten Maßnahmen ein zügiges Vorankommen behindern, sinkt ihre Motivation, durch eigenes Verhalten ein hochgradig geregeltes System zu unterstützen, betonen die Forscher.

Nichtlineare Dynamik

Für ihre Studie haben Professor Emmerich und Professor Assadi ein spezielles Modell entwickelt, das ein sogenannter zellulärer Automat ist. Mit diesem Modell können sie mit Bezug auf unterschiedliche Grade der Verkehrsdichte ermitteln, wie sich eine hohe oder eine geringe Fahrstreifen-Disziplin auf die Effizienz des Gesamtsystems auswirkt. Bei ihren Entwicklungsarbeiten haben sie auf die Erfahrungen und Erkenntnisse zurückgegriffen, die sie in materialwissenschaftlichen Projekten gewonnen haben. "In beiden Fällen haben wir es mit einer nichtlinearen Dynamik zu tun, die sich nur mit wirklichkeitsnahen, auf die Vielfalt der möglichen Situationen zugeschnittenen Verfahren angemessen beschreiben lässt", erklärt Professor Emmerich. "Ob es sich bei den ‚Einheiten’, die zu dieser Dynamik beitragen, um Nanopartikel oder um Kraftfahrzeuge handelt, ist auf der abstrakten Ebene der Modellierung zweitrangig."

Mikroskopische und makroskopische Simulationsmodelle

Zur Verkehrssimulation können unterschiedliche Modellierungsansätze gewählt werden. Haben die beiden Wissenschaftler Emmerich und Assadi das Modell des zelullären Automaten gewählt, also einen mikroskopischen Ansatz, besteht auch die Möglichkeit, einen makroskopischen zu wählen. Straßenverkehr mikroskopisch aufgelöst führt zu einem diskreten Modell mit zellulären Automaten. Hierbei wird die Identifizierbarkeit der betrachteten Fahrzeuge vorausgesetzt (einzelne Autos als Entitäten, die an Ampeln etc. warten). Straßenverkehr makroskopisch betrachtet, heißt ihn kontinuierlich als Flüssigkeit in Straßenkanälen zu denken. Welcher Weg der angemessenere ist, hängt von der konkreten Aufgabenstellung ab.

Mit beiden Szenarien für Verkehr beschäftigen sich auch die Autoren Hans-Joachim Bungartz, Stefan Zimmer, Martin Buchholz und Dirk Pflüger in ihrem Buch Modellbildung und Simulation. Dabei stellen sie zunächst die makroskopische Simulation von Straßenverkehr mittels einfacher auf Differenzialgleichungen basierender Modelle vor. Auf zelluläre Automaten stützt sich dagegen die klassische mikroskopische Betrachtungsweise.

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