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2017 | Buch

Sternstunden der Mathematik

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Über dieses Buch

Der Titel dieses Buches über Mathematik ist ausgeborgt von Stefan Zweigs "Sternstunden der Menschheit". Dort geht es um Weltgeschichte, doch es sind nicht so sehr die allseits bekannten historischen Ereignisse, an die erinnert wird, sondern etwas verborgenere, in denen sich gleichwohl das Weltgeschehen fokussierte. Von solchen Ereignissen hat auch die Wissenschaft und besonders die Mathematik viele zu bieten.

Die Geschichten dieses Buches möchten mathematische Ideengeschichte nachzeichnen anhand einer sehr persönlich motivierten Auswahl von Ereignissen mit ihrem Vorher und Nachher, von Pythagoras bis Perelman. Der Weg von der Oberfläche zu einem tieferen Verstehen macht das Wesen der Mathematik aus, und besonders spektakuläre Durchbrüche dieser Art sind "Sternstunden". Will man sie verstehen, ist es gut, sich an die Quelle zu begeben, in die Zeit zu reisen, als der Durchbruch erzielt, die neuen Ideen geboren wurden, als man sich tastend und respektvoll auf ganz neues Gebiet vorwagte. Das Buch möchte zu einer Auseinandersetzung mit diesen Ideen anregen und dabei gleichermaßen mathematisch interessierte Laien und Fachleute ansprechen.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
1. Pythagoras: Verhältnis und Unendlichkeit (−500)
Zusammenfassung
Am Anfang der Mathematik steht die Zahl als Anzahl einer Menge von Gegenständen. Doch schon früh in der Menschheitsgeschichte trat neben das Zählen das Messen, mit dem ”unzählbare“ Größen miteinander verglichen werden konnten, Längen, Abstän- de, Volumina, Gewichte. Dies geschah mit der Methode der Wechselwegnahme, dem vielleicht ältesten Algorithmus der Mathematikgeschichte. Pythagoras erkannte die große Bedeutung dieses Verfahrens, durch das Größen durch Zahlen beherrschbar wurden; ”alles ist Zahl“, soll er gesagt haben. Doch die Anwendung der Zahlen über ihren ursprünglichen Bereich (das Zählen) hinaus auf das Vergleichen von Größen führte in eine Krise, als sich herausstellte, dass das Verfahren der Wechselwegnahme nicht immer abbrach (Entdeckung der Irrationalität). Von diesem Zeitpunkt an spielte das Unendliche in der Mathematik eine Rolle.
Jost-Hinrich Eschenburg
2. Theodoros: Wurzeln und Selbstähnlichkeit (−399)
Zusammenfassung
In Platons Dialog ”Theaitetos“ findet sich die Bemerkung, ein gewisser Theodoros habe die Irrationalität der Qudratwurzeln bis √17 ”durch Zeichnungen“ bewiesen, aber nicht weiter. Benno Artmann fand 1994 heraus, welche Zeichnungen Theodoros vermutlich angefertigt hat und warum die nachfolgende Wurzel √19 für ihn unerreichbar war. Diese verblüffend einfachen Figuren enthalten viel mehr als nur den Beweis der Irrationalität; aus ihnen lässt sich der Wert der Quadratwurzel mit beliebiger Genauigkeit ermitteln, denn sie kodieren den unendlichen Prozess der Wechselwegnahme für die Quadratwurzel im Verhältnis zu Eins. Der Prozess ist periodisch, was sich in der Selbstähnlichkeit der Figuren ausdrückt. Diese Eigenschaft wurde von Theodoros bis √17 beobachtet; erst über zwei Jahrtausende später hat Lagrange sie allgemein bewiesen. Wir geben ein sehr einfaches Argument dafür.
Jost-Hinrich Eschenburg
3. Archimedes: Rechnung mit dem Unendlichen (−212)
Zusammenfassung
Das Werk von Archimedes bildet einen Höhepunkt der antiken Mathematik. Das unerwünschte Unendliche, das seit der Entdeckung der Irrationalität in die Mathematik eingedrungen ist, wird bei ihm in eine Methode eingebaut, Flächeninhalte und Volumina von krumm berandeten Bereichen (Kreis, Kugel, Parabel, Spirale) exakt zu berechnen. So verdanken wir ihm die Erkenntnis, dass die Kugelfläche genau viermal so groß ist wie die Kreisfläche von gleichem Radius, und dass die Archimedische Spirale ein Drittel des Flächeninhalts ihres Umkreises umschließt, und er berechnet gute untere und obere Schranken der Kreiszahl π. Möglich werden diese Erkenntnisse, weil er physikalisch verstanden hat, dass Größe und Form bei Flächeninhalten und Volumina getrennt sind; das gleiche Volumen kann viele unterschiedliche Formen annehmen. Man kann es in viele Teile zerlegen, am Ende sogar in unendlich viele, und diese Zerlegung für seine Berechnung nutzbar machen. Damit ist Archimedes ein Pionier der Infinitesimalrechnung, die erst viele Jahrhunderte später voll entwickelt wurde.
Jost-Hinrich Eschenburg
4. Brunelleschi: Wo schneiden sich Parallelen? (1420)
Zusammenfassung
Zu den frühesten mathematischen Entdeckungen der heraufdämmernden Neuzeit gehört um 1420 die Zentralperspektive, die von dem Erbauer der Kuppel des Doms von Florenz gefunden wurde, Filippo Brunelleschi. Von nun an wird der Standpunkt des Betrachters in die Darstellung einbezogen. Diese Entdeckung hatte Wirkungen weit über Architektur und Malerei hinaus. Es war die Geburtsstunde eines neuen Zweiges der Geometrie, der Projektiven Geometrie. Wir stellen die Gesetze der perspektivischen Darstellung vor, ihre Entstehung aus der Zentralprojektion, die Albrecht Dürer sehr anschaulich beschrieben hat, und ihre Weiterentwicklung zur Projektiven Geometrie mit den Sätzen von Desargues und Pascal und dem (viel späteren) Begriff des Projektiven Raums.
Jost-Hinrich Eschenburg
5. Cardano: Kubische und quartische Gleichung (1545)
Zusammenfassung
Das Wort ”Algebra“ stammt aus dem Arabischen. Im arabisch-muslimischen Kulturkreis wurde im Mittelalter, besonders zwischen 700 und 1100, das Wissen aus der griechischen Antike und aus Indien gesammelt und weiterentwickelt. Die Algebra entstand dort als eigenes Gebiet neben der Geometrie, mit neuen Methoden, die den Umgang mit Gleichungen und Variablen betrafen. In diesem Rahmen wurden quadratische und auch bereits kubische Gleichungen behandelt, großenteils aus der Geometrie motiviert; ihre Lösungen wurden als Schnitte von Kreisen und Parabeln dargestellt (Omar Khayyam). Der erste bedeutsame Beitrag der europäischen Mathematik zur Algebra war im 16. Jahrhundert die Entwicklung von Lösungsformeln für Gleichungen dritten und vierten Grades, an der mehrere Mathematiker in Oberitalien beteiligt waren. Diese spannende Geschichte von Konkurrenz, Freundschaft und Verrat fand 1545 in dem Buch ”Ars Magna“ von Gerolamo Cardano ihren Höhepunkt.
Jost-Hinrich Eschenburg
6. Bombelli: Die Zahl, die es nicht gibt (1572)
Zusammenfassung
In Cardanos Lösungsformel für kubische Gleichungen wird eine Kubikwurzel aus einem Ausdruck gezogen, der selbst eine Quadratwurzel enthält. Manchmal ist der Radikand der Quadratwurzel negativ, und obwohl die kubische Gleichung offensichtlich Lösungen besitzt, scheint Cardanos Formel zu versagen, denn keine bekannte Zahl hat ein negatives Quadrat. Es war kein Mathematiker, sondern ein Wasserbau-Ingenieur aus Bologna, Rafael Bombelli, der um 1570 den Mut und das Gespür aufbrachte, mit Cardanos Formel dennoch zu rechnen und dabei vorübergehend Quadratwurzeln negativer Zahlen in Kauf zu nehmen, und er kam damit zu nachprüfbar richtigen Ergebnissen. Dazu musste er zunächst lernen, mit solchen ”unmöglichen Zahlen“ korrekt zu rechnen. Was zunächst nur wie ein Rechentrick aussah, entpuppte sich später als eine der bahnbrechendsten Entdeckungen der Mathematikgeschichte, die Entdeckung der komplexen Zahlen, die unseren Zahlbegriff abermals revolutionierte.
Jost-Hinrich Eschenburg
7. Pascal: Gott würfelt nicht, aber der Mensch (1654)
Zusammenfassung
Blaise Pascal war ein Universalgenie. Er hat sich in seinem Leben mit Philosophie und Theologie beschäftigt, aber auch mit Projektiver Geometrie, Wahrscheinlichkeitstheorie, dem Bau von Rechenmaschinen und mit dem Luftdruck. Am bekanntesten sind vielleicht seine Arbeiten zur Grundlegung der Wahrscheinlichkeitstheorie, die sogar seine theologischen Überlegungen beeinflusst haben. Anlass bot eine Frage, die eigentlich nur Glücksspieler interessiert: Was ist mein Spiel wert, wenn es vorzeitig abgebrochen werden muss? Kann man aus dem bisherigen Spielverlauf entnehmen, welcher Anteil vom Gesamteinsatz mir dann zusteht? Pascal gelingt es, diese Frage exakt zu beantworten. Die Probleme, die er dazu lösen muss (etwa, wie viele Sequenzen der Länge n es gibt, die nur aus Nullen und Einsen bestehen und genau k-mal die Eins enthalten) sind sehr grundlegend und lassen sich auch auf andere mathematische Probleme anwenden, zum Beispiel die Berechnung von (a+b)n aus den Potenzen von a und b (binomische Formel).
Jost-Hinrich Eschenburg
8. Gauß: Alle Gleichungen haben eine Lösung (1799)
Zusammenfassung
Das Kapitel dreht sich um ein erstaunliches Resultat, das die Bedeutung der von Bombelli entdeckten komplexen Zahlen unterstreicht: Man kann nicht nur Quadratwurzeln negativer Zahlen ziehen, also die Gleichung x2 = −1 lösen, sondern überhaupt jede Gleichung, die Potenzen der gesuchten Unbekannten enthält. Bis zu dieser Erkenntnis war es ein weiter Weg. Zunächst konnte man in den komplexen Zahlen nicht einmal Wurzeln ziehen, d.h. die Gleichung xn = a lösen. Dazu musste erst die bei wirtschaftsmathematischen Ü berlegungen (Zinseszins) gefundene und von Leonhard Euler untersuchte Exponentialfunktion, deren Eigenschaften auf Pascals binomischer Formel beruhte, auf komplexe Zahlen erweitert werden. Danach konnte man andere Gleichungen vom Grad n als Variationen der Gleichung xn = a auffassen, daher sollten auch sie eine Lösung besitzen. Der junge Carl Friedrich Gauß setzte sich in seiner Doktorarbeit (1799) mit den lückenhaften Versuchen seiner Vorgänger auseinander, dies wirklich zu beweisen, und legte seine eigene Version vor, die darauf beruhte, dass gewisse Linien in der komplexen Ebene aus kombinatorischen Gründen einen Schnitt haben müssen.
Jost-Hinrich Eschenburg
9. Galois: Welche Gleichungen sind lösbar? (29.5.1832)
Zusammenfassung
Dass jede Gleichung eine Lösung hat, sagt noch nichts darüber, ob man diese durch Rechnung (Grundrechenarten und Wurzelziehen) auch finden kann. Die Frage, für welche Gleichungen dies gelingt und für welche nicht, hat Évariste Galois beantwortet. Obwohl er damit das bis dahin wichtigste Problem der Algebra gelöst hat, blieb ihm die Anerkennung zeitlebens versagt und er starb mit 20 Jahren unter tragischen Umständen durch ein Duell. Am Vorabend dieses Ereignisses fasste er in einem Brief an seinen Freund seine wichtigsten mathematischen Leistungen, darunter seine Arbeiten zur Auflösbarkeit von Gleichungen, in großer Klarheit zusammen. Wir nehmen diesen Brief als Vorlage, um seine Gedanken nachzuzeichnen. Er ordnet einer Gleichung ein sehr viel einfacheres Objekt zu, eine endliche Gruppe, und daran kann er die Frage der Auflösbarkeit entscheiden. Der Gruppenbegriff, der seitdem von zentraler Bedeutung für die Mathematik ist, wird bei dieser Gelegenheit geprägt. Andere damit zusammenhängende Fragen, z.B. geometrische Konstruktionsprobleme (17-Eck und Winkel-Drittelung) werden in den Übungen behandelt.
Jost-Hinrich Eschenburg
10. Graves: Die Grenze des Zahlenreichs (26.12.1843)
Zusammenfassung
Komplexe Zahlen lassen sich als Paare reeller Zahlen und damit als Koordinatenpaare von Punkten der Ebene deuten. Paare reeller Zahlen kann man also multiplizieren und dividieren. Der irische Mathematiker W.R. Hamilton fragte sich, ob Gleiches auch mit Tripeln statt Paaren, also mit den Koordinatentripeln der Punkte des Raumes möglich ist. Schließlich erkannte er, dass man dazu eine weitere Dimension brauchte und fand die Quaternionen (1843). Sein Freund John Graves, dem er davon erzählt hatte, ging noch weiter und konstruierte noch im gleichen Jahr die Oktaven, Oktetts reeller Zahlen, die ebenfalls eine Multiplikation und Division zuließen. Damit ist aber die absolute Grenze erreicht, wie wir sehen werden; das hat Adolf Hurwitz 1898 gezeigt.
Jost-Hinrich Eschenburg
11. Riemann: Die Geometrie des Raumes (10.6.1854)
Zusammenfassung
Bernhard Riemann hat in seinem Habilitationsvortrag vom 10.6.1854 die Geometrie neu begründet. Bis dahin waren geometrische Begriffe, z.B. Entfernungen, mit dem Raum fest verbunden. Riemann entwarf eine neue Geometrie, die die Wirklichkeit besser abbildet: Entfernungen werden durch vielfaches Aneinanderlegen von Maßstäben gemessen, die an jeder Stelle vorhanden sein müssen. Wird die Länge der Maßstäbe irgendwo verändert, bekommt die Entfernung einen anderen Wert. Riemann lässt beliebige Maßstäbe zu unter der Bedingung, dass im Kleinen annähernd der Lehrsatz des Pythagoras gilt, also die euklidische Geometrie. Die so definierte ”Riemannsche“ Geometrie verhält sich zur euklidischen wie die Geometrie einer krummen Fläche zu der der Ebene: Lokal nähert sie sich der euklidischen an, aber im Großen kann sie unzählige verschiedene Möglichkeiten realisieren. Wie bei Flächen unterscheiden sich euklidische und Riemannsche Geometrie lokal durch die ”Krümmung“; dieser von Riemann definierte Begriff stimmt für Flächen mit der anschaulichen Krümmung überein.
Jost-Hinrich Eschenburg
12. Klein: Ikosaeder und quintische Gleichung (1884)
Zusammenfassung
Wir hatten in Kapitel 9 gesehen, dass die allgemeine Gleichung 5. Grades keine Lösungsformel besitzt, die nur die Grundrechenarten und das Wurzelziehen beliebigen Grades benutzt. Und doch gibt es eine Lösungsformel; sie verwendet eben noch eine weitere Rechenart. Felix Klein hat 1884 den geometrischen Grund für diese merkwürdige Formel beschrieben, die nur für quintische Gleichungen gilt: Er hat eine enge Verbindung dieser Gleichung zur Geometrie des Ikosaeders aufgedeckt. Ein Indiz dafür ist, dass die Drehgruppe des Ikosaeders isomorph ist zur Galoisgruppe der quintischen Gleichung, ähnlich wie die Drehgruppe des Würfels isomorph zur Galoisgruppe der quartischen Gleichung ist (Übung 9.1).
Jost-Hinrich Eschenburg
13. Einstein: Philosophisches Rätsel gelöst (25.11.1915)
Zusammenfassung
Sind Ruhe und Bewegung absolute Größen oder sind sie lediglich vom gewählten Bezugssystem abhängig, also relativ? Diese alte philosophische Frage, die auch im Streit um die geozentrische oder heliozentrische Beschreibung des Planetensystems eine Rolle spielte, wurde von Albert Einstein 1915 durch die Allgemeine Relativitätstheorie (ART) beantwortet. Diese ist eine Synthese seiner Speziellen Relativitätstheorie (SRT) mit der klassischen Newtonschen Gravitationslehre. In der SRT ist die Lichtgeschwindigkeit anstelle der Zeit eine absolute Größe, unabhängig vom Bezugssystem, was durch eine besondere Geometrie im vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuum ( ”Raumzeit“) beschrieben wird. Isaac Newton erkannte, dass sich frei fallende Massen durch die Raumzeit auf Bahnen bewegen, die von der Größe der Masse unabhängig sind. Diese Bahnen werden in der ART zu Geodäten einer Riemannschen Metrik auf der Raumzeit, die lokal aber nicht (wie bei Riemann) die euklidische Geometrie, sondern die der SRT approximiert. Wie Newtons Gravitationsfeld durch große Massen erzeugt wird, ist auch die Metrik der ART bestimmt von der Verteilung vonMasse und Energie, dem ”Massetensor“, denn dieser ist laut ART dem ”Einstein-Tensor“ gleich, einer Kombination von Krümmungen der Metrik.
Jost-Hinrich Eschenburg
14. Gödel: Ist die Mathematik axiomatisierbar? (1931)
Zusammenfassung
Gibt es eine endliche Menge von Grundsätzen oder Axiomen mit der Eigenschaft, dass alle wahren Sätze der Mathematik nach den Regeln der Logik daraus gefolgert werden können? Im Unterricht an den Hochschulen scheint es fast so: Die reellen Zahlen zum Beispiel werden durch Axiome definiert, die die Rechenregeln, den Umgang mit ”<“ und ”>“ sowie die Vollständigkeit nach außen (kein Ende) und innen (keine Lücken) beschreiben. Die Sätze der Analysis werden auf diese Axiome zurückgeführt. Und doch hat Kurt Gödel 1931 bewiesen, dass kein Axiomensystem die ganze Mathematik oder auch nur die Theorie der natürlichen Zahlen 1, 2, 3, ... vollständig beschreiben kann: Wenn es widerspruchsfrei ist, dann gibt es wahre Sätze, die daraus nicht ableitbar sind. Die Widerspruchsfreiheit andererseits kann nicht aus den Axiomen selbst abgeleitet werden.
Jost-Hinrich Eschenburg
15. Bott: Periodizität der Dimensionszahl (1959)
Zusammenfassung
Die euklidische Geometrie kann über die anschaulichen drei Dimensionen hinaus fortgesetzt werden auf Räume beliebig großer Dimensionszahl. Einer der tiefliegenden Sätze zu dieser hochdimensionalen Geometrie ist der Bottsche Periodizitätssatz (1959). Er beschreibt die ”Löcher“ in der Gruppe der Drehungen des hochdimensionalen Raumes. Ein k-dimensionales Loch in einem Raum X wird beschrieben durch eine stetige Abbildung (bis auf Deformation) vom Rand der k-dimensionalen Kugel (der (k−1)-dimensionalen Sphäre) nach X, die nicht auf das Innere der Kugel stetig fortsetzbar ist. Trennt man einen Würfel in zwei Teile oder durchbohrt ihn oder lässt eine kugelförmige Blase in seinem Inneren entstehen, so hat man Löcher der Dimension 1, 2, 3. Der Satz von Bott besagt, dass die Dimensionszahlen der Löcher in der Gruppe der hochdimensionalen Drehungen periodisch mit Periode 8 auftreten: Zu jedem Loch mit Dimension k gehört auch eins mit der Dimension k+8, k+16 usw. Die Periode 8 ist nicht zufällig die Dimension der von John Graves entdeckten Oktaven (Kapitel 10).
Jost-Hinrich Eschenburg
16. Klingenberg: Krümmung und Gestalt (1961)
Zusammenfassung
Die Riemannsche Geometrie wurde zunächst mit Formeln in lokalen Koordinaten beschrieben. Für globale Aspekte, die den Bereich eines einzelnen Koordinatensystems überschritten, musste man ihre Konzepte, insbesondere den Begriff der Krümmung neu verstehen. Eine der ersten Resultate dieser neuen ”Riemannschen Geometrie im Großen“ war der Sphärensatz von Marcel Berger und Wilhelm Klingenberg (1961): Eine einfach zusammenhängende kompakte Mannigfaltigkeit mit Krümmung strikt zwischen 1/4 und 1 ist vom einfachsten topologischen Typ, dem der Sphäre. Die Ungleichung ist scharf: Wenn beide Schranken angenommen werden dürfen, gibt es Gegenbeispiele. Wir geben nicht den Originalbeweis wieder, sondern einen späteren, sehr viel anschaulicheren, der auf Michail Gromov zurückgeht und die Beziehung zwischen der Krümmung und der Konvexität der Abstandskugeln oder ihrer Komplemente ausnutzt.
Jost-Hinrich Eschenburg
17. Shechtman: Unmögliche Kristalle (8.4.1982)
Zusammenfassung
Kristalle sind periodische Anordnungen von Atomen zu einem Gitter. Viele Gitter lassen bestimmte Drehungen zu, die sie in sich überführen, doch die Drehordnungen können nur 2, 3, 4 oder 6 sein. Aber 1982 beobachtete Dan Shechtman ”unmögliche“ Kristalle mit Drehordnung 5, wofür er 2011 den Chemie-Nobelpreis erhielt. Es waren kristallartige Strukturen, die nicht-periodisch sind und dennoch lokal überall gleich aussehen, sogenannte Quasikristalle. Mathematische Modelle für solche Strukturen in Dimension 2 und 3 waren in einem anderen Zusammenhang schon ein paar Jahre zuvor von Mathematikern gefunden worden. Als erster hatte Roger Penrose einfache nicht-periodische Pflasterungen der ganzen Ebene entdeckt. Solche Muster waren von manchen für unmöglich gehalten worden, denn sie mussten ja mangels Wiederholung eine unendliche Vielfalt aufweisen. Wir zeigen, wie diese Vielfalt durch Selbstähnlichkeit tatsächlich entsteht.
Jost-Hinrich Eschenburg
18. Perelman: Die dreidimensionale Welt (17.7.2003)
Zusammenfassung
Riemann hat den Begriff ”Mannigfaltigkeit“ geprägt: Räume, deren Punkte lokal durch n reelle Zahlen (Koordinaten) beschrieben werden. Im Gegensatz zum euklidischen Raum können Mannigfaltigkeiten in sich geschlossen sein wie die Kugelfläche, die ”2-Sphäre“, und ihr 3-dimensionales Analogon (Kugelraum oder 3-Sphäre). Henri Poincaré hat 1903 vermutet, dass unter den dreidimensionalen geschlossenen Mannigfaltigkeiten die 3-Sphäre die einzige ist, auf der jede Schlinge zusammenziehbar ist. Diese Vermutung wurde 2003 von Grigori Perelman bewiesen. Allgemeiner zeigte er: Alle geschlossenen drei- dimensionalen Räume lassen sich in Bestandteile zerlegen, die (wie der Kugelraum) eine homogene Geometrie tragen können. Seine Methode war geometrisch und analytisch: Um zu einer homogenen Geometie zu gelangen, wird auf die Krümmung einer anfänglich gegebenen Riemannschen Metrik eine Art Wärmefluss angewandt, analog dem Gesetz, nach dem sich Wärme in einem Raum gleichmäßig verteilt. Anders als beim echten Wärmefluss stoppt dieser Fluss immer wieder; Teile des Raums müssen dann abgespalten und der Vorgang neu angestoßen werden.
Jost-Hinrich Eschenburg
Backmatter
Metadaten
Titel
Sternstunden der Mathematik
verfasst von
Jost-Hinrich Eschenburg
Copyright-Jahr
2017
Electronic ISBN
978-3-658-17295-4
Print ISBN
978-3-658-17294-7
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-17295-4