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Open Access 2019 | OriginalPaper | Buchkapitel

5. SWOT-Analyse der derzeitigen Agrarpolitik aus Sicht des Natur- und Umweltschutzes

verfasst von : Peter H. Feindt, Christine Krämer, Andrea Früh-Müller, Alois Heißenhuber, Claudia Pahl-Wostl, Kai P. Purnhagen, Fabian Thomas, Caroline van Bers, Volkmar Wolters

Erschienen in: Ein neuer Gesellschaftsvertrag für eine nachhaltige Landwirtschaft

Verlag: Springer Berlin Heidelberg

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Zusammenfassung

Dieses Kapitel stellt eine Analyse der Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken der gemeinsamen Agrarpolitik der EU aus Sicht des Natur- und Umweltschutzes vor. Das Ergebnis ist ambivalent: Einerseits bildet die Gemeinsame Agrarpolitik einen stabilen institutionellen Rahmen mit guter Finanzausstattung und vielen umweltpolitischen Instrumenten. Andererseits führen die Dominanz agrarpolitischer Akteure, Status-quo-Denken und geringe Beteiligungsmöglichkeiten zur systematischen Schwächung der natur- und umweltpolitischen Ansätze, zu Regelungs- und Vollzugsdefiziten, mangelnder Datenlage sowie geringer Effektivität und Effizienz. Chancen entstehen aus der Etablierung von Tierwohl, Natur-, Umwelt- und Verbraucherschutz als Legitimationsgrundlage für die Agrarzahlungen, aus europarechtlichen Anforderungen an ein hohes Schutzniveau im Binnenmarkt, aus einem erheblichen öffentlichen Mobilisierungspotenzial sowie aus technischen Entwicklungen. Finanzpolitische und internationale Verteilungskämpfe, politische Polarisierung und Radikalisierung sowie nachteilige Veränderungen der Agrarökosysteme, nicht zuletzt durch menschliche Einwirkung, sind wichtige Risiken.

5.1 Vorgehen bei der SWOT-Analyse

SWOT-Analysen sind ein etabliertes und weit verbreitetes Instrument der Strategieentwicklung. Sie ermöglichen eine systematische und verdichtete Bestandsaufnahme und Diskussion derjenigen Aspekte einer Politik, Institution oder Organisation, die besonderer Beachtung bedürfen. Stärken und Schwächen beziehen sich dabei auf interne Aspekte, Chancen und Risiken auf den Kontext der analysierten Einheit. SWOT-Analysen sollen dabei helfen, bei der Formulierung von Entwicklungsstrategien bestehende Stärken zu nutzen, Schwächen abzubauen oder zu kompensieren, Chancen zu nutzen und Risiken zu begegnen.
Im Projekt ZA-NExUS dient die SWOT-Analyse als Brücke zwischen der Bestandsaufnahme der Probleme auf Basis der bestehenden Literatur und der Entwicklung von neuen Handlungsansätzen. Zur Erstellung der SWOT-Analyse haben die Projektpartner in einem ersten Schritt auf Basis ihrer jeweiligen Literaturauswertungen die Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken der derzeitigen Agrarpolitik aus Sicht des Natur- und Umweltschutzes zusammengefasst. Auf dieser Grundlage erstellte der Projektkoordinator eine Synthese, die auf dem Projektworkshop am 12. April 2016 diskutiert und in der Folge weiterentwickelt wurde.
Generell ist anzumerken, dass einige der Aussagen in der SWOT-Analyse aus Sicht des Natur- und Umweltschutzes ambivalent sein können. So stellen beispielsweise die generell hohe Stabilität des politischen und finanziellen Rahmens sowie die hohe Legitimationswahrnehmung unter Landwirten einerseits eine Stärke der derzeitigen Agrarpolitik dar. Aus Sicht des Natur- und Umweltschutzes ist dies jedoch nur insofern positiv, wenn angenommen wird, dass die Agrarpolitik insgesamt zu einem höheren Niveau des Natur- und Umweltschutzes beiträgt. Wenn aber die genannten Stabilitätsfaktoren zur Abwehr neuer, legitimer gesellschaftlicher Anliegen oder gar zur Ignorierung neuer Herausforderungen führen, können sie auch zur Schwäche werden, vor allem, wenn sie die Lernfähigkeit der Akteure oder die Anpassungsfähigkeit des Systems vermindern.

5.2 Stärken der derzeitigen europäischen Agrarpolitik

Aus Sicht der GAP stellt die generelle Stabilität des politischen Rahmens sicherlich eine Stärke dar. Die Ziele der GAP sind in den Europäischen Verträgen verankert. Es gibt in Brüssel eine eigene Generaldirektion und in den meisten Mitgliedstaaten ein eigenes Agrarministerium.
Eine zweite wichtige Stärke ist der mittelfristig verlässliche finanzielle Rahmen. Zudem scheint bei vielen Mitgliedstaaten die Bereitschaft zu bestehen, die GAP auch über 2020 hinaus mit erheblichen Finanzmitteln auszustatten.
Drittens basiert die GAP auf einem relativ breit aufgestellten ideellen Paradigma. Die Nutzung von Ideen aus dem produktivistischen, dem neoliberalen und dem Multifunktionalitätsdiskurs erleichtert zum einen die Konsensbildung. Sie ermöglicht zum anderen aber auch einen vielfältigen und zielgruppenspezifisch differenzierten Legitimationsdiskurs durch (selektive) positive Darstellung gegenüber verschiedenen Adressatengruppen.
Viertens sind die Maßnahmen und Programme der GAP WTO-konform, das heißt, es drohen keine Handelskonflikte aufgrund der erheblichen staatlichen Zuwendungen an den Agrarsektor.
Aus Sicht der Anhänger des Status quo besteht eine Stärke der GAP darin, dass verschiedene Mechanismen ein positives, d. h. selbstverstärkendes Policy-Feedback sicherstellen. Dazu zählen die starke Unterstützung bei den Landwirtinnen und Landwirten, die institutionellen Eigeninteressen zahlreicher agrarpolitisch spezialisierter Administrationen sowie die Stabilisierung der GAP durch die verteilungsorientierten Verhandlungsmechanismen zwischen den Mitgliedstaaten auf EU-Ebene. Zu dieser Stabilisierung trägt auch die ideologische Verknüpfung mit dem breit akzeptierten „europäischen Modell der multifunktionalen und bäuerlichen Landwirtschaft“ bei. Aus Sicht der Kritiker des Status quo handelt es sich bei diesen Mechanismen jedoch um ausgeprägte Schwächen der GAP, welche eine Anpassung an neue Herausforderungen verzögern oder sogar unmöglich machen.
Aus Sicht des Natur- und Umweltschutzes stellt die Integration von Natur- und Umweltbelangen eine Stärke der GAP dar. Diese Feststellung schließt jedoch nicht aus, dass andere natur- und umweltpolitische Strategien u. U. erfolgreicher sein könnten. Die Cross-Compliance-Verpflichtungen, also die Verknüpfung der Direktzahlungen mit einem Minimum von Naturschutz- und Umweltanforderungen, bilden bei konsequenter Implementation eine flächendeckende Baseline. Es steht eine breite Instrumentenkiste von den flächendeckenden Instrumenten in der Ersten Säule bis zur Ermöglichung regional differenzierter Strategien in der Zweiten Säule zur Verfügung. Nach einzelnen Aussagen von Landwirtinnen und Landwirten tragen die umweltpolitischen Aspekte der GAP auch dazu bei, dass sie sich mehr mit Umweltfragen beschäftigen. Falls die GAP tatsächlich das Umweltbewusstsein unter Landwirtinnen und Landwirte verstärkt, wäre dies ebenfalls eine Stärke.
Dass die Erste Säule mit ihren Direktzahlungen einen Stabilisierungseffekt für die Einkommen landwirtschaftlicher Betriebe hat, ist aus Sicht des Einkommensziels der GAP sowie der betroffenen Empfänger sicherlich eine Stärke. Der Umfang dieses Effekts wird jedoch durch Überwälzungseffekte auf den Pacht- und Bodenmärkten vermindert. Angesichts der Höhe der Greening-Zahlungen besteht eine geringe „Ausstiegsgefahr“ aus dem System der Direktzahlungen und damit den Cross-Compliance-Auflagen. Über Cross-Compliance- und Greening-Auflagen sowie mögliche Kürzungen der Direktzahlungen als Sanktion bei Verstößen besteht die Möglichkeit, auf alle landwirtschaftlichen Flächen Einfluss zu nehmen – auch auf produktionsintensive Flächen, auf denen andere freiwillige Maßnahmen bei derzeitigem Kompensationsniveau kaum umgesetzt würden und welche jedoch oft unter starkem ökologischen Druck stehen. Dieser Effekt hängt ab von a) der Opt-out-Architektur des Greenings (das heißt, die landwirtschaftlichen Betriebe sind erst einmal ins Greening einbezogen), b) der verbreiteten Wahrnehmung unter Landwirten, dass man das Greening machen muss, sowie c) dem relativ hohen Zahlungsniveau.
Die Agrarumweltmaßnahmen in der Zweiten Säule enthalten eine Reihe von Maßnahmen für den Umwelt- und Naturschutz (Biodiversität, gefährdete Arten, Landschaftsheterogenität, Gewässer- und Erosionsschutz). Landwirtschaftliche Flächen auf ertragsschwachen Böden können durch Agrarumweltmaßnahmen noch in der Produktion gehalten werden (Schutz vor Brachfallen). Die AUKM leisten einen Beitrag zum Erhalt der Kulturlandschaft und von traditionellen Bewirtschaftungsweisen sowie zum Erhalt „bäuerlicher“ Strukturen (Erfahrungswissen, Agrarkultur, soziale Funktionen im ländlichen Raum). Eine prinzipielle Stärke, die aber nicht immer eingesetzt wird, ist die Möglichkeit zur leistungsorientierten Vergütung und für kollektive Maßnahmen. Dass viele „hellgrüne“ Maßnahmen den Einstieg für Landwirte in dieses Betätigungsfeld erleichtern, kann ebenfalls als Stärke angesehen werden wie die Festschreibung eines Mindestanteils von 30 % der Mittel in den ländlichen Entwicklungsprogrammen für freiwillige Maßnahmen im Bereich der Umwelt- und Klimaschutzes. Eine weitere Stärke ist auch die Einbettung in Beratungsprogramme, welche die Landwirtinnen und Landwirte bei der Umsetzung von AUKM unterstützen.

5.3 Schwächen der derzeitigen europäischen Agrarpolitik

Die Gemeinsame Agrarpolitik ist tief geprägt durch die Dominanz der Einkommenslogik für die landwirtschaftliche Bevölkerung. Das Einkommensziel ist der GAP als Kern eingeschrieben. Durch die Umwandlung der Marktkompensation in eine Flächenprämie ist der redistributive Charakter der GAP sichtbar geworden. Dies erhöht den Legitimationsbedarf. Es bestehen dringende Fragen hinsichtlich der Zielgenauigkeit der redistributiven Komponente und der ineffektiven Mittelverwendung bei den leistungsbezogenen Komponenten. In beiden Punkten besteht Evidenz für erhebliche Defizite, aus denen eine „Drohkulisse“ für die Fortsetzung der bisherigen Politik erwächst.
Die Naturschutz- und Umweltwirkungen der GAP sind nicht befriedigend. In ihrer derzeitigen Ausgestaltung ist die GAP nicht effizient im Erreichen von Naturschutz- und Umweltzielen, auch weil diese im Vergleich zu den einkommenspolitischen Zielen keine Priorität erhalten,. u. a. schreiten die Biodiversitätsverluste in der Agrarlandschaft fort. Im agrarpolitischen Diskurs werden Maßnahmen zum Erhalt der Biodiversität vorwiegend als Einschränkung bzw. Last aus Sicht der Landwirte gesehen, während positive Leistungen der Biodiversität (z. B. durch Ökosystemleistungen wie Bestäubung und natürliche Schädlingskontrolle) nur am Rande behandelt und nicht systematisch abgesichert werden. Zudem werden negative Umweltauswirkungen andernorts ausgelöst und in Kauf genommen, z. B. durch den Import von Futtermitteln aus Ländern mit niedrigeren Naturschutz-, Umwelt- und Sozialstandards.
Im Bereich der Normsetzung bestehen erhebliche Schwächen. In einigen Bereichen des Agrarumweltrechts bestehen keine Zielwerte bzw. die bestehenden Zielwerte sind unzureichend, um Verbesserungen im Natur- und Umweltschutz zu erreichen. Die ordnungsrechtlichen Mindestanforderungen sind zum Teil zu gering, um Naturressourcen und Umweltgüter überall hinreichend zu schützen.
Schwächen im Bereich der Agrarumweltpolitik sind sicherlich auch die komplexen und aufwändigen Entscheidungs- und Programmierungsstrukturen, welche diesen Politikbereich zum Monopol für ausgewiesene Spezialisten machen und jede Partizipation erschweren. Die anhaltende institutionelle Abschirmung des Kernbereichs der GAP gegen Umwelt- und Naturschutzakteure und gegen Umwelt- und Naturschutzpolitiken stellt angesichts der Dringlichkeit des Natur- und Umweltschutzes sicherlich eine weitere Schwäche der GAP dar. Der institutionell verankerte agrarpolitische Exzeptionalismus ist zudem schwer mit dem veränderten Verständnis des Binnenmarkts im Primärrecht zu vereinbaren.
Im Bereich von Implementation und Monitoring weist die derzeitige Politik für den Agrarsektor erhebliche Schwächen auf. Es bestehen signifikante Implementationsdefizite im Ordnungsrecht. Auflagen und Gesetze im Natur- und Umweltschutz werden vielerorts nicht eingehalten. Die Datenlage ist lückenhaft und viele Daten sind für ein Erfolgs-Monitoring schwer zugänglich. Die Implementationsdefizite werden durch die Komplexität der verwaltungstechnischen Arrangements verschlimmert. Die Kontroll- und Sanktionsmechanismen sind insofern mangelhaft, als hohem Kontrollaufwand in einigen Bereichen Kontrolldefizite in anderen Bereichen gegenüber stehen. Der Verwaltungsaufwand ist hoch, v. a. bei der Zweiten Säule, für Cross Compliance und Greening. Eine weitere Schwäche ist die ungleichmäßige Belastung der landwirtschaftlichen Betriebstypen durch die Auflagen, die indirekt zu einer Verstärkung des Strukturwandels beträgt.
Durch das System der Direktzahlungen sind die Kosten der GAP sichtbar geworden. Das trägt zwar zur verbesserten Transparenz der gesellschaftlichen Kosten wie der sektoralen Umverteilungspolitik bei. Durch die weitgehende Steuerfinanzierung wird die GAP in Zeiten knapper öffentlicher Haushalte aber anfälliger für finanzpolitische Verteilungskämpfe. Eine Schwäche der GAP besteht in diesem Umfeld darin, dass die GAP sich schwer tut, den gesellschaftlichen Nutzen der Agrarausgaben zu belegen.
Eine wichtige Schwäche der derzeitigen Agrarpolitik ist ihre begrenzte Lernfähigkeit und Partizipation. Die agrarpolitischen Lernprozesse sind langsam und die GAP weist eine begrenzte Anpassungsfähigkeit durch die starke Orientierung an etablierten Paradigmen auf. Eine damit zusammenhängende Schwäche ist die vorrangige Orientierung an der Erhaltung bestehender Strukturen statt an einer sozial-ökologischen Transformation der landwirtschaftlichen Systeme, um mehr Ökosystemleistungen bei zumindest gleich bleibender Produktivität zu ermöglichen. Die Bürgerbeteiligung jenseits etablierter Verbände ist gering. Die vorwiegend einzelbetrieblich ausgerichteten Maßnahmen enthalten wenige Anreize zum Handeln auf kollektiver oder landschaftlicher Ebene.
Die Erste Säule der Agrarpolitik mit den Direktzahlungen weist verschiedene Schwächen auf: eine geringe Leistungsorientierung der Zahlungen; Unklarheit der Zielsetzung (die Einkommens- und Verteilungsziele werden nicht spezifiziert); keine Berücksichtigung der Motivation von Landwirten zur Erbringung von Umweltleistungen; vielerorts erhebliche Überwälzung der Zahlungen auf Pachtpreise (je nach Pachtflächenanteil und Region); und die Einjährigkeit der Maßnahmen im Greening begrenzt die möglichen ökologischen Erfolge.
Auch die Agrarumwelt- und Klimaschutzmaßnahmen in der Zweiten Säule sind nicht ohne Schwächen: Viele Maßnahmen sind nicht auf der räumlichen Skala definiert, die für Umwelt- und Biodiversitätsziele relevant ist. Der Erfolg der Agrarumweltmaßnahmen ist oft relativ gering. Die länderspezifischen Verfahren der Programmierung in der Zweiten Säule sind komplex und die Umwelt- und Naturschutzaspekte sind oft nur einer unter vielen Gesichtspunkten. Innerhalb der Zweiten Säule besteht eine Mittelkonkurrenz der AUKM mit anderen Programmen. Es fehlt vielfach an einer sektorenübergreifenden Planung. Durch die Notwendigkeit der nationalen (und sub-nationalen) Kofinanzierung sind die Programme im Vergleich zu den zu 100 % von der EU finanzierten Direktzahlungen bei den agrarpolitischen Akteuren in den Mitgliedstaaten eher weniger beliebt. Der Erfolg der AUKM hängt ab von der Bereitschaft der Landwirte teilzunehmen – und damit von fluktuierenden Markt- und Pachtpreisen. Aufgrund ihrer Komplexität ist der Erfolg vieler AUKM zudem abhängig von unterstützender Beratung und Information. Das Policy-Design der AUKM weist insofern Schwächen auf, als nur wenige Ansätze andere als finanzielle Motivationen zur Erbringung von Umweltleistungen ansprechen. Vielerorts werden die Anreizwirkungen der AUKM zudem durch andere Anreizinstrumente wie etwa die Biogasförderung unterlaufen. Laut WTO-Recht ist es zudem nicht möglich, bei der Vergütung von AUKM eine Anreizkomponente vorzusehen (allerdings bestehen bei der Berechnung der pauschalierten Kosten Spielräume, diese Maßnahmen so zu vergüten, dass sie für Landwirtinnen und Landwirte attraktiv sind). Weitere Schwächen sind der Umstand, dass nur relativ wenige AUKM zielgerichtete „dunkelgrüne“ Maßnahmen enthalten, der generell hohe Bürokratieaufwand sowie das erhöhte Kontroll- und Anlastungsrisiko bei Teilnahme an AUKM im Vergleich zu einer Nicht-Teilnahme. Weitere Schwächen sind die oft zu geringe regionale Ausdifferenzierung, Mitnahmeeffekte und Überkompensation vor allem bei „hellgrünen“ Maßnahmen sowie die geringe Reichweite der AUKM in Gebieten mit Intensivlandwirtschaft.
Generell erscheint es als eine Schwäche der Agrarpolitik, dass sie systemischen Risiken im Vergleich zu den einkommenspolitischen Themen relativ wenig Aufmerksamkeit widmet, auch wenn es bei vielen Beteiligten durchaus ein Bewusstsein dafür gibt. Die neuen Herausforderungen (Klima, Wasser, Biodiversität) werden nur mit marginalen Mitteln angegangen und es geht dringend benötigte Zeit zur Anpassung und Umsteuerung der landwirtschaftlichen Produktionssysteme verloren. Auch könnte ein weiterer Akzeptanzverlust der Landwirtschaft in der Bevölkerung zu abrupten Änderungen der Rahmenbedingungen führen, beispielweise wenn Zoonose-Risiken aus der Intensivtierhaltung in dicht besiedelten und international stark vernetzten Regionen als nicht mehr akzeptabel angesehen werden. Beispiele für solche abrupten Änderungen aus der jüngeren Vergangenheit sind die deutsche Energiepolitik nach Fukushima oder der Zusammenbruch von Märkten und die schnelle Einführung des QS-System nach der BSE-Krise.

5.4 Chancen aus Sicht des Natur- und Umweltschutzes

Auch wenn die Ausgestaltung der GAP im Zuge der Cioloș-Reform 2013 aus Sicht des Natur- und Umweltschutzes enttäuschend war, ergibt sich aus der grundlegenden Verknüpfung der Legitimation der Direktzahlungen mit den vorgeblich besonders hohen Standards im Natur-, Umwelt- und Verbraucherschutz sowie im Tierwohl eine Chance. Denn die GAP wird sich an der Erreichung dieser Ziele messen lassen müssen. Die Zweifel an der Wirksamkeit und Sinnhaftigkeit der erheblichen öffentlichen Zahlungen an den Agrarbereich sind mittlerweile in der breiten Öffentlichkeit angekommen. Dies geht einher mit einem generellen Paradigmenwechsel hin zum Leitsatz, dass steuerfinanzierte Finanzleistungen an Gegenleistungen geknüpft sein sollten (nach dem Grundsatz „öffentliches Geld für öffentliche Güter“) sowie der Leitlinie „ergebnisorientierter Politik“.
Eine zweite Chance besteht darin, dass die einkommenspolitischen Wirkungen der Direktzahlungen zunehmend problematisiert werden. Die ungleiche Verteilung der Direktzahlungen könnte vor dem Hintergrund einer breiteren gesellschaftlichen Debatte über Ungleichverteilung zum politischen Problem werden. Die Beobachtung, dass die Direktzahlungen dazu beitragen, die Bodenmärkte für institutionelle Finanzinvestoren attraktiv zu machen, wirft Zweifel bei den Steuerzahlern auf, ob ihr Geld den richtigen Gruppen zugutekommt. Würden die Direktzahlungen politisch angreifbar, könnte sich eine Möglichkeit eröffnen, die erheblichen Mittel des Agrarbudgets in Maßnahmen umzuleiten, die der Erbringung öffentlicher Güter dienen.
Eine dritte Chance besteht darin, die anhebende Diskussion um die Wirksamkeit des Greenings in der Ersten Säule dazu zu nutzen, entweder auf eine wesentliche Anhebung der Anforderungen des Greenings zu drängen oder die zur Verfügung stehenden Mittel für gezieltere und stärker ergebnisorientierte Maßnahmen einzusetzen.
Viertens besteht ein wachsendes Verbraucherbewusstsein und in Teilsegmenten eine wachsende Zahlungsbereitschaft für besondere Leistungen im Natur-, Umwelt- und Verbraucherschutz sowie im Tierwohl. Agrarpolitische Themen führen zu einer erheblichen Mobilisierung der Öffentlichkeit (zum Beispiel Demonstrationen „Wir haben es satt“ und „Wir machen Euch satt“).
Fünftens ergeben sich aus der europarechtlichen Integration der GAP ins allgemeine Binnenmarkt- und Wettbewerbsrecht neue Ansätze, den Grundsatz eines hohen Schutzniveaus im Umwelt- und Verbraucherschutz auch in der Agrarpolitik voll zur Geltung zu bringen.
Sechstens eröffnen die rasanten technischen Entwicklungen im Bereich der Fernerkundung und des Geo-Monitoring neue Möglichkeiten des Monitorings von Landschaftsstrukturen und Landnutzung inklusive Fruchtfolgen, die mittelfristig für eine ergebnisorientierte Honorierung von Natur- und Umweltleistungen in diesem Bereich genutzt werden können.
Siebtens ermöglicht die digitale Revolution eine engere Vernetzung und Interaktion zwischen Produzenten und Verbrauchern sowie eine hohe Transparenz entlang der gesamten Wertschöpfungskette, die auch für natur- und umweltschutzrelevante Informationen genutzt werden kann.
Achtens können Prozesse einer „guten“ Globalisierung zur globalen Verbreitung hoher Naturschutz-, Umwelt-, Verbraucherschutz- und Tierwohlstandards auch jenseits der EU genutzt werden. Zum einen könnten hochwertige Exportprodukte eine Vorbildwirkung haben, wenn sie denn auf transparente Weise mit besonders hohen Standards erzeugt werden. Zum anderen kann die Nachfragemacht europäischer Verbraucherinnen und Verbraucher die Etablierung von hohen Standards auch jenseits der EU ermöglichen. Eine zentrale Rolle wird dabei transnationalen Standards wie GlobalGAP zukommen.
Schließlich zeigen Pilotprojekte und Experimente, dass neue ökosystemare und verhaltenswissenschaftliche Ansätze in erfolgreichen Handlungsstrategien zur Verbesserung des Naturschutz- und Umweltverhaltens der Landwirtinnen und Landwirte sowie für ein integriertes Landschafts- und Ressourcenmanagement genutzt werden können.

5.5 Risiken der derzeitigen Agrarpolitik aus Sicht des Natur- und Umweltschutzes

Risiken für die Ziele des Natur- und Umweltschutz im Bereich des Agrarsektors ergeben sich zum einen aus den sich verändernden Rahmenbedingungen, zum anderen aus politischen Risiken.
Das vermutlich unmittelbarste Risiko ergibt sich aus den finanziellen Rahmenbedingungen. Die strukturelle Krise der öffentlichen Haushalte in Europa könnte den Finanzbedarf der GAP delegitimieren, wenn hinreichende Gegenleistungen nicht erkennbar sind. Der finanzielle Druck würde sich bei einem Wiederaufleben der Finanzmarktkrise oder der Eurokrise verschärfen.
Die Niedrigzinspolitik trägt dazu bei, die Boden- und Pachtpreise nach oben zu treiben, was wiederum den Ertragsdruck auf die Fläche erhöhen und damit ertragsmindernde Maßnahmen zum Natur- und Umweltschutz weniger attraktiv machen könnte. Umgekehrt kann der Natur- und Umweltschutz kaum von den niedrigen Zinsen profitieren, da in diesem Bereich kreditfinanzierte Investitionen nicht von Bedeutung sind.
Das bevorstehende Ausscheiden Großbritanniens aus der EU („Brexit“), Rufe nach einer europäischen Flüchtlings- und Sicherheitspolitik sowie einer effektiven Wachstumspolitik mit der Schaffung von Arbeitsplätzen könnten zu einer Verschärfung der Verteilungskämpfe im EU-Haushalt führen. Es besteht die Gefahr, dass Themen des Natur- und Umweltschutzes angesichts der diversen Krisenszenarios an Priorität verlieren.
Veränderungen im Rechtsrahmen führen zu einem schrittweisen Verlust der Ausnahmeregelungen für den Agrarsektor durch die Integration der GAP ins Binnenmarktrecht, internationale Handelsabkommen (z. B. CETA) sowie die neuere Rechtsprechung (Whiskey-Urteil des EuGH). Dies könnte den Spielraum für sektorspezifische Strategien des Natur- und Umweltschutzes, wie beispielsweise die AUKM, vermindern.
Die digitale Revolution und die Entwicklung von Big-Data-Strategien der Gewinnung und Auswertung von personen- und betriebsbezogenen Informationen könnte nicht nur zu einer Konzentration von Informationsmacht führen, sondern auch zur Abwertung von kontextuellem und Erfahrungswissen (u. a. von Landwirtinnen und Landwirten) sowie Möglichkeiten des Missbrauchs eröffnen (Boyd und Crawford 2012; Cukier und Mayer-Schoenberger 2013).
Anthropogene Veränderungen der Agrarökosystemen stellen erhebliche Risikofaktoren dar. Dazu gehören
  • Folgen des Klimawandels, v. a. durch Veränderung der hydrologischen Kreisläufe, Witterungsextreme und Schädlingsdruck;
  • Folgen des Biodiversitätsverlusts;
  • Folgen der Bodenschäden;
  • invasive Schädlinge (häufig anthropogen, da durch Bewegungen im Waren- oder Personenverkehr eingeschleppt).
Aus Sicht des Natur- und Umweltschutzes bestehen außerdem erhebliche politische Risiken, vor allem im Hinblick auf die Weiterentwicklung der GAP. Die Agrarpolitik ist anfällig gegenüber einer kurzfristigen Mobilisierung für Einkommensinteressen der Produzenten, wie etwa in der Milch- und Schweinepreiskrise. In weiten Teilen der EU, insbesondere in Frankreich, Spanien und Teilen Osteuropas, bestehen starke Sympathien für gekoppelte Direktzahlungen und ähnliche Maßnahmen, die einen Rückfall ins produktivistische Politikparadigma bedeuten könnten, wenn sie nicht eng mit Natur- und Umweltanliegen verknüpft werden. Ein weiteres Risiko ist, dass in der agrarpolitischen Debatte zu viel Energie auf die sterile Wiederholung alter Argumentationen und Konfrontationen und zu wenig auf die Suche nach kreativen Lösungen verwendet wird. Im Kontext eines insgesamt stärker polarisierten politischen Klimas könnte es auch zu einer Radikalisierung und zu politischem Protestverhalten von Landwirtegruppen kommen, die sich existenziell bedroht sehen. Eine mögliche Zunahme von konfrontativen Aktions- und Protestformen solcher Gruppen, aber auch beispielsweise von Tierschützern, könnte die Rahmenbedingungen für einen kooperativen Politikansatz verschlechtern. Und schließlich könnte die digitale Revolution zu einer zunehmenden Orientierung der Menschen an virtuellen Realitäten mit einer einhergehenden Entfremdung von der natürlichen Umwelt führen (Zaradic und Pergams 2007).

5.6 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

5.6.1 Kernpunkte der SWOT-Analyse

Die SWOT-Analyse der derzeitigen europäischen Agrarpolitik ergibt ein ambivalentes Bild. Auf der einen Seite (Stärken) verfügt die GAP über einen stabilen politischen und institutionellen Rahmen mit bisher guter und verlässlicher Finanzausstattung sowie eine breite Instrumentenkiste, die ein erhebliches Potenzial für den Natur- und Umweltschutz hat. Auf der anderen Seite (Schwächen) wird das natur- und umweltpolitische Potenzial der GAP durch sektorspezifische Mechanismen unterlaufen. Die Dominanz agrarpolitischer Akteure bei der Ausgestaltung der GAP führt zur Priorität für die einkommenspolitischen Ziele und zur systematischen Schwächung der natur- und umweltpolitischen Ansätze. Dies drückt sich in Regelungs- und Implementationsdefiziten, mangelnder Datenlage und nahezu durchgängiger Überkompensation für Leistungen im Natur- und Umweltschutz aus. Die Verwaltungsstrukturen sind extrem komplex. Das Ergebnis sind mangelnde Effektivität und Effizienz der Politik. Zudem herrscht vielfach ein Status-quo-Denken vor, die Partizipationsmöglichkeiten sind gering und systemische Risiken und neue Herausforderungen erhalten zu wenig Aufmerksamkeit.
Vor diesem Hintergrund ergeben sich Chancen aus der Tatsache, dass der Natur-, Umwelt- und Verbraucherschutz sowie das Tierwohl als Legitimationsgrundlage für die Agrarzahlungen etabliert sind. Die öffentliche Kritik an der mangelnden Ergebnisorientierung der GAP sowie verstärkte juristische Anforderungen an ein hohes Schutzniveau im Binnenmarkt treffen auf ein erhebliches öffentliches Mobilisierungspotenzial für agrarpolitische Themen. Neue technische Entwicklungen und systemische wie verhaltenswissenschaftliche Ansätze ermöglichen die Entwicklung von neuen Policy-Designs zur systematischen und flächendeckenden Integration von Natur- und Umweltschutz in die Agrarpolitik. Zugleich besteht das Risiko, dass sich die finanzpolitischen Verteilungskämpfe verschärfen, sich das politische Klima insgesamt polarisiert und radikalisiert und vor diesem Hintergrund ein defensives Status-quo-Denken die Oberhand gewinnt. Zugleich könnte sich der rechtliche Spielraum für sektorspezifische Strategien des Natur- und Umweltschutzes verengen, während die anthropogenen Veränderungen der Agrarökosysteme die Herausforderungen für den Natur- und Umweltschutz noch verstärken. Tab. 5.1 gibt einen Überblick über die Kernpunkte der SWOT-Analyse.
Tab. 5.1
SWOT-Analyse der derzeitigen GAP aus Sicht des Natur- und Umweltschutzes – Kernpunkte
Stärken
• Stabilität des politischen und institutionellen Rahmens
• Mittelfristig verlässlicher finanzieller Rahmen
• Breit aufgestelltes ideelles Paradigma
• WTO-konform
• Integration von Natur- und Umweltbelangen mit breiter Instrumentenkiste
• Cross-Compliance- und Greening-Auflagen wirken in die Fläche
• AUKM erlauben zielgerichtete, regionale, ergebnisorientierte und kollektive Maßnahmen
• Einbettung in Beratungsprogramme
Schwächen
• Dominanz der Einkommenslogik
• Hoher Legitimationsbedarf für redistributive Politik
• Institutionelle Abschirmung des Kernbereichs der GAP gegen Umwelt- und Naturschutzakteure
• Erste Säule: geringe Leistungsorientierung, unklare Zielsetzung, Ungleichverteilung, Überwälzungseffekte
• Greening: geringe Wirksamkeit, Überkompensation
• Naturschutz- und Umweltordnungsrecht: Fehlende oder unzureichende Zielwerte und Mindestanforderungen, Implementationsdefizite, teilweise ineffiziente Kontroll- und Sanktionsmechanismen
• AUKM: komplexe und aufwändige Entscheidungs- und Programmierungsstrukturen, oft fehlende Ergebnisorientierung, meist kein sektorenübergreifender Ansatz für integriertes Landschafts- und Ressourcenmanagement, Mittelkonkurrenz in Zweiter Säule, Kontroll- und Anlastungsrisiko
• Generell: lückenhafte Datenlage, hoher Verwaltungsaufwand
• langsame Lernprozesse, geringe Partizipationsmöglichkeiten
• zu wenig Aufmerksamkeit und Mittel für systemische Risiken (u. a. Zoonosis, Antibiotika) und neue Herausforderungen (Klima, Wasser, Biodiversität)
Chancen
• Natur-, Umwelt- und Verbraucherschutz sowie Tierwohl als Legitimationsgrundlage für Agrarzahlungen
• Mehr Rufe nach „ergebnisorientierter Politik“
• Wachsende Kritik an Direktzahlungen: ungleiche Verteilung, Wirkung auf Bodenmärkte, institutionelle Finanzinvestoren – Möglichkeiten der Neustrukturierung
• Diskussion um Wirksamkeit des Greenings und damit Möglichkeit der Überarbeitung
• Wachsendes Verbraucherbewusstsein, Zahlungsbereitschaft für besondere Leistungen, Mobilisierung der Öffentlichkeit
• Europarechtliche Integration der GAP ins allgemeine Binnenmarkt- und Wettbewerbsrecht: Grundsatz eines hohen Schutzniveaus im Umwelt- und Verbraucherschutz
• Technische Entwicklungen im Bereich der Fernerkundung und des Geo-Monitoring
• Digitale Revolution: Vernetzung und Transparenz
• Globale Verbreitung hoher Naturschutz-, Umwelt-, Verbraucherschutz- und Tierwohlstandards, u. a. durch transnationale Standards
• Neue ökosystemare und verhaltenswissenschaftliche Ansätze für integriertes Landschafts- und Ressourcenmanagement
Risiken
• Krise der öffentlichen Haushalte und Verschärfung der finanzpolitischen Verteilungskämpfe (v. a. im EU-Haushalt nach dem Brexit)
• Niedrigzinspolitik: erhöhte Bodenpreise und Ertragsdruck auf die Fläche
• Veränderungen im Rechtsrahmen: Verlust des Spielraums für sektorspezifische Strategien des Natur- und Umweltschutzes
• Anthropogene Veränderungen der Agrarökosysteme: Klimawandel, Biodiversitätsverlust, Bodenschäden, invasive Schädlinge usw.
• Status-quo-Denken und politische Unterstützung für Rückfall ins produktivistische Paradigma
• Insgesamt stärker polarisiertes politisches Klima mit möglicher Radikalisierung und mehr konfrontativen Aktions- und Protestformen von allen Seiten
• Zentralisierung von Informationsmacht durch Big Data und möglicher Missbrauch

5.6.2 Fazit: Fünf Hypothesen zur Agrarpolitik

Die Schlussfolgerungen, die sich aus der SWOT-Analyse für die künftige Ausgestaltung einer Agrarpolitik ergeben, welche die Anliegen des Natur- und Umweltschutzes wirkungsvoll integriert, lassen sich zu fünf Hypothesen zusammenfassen.
Hypothese 1: Die Gemeinsame Agrarpolitik ist tief geprägt durch die Dominanz der Einkommenslogik für die landwirtschaftliche Bevölkerung. Durch die Umwandlung der Marktkompensation in eine Flächenprämie ist der redistributive Charakter der GAP sichtbar geworden. Dies erhöht den Legitimationsbedarf.
  • Die Architektur und Legitimationslogik der derzeitigen GAP wirft dringende Fragen nach der Zielgenauigkeit der redistributiven Komponente und der effektiven Mittelverwendung bei den leistungsbezogenen Komponenten auf. In beiden Punkten besteht Evidenz für erhebliche Defizite, aus denen eine „Drohkulisse“ für die Fortsetzung der bisherigen Politik erwächst.
Hypothese 2: Naturschutz- und Umweltaspekte (Cross Compliance, Greening, AUKM) erhöhen die Legitimation der GAP, indem diese nun nicht als bloße steuerfinanzierte Transferpolitik (staatliche Zahlungen ohne spezifische Gegenleistung) erscheint. Sie haben in der Architektur der GAP wie in der Mittelausstattung aber eine untergeordnete Rolle und dienen offenbar dazu, den einkommenspolitischen Kern der GAP zu legitimieren.
  • Aus Sicht des Natur- und Umweltschutzes stellt sich die Frage, inwiefern die Strategie einer Integration dieser Belange mit der Rationalität einer sektoralen Einkommenspolitik zu vereinbaren ist. Im Kern stehen sich eine redistributive Logik und eine Logik des Entgelts öffentlicher Güter gegenüber.
Hypothese 3: Die „multifunktionale“ Begründung der Agrarpolitik, dass sie der Sicherung öffentlicher Güter und vielfältiger Funktionen der Landwirtschaft dient, wird nicht hinreichend eingelöst, weil die gesetzlichen Anforderungen oft nicht hinreichend anspruchsvoll oder vage formuliert sind und weil erhebliche Implementationsdefizite bestehen.
  • Aus Sicht des Natur- und Umweltschutzes müsste die Agrarpolitik konsequent von der Aufgabe her gedacht werden, die nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen zu sichern. Das wiederum erfordert, dass die landwirtschaftlichen Produktionssysteme ökologisch, ökonomisch und sozial resistent sind.
Hypothese 4: Eine zukunftsfähige Agrarpolitik muss so instrumentiert sein, dass sie sowohl die Entscheidungen der Landbewirtschafter effektiv im Sinne des Natur- und Umweltschutzes beeinflusst als auch die Unterstützung der Landbewirtschafter und der Öffentlichkeit genießt.
  • Der erste Aspekt zielt auf die Effektivität und Effizienz der Politik ab. Wenn man wirkliche Verbesserungen im Natur- und Umweltschutz erreichen will, müssen die Entscheidungen derjenigen, die das Land bewirtschaften, beeinflusst werden. Es geht also um effektive Verhaltensänderungen. Die Politik-Instrumente müssen daher konsequent von den Adressaten her entwickelt werden. Dabei sind zum einen Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Instrumenten und Politikbereichen, zum anderen wahrscheinliche Ausweichoptionen und Nebenwirkungen zu beachten. Dies erfordert eine verhaltenswissenschaftlich fundierte Adressatenorientierung.
  • Der zweite Aspekt betrifft die Dauerhaftigkeit der Politik. Dazu muss ein „Policy-Feedback“ erreicht werden in dem Sinne, dass die Politik hinreichend Unterstützung erfährt und nicht bei nächster Gelegenheit wieder revidiert oder abgeschafft wird. Die Politik muss also so angelegt werden, dass sie eine breite politische Unterstützerkoalition schaffen und zusammenhalten kann.
  • Die derzeitige Agrarpolitik erfüllt nur einen Teil der zweiten Bedingung. Viele Vorschläge aus dem Bereich des Natur- und Umweltschutzes erfüllen nur die erste und teilweise die zweite Bedingung.
Hypothese 5: Bei den bisher erprobten agrarpolitischen Instrumenten besteht ein Trade-Off zwischen Zielgenauigkeit und Transaktionskosten; daher besteht ein Bedarf, neue Policy-Instrumente zu entwickeln.
  • Zielgenaue Maßnahmen im Bereich der Immissionen und Emissionen würden im Prinzip ein komplexes Monitoring diverser landwirtschaftlicher Praktiken wie Düngung oder Pestizideinsatz erfordern.
  • Zielgenaue Maßnahmen im Bereich der Landnutzung erfordern im Prinzip ein Monitoring der tatsächlichen Flächennutzung.
  • Die relative Attraktivität von freiwilligen Maßnahmen, bei denen die Landwirte für bestimmte Praktiken oder ergebnisabhängig honoriert werden, hängt von den Opportunitätskosten, im Wesentlichen also von den Marktpreisen, sowie den Transaktionskosten ab.
  • Neue Instrumente müssen auf eine Verminderung der Transaktionskosten, Zuverlässigkeit des Monitorings und effektive Beeinflussung des Verhaltens der Landwirte abstellen. Zwischen diesen Zielen bestehen Trade-Offs.
Die fünf Hypothesen dienen als Leitorientierung für die Entwicklung eines zukunftsfähigen agrarpolitischen Leitbilds sowie von Handlungsansätzen und Optionen für eine Agrarpolitik, welche die Anliegen des Natur- und Umweltschutzes wirkungsvoll integriert.
Um die in der SWOT-Analyse identifizierten Chancen zu nutzen, erscheinen dabei die folgenden generellen Ansätze geeignet:
  • Nutzung des erheblichen Finanzvolumens für zielgerichtete und erforderliche Maßnahmen;
  • Einbindung in die mittelfristige Finanzplanung für eine glaubwürdige mittelfristige Umsteuerung nutzen (z. B. gleitender Ausstieg aus den Direktzahlungen);
  • Nutzung neuer digitaler Technologien für Monitoring und Verwaltung, Vernetzung und Transparenz;
  • Nutzung vorhandener Implementationsstrukturen für Greening- und Zweite-Säule-Programme können für Natur- und Umweltschutzmaßnahmen;
  • Ermöglichung von Märkten für Produkte mit besonderen Prozessqualitäten und Aktivierung privater Zahlungsbereitschaft (nach dem Vorbild von Bio, geografische Herkunftsbezeichnung, traditionelles Lebensmittel etc.);
  • Stärkung des Verbraucherbewusstseins (regionale, umweltfreundliche, naturschützende, ethische Lebensmittel und andere Produkte) und entsprechender Zahlungsbereitschaft;
  • Weiterentwicklung des Multifunktionalitätsanspruchs ernst nehmen, z. B. in Richtung In-Wert-Setzung von Ökosystemleistungen;
  • Formulierung eines Anspruchs Europas auf eine internationale Führungsrolle bei nachhaltiger Agrarpolitik, um transnationale Standardsysteme zu prägen.
Um den Risiken einer politischen Polarisierung und einer politischen Dynamik der Angst im Zeichen finanzpolitischer Verteilungskämpfe entgegenzuwirken, erscheint es geboten, die Agrarpolitik transparenter, ergebnisorientierter und partizipationsorientierter zu gestalten. Zugleich müssen die Globalisierungsprozesse aktiv im Sinne des Natur-, Umwelt und Verbraucherschutzes gestaltet werden, um auch die Akzeptanz der Bevölkerung für offene Märkte zu erhalten.
Insgesamt diente die SWOT-Analyse der strategisch orientierten Verdichtung der Bestandsaufnahme auf Basis der Literaturanalyse in den Kap. 3 und 4. Im Folgenden werden wir zunächst ein Leitbild für eine zukunftsorientierte Agrarpolitik formulieren (Kap. 6). Anschließend diskutieren wir alternative Handlungsoptionen zur Weiterentwicklung der verschiedenen Elemente und Instrumente der Agrarpolitik (Kap. 7), ehe wir diese zu drei strategischen Optionen für die künftige Agrarpolitik verdichten (Kap. 8).
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Literatur
Zurück zum Zitat Boyd, D. und Crawford, K. (2012): Critical questions for big data: Provocations for a cultural, technological, and scholarly phenomenon. Information, communication & society, 15, S. 662–679. Boyd, D. und Crawford, K. (2012): Critical questions for big data: Provocations for a cultural, technological, and scholarly phenomenon. Information, communication & society, 15, S. 662–679.
Zurück zum Zitat Cukier, K. und Mayer-Schoenberger, V. (2013): The rise of Big Data: How it’s changing the way we think about the world. Foreign Affairs, 92, S. 28–40. Cukier, K. und Mayer-Schoenberger, V. (2013): The rise of Big Data: How it’s changing the way we think about the world. Foreign Affairs, 92, S. 28–40.
Zurück zum Zitat Zaradic, P.A. und Pergams, O.R. (2007): Videophilia: Implications for childhood development and conservation. Journal of Developmental Processes, 2, S. 130–144. Zaradic, P.A. und Pergams, O.R. (2007): Videophilia: Implications for childhood development and conservation. Journal of Developmental Processes, 2, S. 130–144.
Metadaten
Titel
SWOT-Analyse der derzeitigen Agrarpolitik aus Sicht des Natur- und Umweltschutzes
verfasst von
Peter H. Feindt
Christine Krämer
Andrea Früh-Müller
Alois Heißenhuber
Claudia Pahl-Wostl
Kai P. Purnhagen
Fabian Thomas
Caroline van Bers
Volkmar Wolters
Copyright-Jahr
2019
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-662-58656-3_5