1998 | OriginalPaper | Buchkapitel
Theorieüberlegungen
verfasst von : Thomas Brüsemeister
Erschienen in: Lernen durch Leiden?
Verlag: Deutscher Universitätsverlag
Enthalten in: Professional Book Archive
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Der Begriff „moralische Ökonomie“ wurde von dem Sozialhistoriker Edward P. Thompson geprägt. In seiner Deutung des Protestverhaltens der Unterschichten im England des 18. Jahrhunderts wendet er sich gegen die „eindimensionale uns spasmodische Deutung der Lebensmittelunruhen“1; Unruhen, die England um 1800 im Zusammenhang mit der Erhöhung der Brotpreise erschütterten. Die spasmodische Deutung beinhaltet, die Lebensmittelunruhen auf einen „Reflex“ des Hungers zurückzuführen.2 Thompson versucht dagegen zu zeigen, daß die Protestierenden auch eine Form des guten Lebens zu verteidigen suchen, die sich an eingespielte kulturelle Regeln hält.3 Thompson schreibt: „Natürlich ist es richtig, daß Unruhen durch starke Preissteigerungen, obskure Praktiken der Händler oder durch Hunger ausgelöst wurden. Doch diese Proteste bewegten sich im Rahmen eines volkstümlichen Konsenses darüber, was auf dem Markt, in der Mühle, in der Backstube usf. legitim und was illegitim sei. Dieser Konsens wiederum beruhte auf einer in sich geschlossenen, traditionsbestimmten Auffassung von sozialen Normen und Verpflichtungen und von den angemessenen wirtschaftlichen Funktionen mehrerer Glieder innerhalb des Gemeinwesens. Zusammengenommen bilden sie das, was man die ‚sittliche Ökonomie‘ der Armen, die ‚moral economy of the poor‘, nennen könnte. Eine gröbliche Verletzung dieser moralischen Grundannahmen war ebenso häufig wie tatsächliche Not der Anlaß zu direkter Aktion“.4 Thompson spricht in diesem Zusammenhang auch von den „leidenschaftlich vertretenen Vorstellungen vom Gemeinwohl“.5 Der zentrale Begriff in seiner Kennzeichnung ist der der „Verpflichtung“.